vonImma Luise Harms 31.08.2012

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

„Brennesselbusch, du kleine, was stehst du da alleine?“ sagt Jungfer Marleen, die vertauschte Märchenbraut, auf dem Weg zur Kirche. Alleine? Da irrt sie sich!
Brennesselverbände sind straff organisierte Geheimbünde. Sie graben ihre Tunnel knapp unter der Grasnarbe, verzweigen sich auf der Suche nach gutem Nährboden in alle Richtungen und verwurzeln sich da. Und erst wenn der Standort gesichert ist, wächst das niedliche kleine Pflänzchen zur gefährlichen Kampfnessel heran.
Ich habe mir aus einem Grabezinken eine scharfe kleine Handklaue gebaut – Thomas sagt: Sauzahn. Der Zinken ist mit der Schleifmaschine angespitzt, auf einen massiven Handgriff aufgebaut und doppelt verschraubt. Diesen Sauzahn trage ich zusammen mit Gummihandschuhen und einer Flasche Bier in einem Stoffbeutel zur Schilfkläranlage.
Der Stoffbeutel mit dem Bier hängt am Lattenzaun. Der Sauzahn liegt in meiner Hand. Er ist mein Spürhund. Die Spitze dringt unter die Erdoberfläche und durchkämmt den weichen Boden auf der Suche nach Widerstand. Ein sehnig-zähes Zurückhalten zeigt an, dass hier was wächst, was nicht wachsen soll. Eine Brennesselwurzel. Nochmal reinhacken, nach oben ziehen, nicht zu heftig – die Wurzel soll nicht reißen, sondern mich zu ihrem Anhang führen. Der Sauzahn schnüffelt nach rechts und nach links, erspürt festere Stellen, wo die Rhizomwurzel ihre Haltepunkte hat. Mit der linken Hand – im Gummihandschuh – fasse ich nach, lockere den Wurzelstock, an dem eine weitere zähe Verbindungsader sichtbar wird.
Jetzt kann ich es wagen. Ich lege den Sauzahn an die Seite und fasse den Wurzelstrang mit beiden Händen. Vorsichtig, aber entschieden und dann immer kräftiger zerre ich an der Wurzel. Sie spannt sich; ich spanne sie wie die Sehne eines großen unterirdischen Bogens. Ich stämme mich gegen den Strang, ich reiße, stoße brutale Laute aus. Ich will sie jetzt besiegen, die Brennessel-Wurzel. Und sie gibt nach – und entblößt dabei noch mehrere Seitenstränge des Clans. Der Erdboden bricht in langen Rissen auf. Die Wege gehen durch ein Kiesbett bis in den morastigen Grund des Schilfbeckens.
Hab ich euch! Ich hebe die zwei Meter lange Wurzel hoch, ein Schlangengebilde, das ich mit sadistischer Genugtuung betrachte. – Was tue ich hier? Was sind das für Gefühle? Wieso empfinde ich solche Befriedigung beim Ausreißen der Brennessel?
“Brennettelbusch, Brennettelbusch so klene,
Wat steist du hier allene?
Ik hef de Tyt geweten,
Da hef ik dy ungesaden, ungebraden eten.”
So geht er nämlich weiter, der Spruch von Jungfer Marleen. Zehn Jahre war sie eingemauert, bis sie sich durch die Wand ihres Verließes kratzte. Im Schutt der verfallenen Welt draußen fand sie nur Brennesseln. Und von denen lebte sie, bis sie in die Menschenwelt zurückfand.
Warum bekämpfe ich dieses genügsame, nahrhafte und heilkräftige Kraut mit solcher Wut?
Der Gutshof hat eine eigene Kläranlage. Das schmutzige Wasser fließt in zwei Becken, die mit Folie ausgeschlagen, mit Sand gefüllt und mit Schilf bepflanzt sind. Das Schilf bringt Sauerstoff in den Boden. Den brauchen die Bakterien, die im Boden leben, um die Restbestände von Seife, Urin, Waschpulver und was da sonst noch ankommt, verdauen zu können. Das gereinigte Wasser fließt durch einen Tunnel ab, unterm Gebüsch, unter der Straße hindurch bis auf K.’s Acker, wo es schließlich im Untergrund versickern darf.
Schilf und Bakterien schaffen sich im Laufe der Jahre ihren eigenen Humus. Es geht ihnen gut. Das Schilf wächst und verbreitet sich. Dicke Wurzeln gehen in alle Richtungen. Im Frühjahr kommen neue Triebe ans Licht, die am Tag mehrere Zentimeter wachsen. Im Untergrund nagen die Bakterien und bereiten dem Schilf neue Nahrung. Aber jede Idylle schafft ein Feld von Begehren an seinen Rändern und schon ist der Friede vorbei. Es gibt immer andere, die was abhaben wollen.
Die Brennessel ist auf unterirdischer Wanderschaft. Der Sauerstoff, den die Bakterien brauchen, und der Stickstoff, von dem die Schilfpflanzen leben, ist genau das, was die Brennessel sucht. Also bewegt sie sich unauffällig durch Erde, Kies und Sand bis in die Siedlungsgebiete des Schilfs. Die nachwachsenden Würzelchen winden sich um die fetten Schilftriebe und verbrauchen deren Nahrungsgrundlage.
