vonWolfgang Koch 13.03.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Wir halten noch einen weiteren Eintrag lang beim Roten Wien der Zwanzigerjahre. Warum auch nicht? Ist denn in der europäischen Politik je davor oder je danach wieder etwas Vergleichbares gelungen? Eben.

Vom Mythos des einstigen Sozialexperimentes zehrt die Sozialdemokratie, deren parteinahe Vorstandsmanager seit Jahren von einem Wirtschaftsskandal zum nächsten stolpern, bis in die Gegenwart. Zumindest am 1. Mai und im Gemeindebau.

Die heutige SPÖ verfügt über eine so erdrückende Mehrheit im Wiener Gemeinderat, dass die Stadtratsposten gleich unter Verwandten weitergereicht werden. Die Genossen wollen die Wahrheit natürlich nicht hören: Aber ihre penetrante Machtkonzentration ist auch ein Ergebnis jener besagten Glanzzeit zwischen 1920 und 1930, und der darauf folgenden Katastrophen von Diktatur und Krieg, welche die Epoche noch heller erstrahlen lassen.

Man könnte raffiniert fragen: Welche Fehler waren das eigentlich, die den unmittelbaren Vorläufern des Roten Wien, den Sozialutopisten des 18. und 19. Jahrhunderts, unterlaufen sind? Das wäre vielleicht eine Möglichkeit hinter den Erfolg der Sache zu kommen.

Antwort: Die Frühsozialisten verkannten den Nachbarschaftscharakter von Genossenschaft, der sich aus einem bestimmten Wechselspiel von Nähe zu und Unterscheidung von anderen ergibt. Ein zweiter Kardinalfehler der früheren Gutmenschen war ihre Autoriätsgäubigkeit. Im nelkenroten Wien von 1925 regiert kein weiser Herrscher, kein Omniarch in einem neuen Konstantinopel. Hier haben wissenschaftlichen Experten das Sagen. Im vagen Konditionalis bietet die rote Kommune das Bild einer vollkommenen Gesellschaft: Gemeinschaftssinn, Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität.

Was die Gesellschaftstechnik nach 1918 kennzeichnet, ist der besondere Akzent, den sie der rationalen Erkenntnis zuschreibt. In diesem charakteristischen Zug der Zeit erfüllt sich denn auch ihre Funktion als ein beschwichtigender Traum, der alle Zukunftsängste auslöscht. Die mittelalterliche Anschauung des Imperium mundi kehrt wieder; und nun lacht sie aus naiv begeisterten Expertenaugen hervor.

Was will ich sagen? Das hochrote Wien ist ein Experiment mit der doppelten Stadt. Ganz im Sinn früherer Experimente versucht das Modell den Gegensatz zum Land aufzuheben. Man verbindet Siedlungs- und Kleingartenbewegung, Körperreform und Naturempfinden mit den Asphalt der Grossstadt. Die Stadthülle wird modernisieren und Sozialpaläste überwinden die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse – durch strenge Rationalisierung der Lebensäusserungen.

Die Planer des Roten Wien schreien »Nieder mit der Gemütlichkeit!«, die Agitatoren wiederholen es mitten hinein in den Bierdunst der Reaktionäre, um die Arbeiterschaft aus ihren Gewohnheiten herauszureissen und zur bewussten Lebensführung anzuleiten. Wir sprechen viel über den eleganten Futurismus des Karl-Marx-Hofes und viel zu wenig über die Neue Ethik, die darin sichtbar wird.

Der Modellsozialismus sozialdemokratischer Prägung erzieht den Stadtbewohner zu einem wertvollen und nützlichen Mitglied der Fabrikgesellschaft. Dieses Mitglied ist pünktlich und selbstdiszipliniert, arbeitsam und bildungsbeflissen, wissenschaftsgläubig, gewissenhaft bei seiner Tätigkeit und hoch erfreut über die eigenen guten Leistungen.

Das einzige, was sich der gute Arbeiter zum vollkommenen Glück noch wünscht, ist, dass ihm die kapitalistischen Eigner der Fabrik eine Mitarbeiterbeteiligung an der Rendite zugestehen. »Das wird uns«, denkt der gute Arbeiter, »als Lohn der Tüchtigkeit ganz von allein zufallen.«

Es geht mir hier nicht um Polemik, oder um das Einklagen einer politischen Ethik. Ich will lediglich daran erinnern, dass der Fokus aller Modernisierungsprogramme in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ablösungen ritueller Akte durch Versachlichung der Abläufe ist. Heute sind wir gründlich desillussioniert über die tiefe Verwandschaft dieser zwanghaft geometrischen Figur im gesellschaftlichen Denken und über den Versuch, soziale Konflikte mehr oder weniger autoritär zu lösen.

Das Sozialparadies der Wiener SP hat eine kühle, rationalistische Seite. Dass zum Beispiel Karl Ehn, Architekt des Karl-Marx-Hofes, der ritualisierten Hochburg des Roten Wien, erst zur christlichsozialen Diktatur und später zum Hitlertum überlaufen wird, ist weder Einfall noch Zufall. Es liegt in einer heimlichen Konsequenz der Roten Moderne.

© Wolfgang Koch 2008
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