Was ist denn nun los? Kurz vor Jahresende und auf einmal die vielzitierte „gerechte Welt“ vor der Tür? Als ich im Januar Girls, die Zweimannband aus San Francisco, in meiner I Predict A Riot – Musikglaskugelschau als eine der potentiell wichtigsten Bands für 2009 benannte, war ehrlich gesagt der gute alte Wunsch der Vater des Gedankens. Ich kannte damals zwei Songs, von denen vor allem „Hellhole Ratrace“ mich derart beeindruckte, dass ich der Band – bis dato ohne jede Veröffentlichung in Europa – mehr Weltbeherrschung als irgendeiner anderen zu jener Zeit wünschte. Gleichzeitig dachte ich aber auch: die kennt heute noch keiner und die wird wohl auch morgen keiner kennen.
So kann man sich täuschen. Sacht, aber bestimmt wurde die Band um Christopher Owens bekannter und geheimtippiger: im Grunde begann alles mit jenem Videoclip, der das halbjahr alte „Hellhole Ratrace“ mit einem Kurzfilm versah, für den man das Wort „kongenial“ dann doch mal ziehen darf. Hier war alles drin: die Lust am Feiern, die Melancholie, der Sex, kurz: das Jetzt, das sich dem Später verweigert. Und dann diese Stelle, als die Band mit Freunden auf den Hügeln vor San Francisco sitzt, auf die Stadt blickt, die Sonne aufgeht und die Gitarren krachen, als gäbe es nur diesen einen Moment und alles andere wäre irrelevant, egal, kann-uns-später-kümmern. Hier, in diesen Sekunden, in diesem Lied, in diesem Videoclip war die ganze Kraft des Rock’n’Roll, dieser flüchtige Blick in eine bessere Welt, der dir die Tränen in die Augen treibt.
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=lcqwfFKagH4[/youtube]
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I work to eat and drink and sleep just to live /
feels like im never getting back what I give /
I’ve got a sad song in my sweet heart /
and all I really ever need is some love and attention
and I dont want to cry my whole life through /
I want to do some laughing too /
so come on, come on, come on, come on, laugh with me.
Wenig später fing Pitchfork (9.1/10) an sich zu überschlagen und der große Gegenpart auf der anderen Seite des Atlantik, der NME, zückte ebenfalls 9/10 Punkten. Die Band kam auf ihre erste – jaja, von uns präsentierte – Deutschlandtournee und verwirrte wie beglückte mit fahrigen Konzerten, die vom Abgrund wie von der Erleuchtung erzählten. Dann Single Nummer 2. „Lust For Life“. Der Beweis, dass Girls alles andere als Onetrickmädchen sind. Ein völlig anderer Stil, aber wieder jenes Sehnen, jene Verbindung zwischen Traurigkeit und Euphorie, die schon immer die besten Songs auszeichnete. Wo „Hellhole Ratrace“ ein siebenminütiger Wahnsinn auf Augenhöhe mit den wohlformuliertesten Spiritualized-Songs oder „History“ von The Verve war, stolperte „Lust For Life“ als klitzekleine, dreckige, unterdreiminütige Songskizze um die Ecke, die gerade ob ihrer Imperfektion genau die richtigen Knöpfchen drückte, um Girls von dem Vorwurf des Übergroßen zu befreien, den die Zyniker nach „Hellhole Ratrace“ hätten formulieren können. Und wieder: ein Videoclip, nachdem man nichts lieber möchte als nach San Francisco ziehen, den 9-to-5-Job vergessen und in einer Girlskommune leben – und das noch bevor man die XXX-Rated-Version davon gesehen hatte!
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=SuoTjYYqe4c[/youtube]
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oh I wish I had a boyfriend / I wish I had a loving man in my life
I wish I had a father / and maybe then I woulda turned out right
but now I’m just crazy / I’m totally mad /
yeah I’m just crazy / I’m fucked in the head
Genau dieses Spannungsfeld von „Hellhole Ratrace“ zu „Lust For Life“ spannt nun auch das „Album“ auf. Den Mut zum ganz großen Gefühl wie auch die Wurschtigkeit des Skizzenhaften. Ist man anfangs noch irritiert von der Stilvielfalt und den ungefähr einhundert Bands und Vorbildern, die man aus den Songs heraushört, wie auch den durchaus vorhandenen Füllstoffen, die manche Lieder darzustellen scheinen, wird über Monate klar, dass nur deshalb dieses Album als ganzes funktionieren kann, ohne von den beiden Songs des Jahres erdrückt zu werden. Chet JR White, das zweite feste Girls-Mitglied und hauptsächlich für Arrangements und Produktion zuständig, liefert mit „Album“ ein Meisterwerk ab. Allein wie er jedem der vielen auf diesem Album vertretenen Musikstile den exakt richtigen Ausdruck verleiht und dennoch die Platte wie aus einem Guß erscheinen lässt, ist in jüngerer Vergangenheit ohne Vergleich. Owens wiederum schafft die Königsdisziplin im Rock’n’Roll, er spricht die Universalsprache der frühen Beatles: simple, manchmal beinah platte Texte, die in Verbindung mit seinen Songs, als das genau in diesem Moment exakt richtige, das einzig Sagbare wirken. Texte, die sich jeder Intellektualisierung entziehen, weil sie auf einer emotionalen Ebene funktionieren, die den Kopf ausschaltet um geradewegs nach innen zu zielen.
Ich kann mein Glück noch gar nicht recht fassen: Die ungooglebarste Band der Welt mit dem unprätentiösesten Albumtitel ever hat 2009 an sich gerissen. Die beiden besten Songs, die schönsten Videoclips, die besten Singlecover. Die unwahrscheinlichste Erfolgsgeschichte des Jahres. Danke, Welt. (Christian Ihle)