Die Brennessel ist ein Heilkraut. Mit vielen Vitaminen (doppelt so viele wie die Zitrone), mit Salzen und Säuren, Serotonin, Histamin, usw. ist sie gesund für Haut, Haar und Harn. Sie reinigt das Blut und erleichtert das Urinieren. Die Brennessel ist auch die Lieblingsnahrung von Schmetterlingslarven, die sich geschickt um die Brennhaare herumfuttern. Einige Schmetterlinge wie der Admiral und das Tagpfauenauge fressen gar nichts anderes. Die Brennessel schmeckt auch dem Menschen gut, in der Not auch „ungesaden und ungebraden“, in besseren Zeiten als Suppe oder als Spinat. Man kann aus ihren Schäften Fasern gewinnen und Stoffe weben, das „Leinen der armen Leute“.
Die Brennessel ist eine gute Pflanze. Sie wird gebraucht und soll wachsen. Aber nicht hier. Hier wird gearbeitet. Schilf und Bakterien sind nicht zum Vergnügen hier, sondern haben die Aufgabe, das Wasser zu reinigen. Einmal im Jahr kommt der Sachverständige von der Wasserbehörde. Dann wird der Betondeckel geöffnet, der sich im Gebüschstreifen zwischen Schilfbecken und Straße verbirgt. Der Sachverständige steigt hinab und entnimmt eine Wasserprobe. Die Beprobung ist streng, die Grenzwerte sind genau, der Sachverständige ist unbestechlich.
Die Fremdeinträge im Klärbecken müssen weg! Und zwar so früh wie möglich. Wenn zwischen dem alten abgetrockneten Schilf die ersten Brennesseln zu wachsen beginnen, ist es eigentlich schon zu spät. Denn beim Versuch, sie auszureißen, muss man in den Morast waten und zertritt dabei die frischen Schilftriebe.
Unkraut jäten ist unbeliebte Arbeit, und unbeliebte Arbeit wird bezahlt; sonst macht sie keiner. Mein Portemonnaie ist leer. Thomas ist der Kläranlagenwart. Was soll ich machen, ich übernehme den Auftrag. Er zeigt, wie man die alten Brennesselstrünke von den abgebrochenen Schilfhalmen unterscheiden kann und wie die frischen Würzelchen aussehen, dunkelrot nämlich. Man soll vorsichtig zwischen die Stoppeln des abgemähten Schilfs treten, wegen der neuen Triebe. Wie soll man das denn machen? Mein Gummistiefel hat nun mal eine Grundfläche von 150 Quadratzentimetern. Ich stehe also wie auf Eiern und wage nicht, einen Fuß zu versetzen, denn da müsste ich vorher den Boden untersuchen, ob vielleicht schon Schilfkeime hochkommen. Also balanciere ich, stütze mich zur Not auf den Sauzahn, der dann natürlich nicht mehr hacken kann. Dann habe ich einen frischen kleinen Brennesseltrieb rausgezupft, möchte ihn weiter verfolgen und rauswinden, verliere dabei aber das Gleichgewicht und stapfe doch unkontrolliert ins Schilfbeet. Natürlich ist dabei mindestens ein Schilftrieb abgebrochen. Ich entschuldige mich gedanklich bei allen Geschädigten und suche fluchend, meinen Standort neu zu sichern. Das macht keine Freude.
Ich soll hier zwar Brennesseln jäten, aber ich bin keine Erfüllungsgehilfin, die nur tut, was man ihr sagt. Einen übernommenen Auftrag analysiere ich und strukturiere ihn neu, so dass ich ihn einfacher, effektiver und für mich angenehmer erfüllen kann. Meiner inneren Struktur nach bin ich nicht Söldnerin sondern Strategin. Das ist ja das Erschreckende.
Woher also kommen die Brennesseln eigentlich? Die zarten Triebe verzweigen sich im Morast des Beckens, die kräftigen Wurzeln laufen quer unter dem schmalen Damm entlang, der die beiden Becken umgibt, und führen ins Gebüsch. Die Sträucher haben in den zehn Jahren, die sie hier stehen, ein dicht verfilztes Dickicht gebildet. Was darunter ist, interessiert keinen. Sollte es aber, denn darunter ist das Hinterland der Brennesselstämme. „Klein-Pakistan“, denke ich böse, „hier haben wir sie, die Brennessel-Paschtunen. Und von hier werden sie losgeschickt, Taliban-mäßig.“ Da komm ich nicht ran. Das wäre auch aussichtslos.
Zwischen Gebüsch und Damm ist ein Lattenzaun, der, an dem meine Stofftasche mit dem Pausenbier hängt. Das mache ich jetzt auf, setze mich an einen Zaunpfahl und denke nach. Der März ist die Zeit des ersten Austriebs. Man sieht, was wächst, aber es ist noch nicht so weit gewachsen, dass die Blätter den Blick verhüllen. Unter den blattlosen Büschen steht eine kräftige junge Generation von Brennesseln bereit. In ihrer Mitte ist ein kleiner viereckiger, in gelber Signalfarbe angesprühter Holzpflock. Es sieht aus, als sammelten sich die jungen Krieger um ihr leuchtendes Heiligtum. Und es ist, als hielten sie murmelnd Kriegsrat.
Aber nein, die Stimmen kommen von der Straße. (wird fortgesetzt)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2012/08/31/326/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert