vonAlexander Jeuk 03.04.2024

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Wie immer man zu ökonomischen Märkten steht, so glauben doch die meisten, dass es sie gibt. Kapitalistinnen lieben Märkte, die meisten Sozialistinnen verachten sie. Worin aber die meisten übereinstimmen, ist, dass es Märkte gibt: Märkte, die ganzen Volkswirtschaften als Ordnungsprinzipien unterliegen. Arbeitsmärkte. Aktienmärkte. Und Märkte für alles andere, von Land bis CO₂-Emissionen.

Dieser Glaube in die unhinterfragbare Existenz von Märkten ist verwunderlich, denn noch im 18. Jhd. haben wenige die Idee von Märkten gekannt, bis sie von liberalen Philosophinnen und Ökonominnen in aller Munde gebracht wurde. Und schauen wir genauer hin, ist es in der Tat schwierig, klar auszumachen, was Märkte eigentlich sind.

Was sind Märkte eigentlich?
Fragt man jedoch danach, was Märkte eigentlich sind, beobachtet man regelmäßig, dass eine gute Antwort hierauf auf sich warten lässt. Sucht man dennoch gründlich, findet man folgende Konzeptionen von Märkten: Die vielleicht gängigste Definition von Märkten in der Volkswirtschaftslehre ist, dass es sich bei Märkten um Preismechanismen handelt.

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Märkte als Preismechanismen bestimmen angeblich Preise von Produkten und Dienstleistungen gemäß Angebot und Nachfrage.

Zusätzlich wird gerne behauptet, dass Märkte, sofern sie nicht reguliert sind, zu Äquilibrien führen. Das heißt so viel wie, dass Märkte angeblich stabile Optimalzustände hervorbringen, relational zu vorhandenen Ressourcenlimits. Üblicherweise wird angenommen, dass Märkte dies selbstreguliert tun – das heißt, sie bestimmen Preise und verteilen Ressourcen vermeintlich dann am effizientesten, wenn sie unreguliert sind. Nicht nur das, wie biologische Mechanismen täten sie dies, ohne Zutun von menschlicher Hand, eines übergeordneten Designs oder eines Plans.

Welche Mechanismen unterliegen Märkten?
Natürlich beantworten diese Aussagen nur bedingt, was Märkte denn tatsächlich sind. Insbesondere lassen diese Definitionen von Märkten die Frage offen, wie Märkte all diese ökonomisch herausragenden Funktionen, die man ihnen gerne zuschreibt, erfüllen.

Wenn man normalerweise in der Wissenschaft danach schaut, wie Mechanismen oder Systeme funktionieren, zum Beispiel in der Biologie, analysiert man ihre Bestandteile und Eigenschaften. Daher müssen wir fragen, was die Bestandteile und Eigenschaften von Märkten sind, sodass sie die oben erwähnten Funktionen auch tatsächlich erfüllen können. Auf der grundlegendsten Ebene sind dies Menschen und Akkumulationen von Menschen (z.B. Unternehmen, Behörden, etc.), die miteinander in Tauschverhältnissen stehen. Nicht in irgendwelchen Tauschverhältnissen, sondern in kommerziellen Handelsverhältnissen.

Effiziente Verteilung durch Mangel an Ordnung und Planung? Ein nicht nur vermeintliches Paradox
Hier stellt sich direkt die Frage, wie diese unregulierten Tauschverhältnisse effizient zur Verteilung von Ressourcen beitragen sollen oder wie sie zu harmonischer Selbstregulation, also der Herbeiführung eines stabilen Optimalzustandes führen können. Wenn wir auf Firmen und Organisationen schauen, so operieren diese gemäß regulierter, wohl-organisierter Prozessabläufe. Logistik, Finanzen, Lieferketten, Lagerhaltung, Bestellung sind bis ins Kleinste durchorganisiert und im Voraus geplant – man denke zusätzlich an Business-Pläne, Marktanalysen und Gewinnprojektionen.

Auch ist die Arbeitsteilung klar. In Unternehmen, Firmen und Behörden haben Angestellte gewisse Aufgaben zu einem gewissen Zeitpunkt zu erfüllen. Ansonsten käme es zu Chaos und dem Zusammenbruch dieser.

Jedoch will man uns weismachen – man denke an Adam Smith und seine „unsichtbare Hand“ zurück – dass gerade das Fehlen all dieser Organisations- und Planungsprozesse qua dereguliertem und nur durch Einzelinteressen koordiniertem Tausch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zu Erfolg führt.

Wenn wir an die Definition von Märkten zurückdenken, zeichnen sich diese gerade dadurch aus, dass Menschen und Organisationen in unregulierten Tauschverhältnissen stehen, die durch die individuellen Bedürfnisse der Einzelakteurinnen bestimmt sind. Hier stellt sich die Frage, wie aus diesem Chaos ökonomische Ordnung erwachsen soll, wo doch sonst nur Chaos und Zusammenbruch aus dieser Art unregulierter Unordnung erwächst.

Karl Polanyi und Mixed Economies
Aus ähnlichen Zweifeln an diesem Narrativ haben linke Ökonominnen, allen voran Karl Polanyi, hervorgehoben, dass Märkte auf staatliche und gesellschaftliche Institutionen angewiesen sind, z.B. juristische und staatliche Institutionen, die durch Verträge kommerzielle Tauschgeschäfte regeln und die Einhaltung dieser Verträge sichern.

Ähnlich waren staatliche Bildungseinrichtungen und Infrastrukturentwicklung (z.B. Autobahnen, Bahnstrecken) nötig, um die heutige Wirtschaftsordnung hervorzubringen. Zeitgenössische Ökonominnen wie Mariana Mazzucato reden von Staaten, die sowohl stark privatwirtschaftlich, aber auch staatlich organisiert sind, als mixed economies.

Jenseits von Mixed Economies
Aber auch diese Spezifizierungen lassen das ökonomisch-theoretische Kernproblem hinsichtlich Märkten außer Acht: Inwieweit bringen egoistische Einzelakteurinnen, die unkoordiniert agieren, die angeblich effizienteste Allokation von Waren herbei, wenn genau dieses Prinzip in allen anderen Ebenen des Lebens, von Sport über militärisches Vorgehen bis zu inner-unternehmerischen Abläufen, grandios scheitern würde.

Auf diese Frage sind viele Menschen, einschließlich der meisten Ökonominnen, gewillt zu antworten, dass man doch auf den Erfolg von Marktwirtschaften im Vergleich zu anderen Formen des Wirtschaftens schauen soll, z.B. die sowjetische Planwirtschaft.

Hierauf gibt es mehrere Möglichkeiten zu entgegnen. Einerseits können wir mit gewichtigen Qualifikationen auf den ökonomischen Erfolg der chinesischen Wirtschaft zeigen oder feststellen, dass die sowjetische Wirtschaft nur eine Möglichkeit von vielen Formen des sozialistischen Wirtschaftens ist, und keine besonders gute dazu.

Wir sollten aber vor allem dies hervorheben: Kapitalistische Volkswirtschaften sind keine Marktwirtschaften oder spezieller ausgedrückt, keine Wirtschaftsform ist in einem interessanten Sinne eine Marktwirtschaft, wenn man sich die Kernkriterien des ökonomischen Marktbegriffs vergegenwärtigt.

Damit meine ich nicht, dass erfolgreiche Volkswirtschaften mixed economies sind. Mein Punkt ist weder zu zeigen noch zu widerlegen, dass erfolgreiche Nationen durch staatliche, gemeinschaftliche und private Initiativen strukturiert sind. Das ist empirisch klar der Fall, wobei viele Menschen sich dessen leider nicht bewusst sind. Mein Punkt ist, dass die Kernidee hinter dem ökonomischen Marktbegriff fehlgeleitet ist und man daher nicht von „Marktwirtschaften“ überhaupt reden sollte.

„Markt“ als Clusterbegriff oder der Versuch semantischer Täuschung
Wie ist das zu verstehen? Nur weil Kapitalistinnen ökonomisch erfolgreiche Länder „Marktwirtschaften“ nennen, und manche Sozialistinnen den Fehler gemacht haben mögen, ihnen dabei zuzustimmen, folgt es nicht, dass jene erfolgreichen Ökonomien wirklich Marktwirtschaften sind oder teils Marktwirtschaften im ökonomisch-theoretisch relevanten Sinne sind.

Genauso wenig wie es folgt, dass die DDR eine Demokratie war, nur weil sie „Deutsche Demokratische Republik“ hieß, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation „deutsch“ oder „heilig“ war, nur weil es den Namen trug, oder dass Nationalsozialistinnen Sozialistinnen waren, nur weil sie sich diesen Namen gaben.

