vonDetlef Berentzen 03.07.2019

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Berlin ist immer unterwegs. Nichts bleibt, so scheint es. Und doch bleiben Orte. Mir bleiben Orte. Orte, die mir Halt geben. Inmitten dieser chaotischen Wildnis, die Berlin heißt, die Du mal hasst und mal liebst, die Du fliehst und suchst, gibt es Spuren, Gerüche, Farben, Steine, Gesichter, die Geschichten erzählen. Meine.

 
Wir kennen uns schon lange. Jahrzehntelang. An den Anfang erinnere ich mich genau. Eines Tages saß ich, mit einem grünen Parka verkleidet, kurz vor Halensee in einem Doppelstockbus der Linie 19, oben natürlich, rauchte ein paar Krümel Schwarzen Krausen, und wußte nicht einmal was eine Faßbrause ist. Da kannten wir uns überhaupt noch nicht. Sie aber gab sich eingemauert, zerschossen und ziemlich aufmüpfig. Am Café Kranzler hievten außerparlamentarische Studenten berittene Polizisten aus dem Sattel und in den Charlottenburger Teestuben waren die Freaks bis unter die Hirnrinde zugekifft und lasen mit glasigen Augen bunte Micky-Maushefte.

Sie hatte viel gesehen, gelitten, das spürte ich genau. Ihre Nerven zuckten mitunter, vibrierten. Manchmal schien sie mir müde und erschöpft. Hatte den Blues. Dann erzählte sie mir mit dünnen Lippen von Wunden, die nicht verheilen, von ihrer Zerrissenheit, die uniformierte Graugesichter mit Maschinengegenwehr verteidigten. Albträumte von Kriegen, die sie nicht vergessen konnte und ich auch nicht. Also schrieen wir am nächsten Tag gemeinsam: Nie wieder!, tobten angeekelt durch die Straßen und sollten doch Ins Arbeitslager! – das riefen die triefäugigen Opferpriester vor den Eckkneipen, schwenkten ihre Biergläser und waren mir unheimlich.

 

 

Scheiß auf die Eckensteher!, höhnte sie und stellte mich den anderen vor, die auch ins Lager sollten. Mit denen traf sie sich abends in der Yorkstraße, an den blanken Holztischen vom Kreuzberger Delirium, die vertilgten Bratkartoffeln, Spiegeleier und roten Persiko, trugen Lederjacken und Cordjacketts und waren dagegen. Ich war auch dagegen. Sie lächelte mild, raunte fröhlich „Die passen zu dir“ und wir hatten alle eine verdammt gute Zeit; immer solange bis es uns bei ihr zu eng wurde, wir eine Passage nach Nepal oder Südfrankreich buchten. Wenn sie davon hörte, nickte sie nur, denn sie wußte, wir kommen wieder, lassen sie nicht allein, gehören zu ihr und wir kamen wieder, auch ich kam zurück, und sie stellte uns wieder neue Leute vor, Zugereiste, Abtrünnige und Verrückte, mit Stirnband und 2CV-Cabriolet. Und wir lachten miteinander, liebten uns, hassten uns, bis auf’s Blut manchmal, und saßen doch abends in der Nulpe, hörten dem alten „Märchen“ zu, der in seiner Ecke saß und welche erzählte. Dann war auch sie ganz still und Ohr und ich nahm sie sanft in den Arm und sie seufzte oder war ich es?, jedenfalls fühlte ich mich manchmal so sehr zu Hause, daß es ziemlich weh tat, aber nicht sehr….

 

soundtrack (1)

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