Wofür ich hier argumentieren möchte, ist, dass wir einer bewussten semantischen Täuschung unterliegen. Das Ganze beginnt ganz unschuldig. Kapitalistische Ökonominnen nehmen einen Begriff, der zu einem unbestreitbaren Phänomen gehört. Es gibt Märkte im Sinne von Wochenmärkten (oder auch Supermärkten, Basaren, etc.). Daran gibt es erst mal nichts zu kritisieren.

Was bereits weniger klar ist, und höchlich problematisch, ist zu behaupten, dass (1) selbst normale Märkte Preise spontan bestimmen und selbstorganisiert sind, (2), dass ganze Volkswirtschaften analog zu einfachen Wochenmärkten operieren und, (3), dass ganze Volkswirtschaften vermeintlich spontan und selbstreguliert organisiert sind, d.h. dass sie keinem gemeinschaftlichen Planungsprozess unterliegen. Das heißt, kapitalistische Ökonominnen verstecken hinter einem Allgemeinplatz, wie, dass es Wochenmärkte gibt, eine Handvoll theoretisch problematischer Annahmen, die keine empirische Basis haben.

Um die Verwirrung zu vervollständigen, fügt man „Märkten“ weitere Eigenschaften hinzu: z.B. sind sie angeblich privatwirtschaftlich organisiert oder operieren nach dem Profitprinzip. Grund für diese Verwirrungsstrategie ist die Folgende: Natürlich operieren privatwirtschaftlich agierende Akteurinnen nach dem Profitprinzip in unseren kapitalistischen Gesellschaften. Jedoch hat das nichts notwendig oder begrifflich mit spontaner Selbstorganisation, Optimalzuständen oder Preismechanismen zu tun, also Kernkriterien von „Märkten“.

Kommt aber eine Kritikerin daher, und argumentiert, dass es „Märkte“ nicht gibt, weil Wirtschaftsakteurinnen sich nicht spontan zu Optimalzuständen hin selbst-organisieren, dann wird ihr entgegengehalten, dass es sehr wohl Märkte gibt, da es ja u.a. privatwirtschaftliche Akteurinnen gibt, die nach dem Profitprinzip agieren. Das ist zwar keine Widerlegung der eigentlichen Kritik, aber es hält den Clusterbegriff „Markt“ am Leben und somit zumindest auch psychologisch die problematischen Definitionskriterien von Märkten.

Das heißt, der ökonomische Marktbegriff basiert auf semantischer und psychologischer Täuschung. Er gibt sich als allgemein verständlich und harmlos aus, basierend auf der Wochenmarktmetapher. Versteckt darin aber unwissenschaftliche und ideologische Behauptung über spontane Selbstorganisation von Optimalzuständen, die angeblich ohne Planung von Einzelakteurinnen und Gruppen auskommt. Um das Ganze noch mehr zu verwirren, fügt man dem Begriff weitere Allgemeinplätze bei, wie privatwirtschaftliche Organisation. Denn nichts macht Begriffe so undurchschaubar, wie wenn man konstant weitere Eigenschaften unter ihnen subsumiert.

Deshalb ist es wichtig, bei der Kritik an „Märkten“ fokussiert zu bleiben. Sozialistinnen wollen zeigen, dass die für uns problematischen definitorischen Kernkriterien von „Märkten“ wie Preismechanismus und spontane Selbstorganisation zu Optimalzuständen hin unwissenschaftliche, ideologische und falsche Annahmen sind – also jene Annahmen, mit denen Kapitalistinnen für Deregulierung argumentieren.

Ferner wollen wir zeigen, dass keine erfolgreiche Wirtschaftsordnung durch diese semantischen Kernkriterien von „Märkten“ ausgezeichnet ist, u.a. in dem wir zeigen, dass die besten empirischen Gradmesser wirtschaftlichen Erfolgs oben genannten Kriterien widersprechen.

Natürlich bleiben kapitalistische Ökonominnen uns die umgekehrte Beweisführung schuldig und verstecken die Substanzlosigkeit ihrer Aussagen hinter mathematischen Modellen und technischem Vokabular. Im Gegensatz dazu haben empirisch arbeitende Ökonominnen, speziell jene in Entwicklungsökonomie, Industriepolitik und der evolutionären Ökonomie empirische Befunde geliefert, dass der ökonomische Erfolg von Staaten auf einer Vielzahl an Institutionen und industriepolitischen Maßnahmen beruht, die den Kernkriterien von „Märkten“ zuwiderlaufen.

Industriepolitik als Widerlegung von „Marktwirtschaft“
Unter diese institutionellen und industriepolitischen Maßnahmen fallen z.B. der Aufbau eines Bildungs- und Forschungssystems. Des Weiteren die Gründung staatlicher Entwicklungsbanken und Agenturen. Letztere helfen z.B. wissenschaftliche Befunde und neue Technik an Unternehmen weiterzuleiten und diesen bei der Patentierung und sogar Vermarktung jener staatlichen Forschungsergebnisse zu helfen. Und natürlich sehen wir konstant, dass Staaten ihre einheimischen Industrien durch Zölle schützen, aber auch durch die Unterstützung von Absatzverhalten in verwandten Industrien und der Bevölkerung mit aufbauen.

Zum Beispiel wurde die Maschinenbauindustrie in Deutschland durch langjährige Industriepolitik des deutschen Staates aufgebaut – zurückreichend in das Kaiserreich. Diese Industriepolitik, die nichts anderes als ein langer Planungsprozess ist, reichte davon, die Ausbildungskosten von Ingenieurinnen und Mechanikerinnen in England zu übernehmen über die Akquise von Maschinen und Technologie aus England selbst bis hin zum Schutz der jungen Industrie durch Zölle und die subventionierte Förderung von Nachfrage.

Wir sehen diese Form von Industriepolitik in fast allen wohlhabenden und erfolgreichen Staaten, z.B. in den USA nach den Vorstellungen von Alexander Hamilton, in Frankreich, Japan, Südkorea und bis heute China. Auch heute noch patentieren Pharma- und Tech-Konzerne massiv jene Techniken und wissenschaftlichen Errungenschaften, die aus staatlich finanzierten Laboren oder Universitäten stammen.

Daraus können wir schließen, dass erfolgreiche Ökonomien keine „Marktwirtschaften“ im semantisch relevanten Sinne sind. Sie sind komplexe Wirtschaftsformen, die sich durch eine Vielzahl an Institutionen auszeichnen, darunter starke staatliche Institutionen wie Notenbanken, die das Finanzkapital konstant mit Kapital versorgen. Diese Institutionen regulieren und planen ökonomische Aktivität und widersprechen damit den semantischen Kernkriterien von „Märkten“.

„Shock Therapy“ und dystopische Märkte
Im eigentlichen Sinne, das heißt im Sinne des ökonomischen Begriffs, ist keine Ökonomie eine Marktwirtschaft, denn Marktwirtschaften sind durch das komplette Fehlen von Planung und durch komplette Deregulierung definiert, was zu Entropie und Chaos führt.

Eben jene Resultate, die Deregulierung und Rückzug von staatlicher Industriepolitik in vielen Ländern in Osteuropa und Afrika bewirkt haben, nachdem ihnen durch den Washington Consensus eine sogenannte shock therapy auferlegt wurde; die Zerstörung wirtschaftlicher Institutionen und der teils komplette Zusammenbruch des wirtschaftlichen Lebens.

In diesem Sinne, mit Blick auf den Washington Consensus und die resultierende shock therapy, können wir sagen, dass reine Marktwirtschaft, falls sie denn rein existieren kann, die ruinöseste Form des Wirtschaftens ist, die das 20. und 21. Jahrhundert gesehen hat.

„Märkte“ als ideologischer Ruf nach Deregulierung
Der Ruf nach Marktwirtschaft hat primär ideologischen Wert für Kapitalistinnen. Er besteht hauptsächlich in einem konstanten Aufruf nach Deregulierung, d.h. der Forderung, die Macht der Kapitalistinnenklasse nicht staatlich oder gesellschaftlich zu beschneiden.

Weiterhin erweckt die Behauptung, dass wir in Marktwirtschaften leben, den Anschein, dass nicht die Kapitalistinnenklasse für unser ökonomisches und ökologisches Elend verantwortlich ist, sondern wir selbst in der Rolle ökonomisch autonomer und relevanter Konsumakteurinnen.

Daher sollten wir die Begriffe „Marktwirtschaft“ und „Markt“ aus unserem Vokabular streichen. Sie sind primär ideologische Begriffe, die die Funktion haben, kapitalistische Herrschaftsrelationen zu verschleiern.

 

 

 

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