Der oberste Arzt der Vereinigten Staaten, „Surgeon General“ Vivek Murthy (*1977), begab sich 2014 nach seiner Berufung durch den damaligen Präsidenten Barack Obama (*1961) auf eine Zuhörreise durch die USA. Im Gespräch mit den Menschen vor Ort wollte er herausfinden, welche die größten Herausforderungen für die Gesundheit der Bürger*innen des Landes sind. Hinter den Geschichten, die die Menschen ihm auf seiner Reise erzählten, zeichnete sich dabei mit der Zeit ein Motiv ab: viele Menschen hatten schmerzhafte Erfahrungen mit Einsamkeit gemacht.
In einem Podcast des öffentlich-rechtlichen Radiosenders NPR berichtet Murthy unter anderem von den Bürger*innen der Stadt Flint im Bundesstaat Michigan. Im Zuge der Wasserkrise, bei der es durch politisches Versagen zu einer Verseuchung des Leitungswassers mit Blei gekommen war, hatten die Menschen von Flint nicht nur mit den Gesundheits- und Umweltschäden zu kämpfen gehabt. Besonders schmerzhaft sei gewesen, dass sie sich mit ihren Problemen vollkommen allein und im Stich gelassen gefühlt hatten. Auch berichtet er von ehemaligen Kommiliton*innen aus dem Medizinstudium, die während ihrer Ausbildung selten unter Einsamkeit gelitten, sich nach dem Einstieg in den Beruf jedoch in alle Winde zerstreut hätten. Durch ihre anspruchsvolle Arbeit seien sie bei der Versorgung ihrer Patient*innen schließlich immer häufiger in Situationen geraten, in denen sie sich „unsichtbar“, „austauschbar“ und „isoliert“ gefühlt hätten, bis sie schließlich ausgebrannt seien. Mit Blick auf die in den USA grassierende Opioidkrise zitiert Murthy schließlich den Gründer der Anonymen Alkoholiker*innen, der die Meinung vertrete, am Anfang jeder Sucht stehe die Einsamkeit[1].
Das geheime Unglück
Murthys Probebohrungen in die amerikanische Seele wecken Erinnerungen an wichtige Figuren der literarischen Postmoderne, wie Esther Greenwood aus Sylvia Plaths (1932-1962) „Die Glasglocke“ (1953)[2], die sich als junge Frau vom Land in der riesigen Stadt New York verliert. Ingeborg Bachmann (1926-1973) schrieb 1968 über die Figur, sie verunglücke auf eine so unmerkbare Weise, dass man sich selbst nach der dritten Lektüre frage, “wo dieses geheime Unglück anfängt, und wie […].“[3]
Oder an Don Gately und Hal Incandenza aus David Foster Wallaces (1962-2008) „Unendlicher Spaß“ (1995)[4], deren detailliert hergeleitete, existentielle Einsamkeit zum Ausgangspunkt für die Entstehung unentrinnbarer Süchte wird. Titelgebend für den Roman ist ein Film, der so unterhaltsam ist und seine Zuschauer*innen so unwiderstehlich bannt, dass alle menschlichen Grundbedürfnisse in den Hintergrund treten: Hunger, Durst und echte Nähe zu echten Menschen. Eine Folie, die oft herangezogen wird, um die Auswirkungen jüngerer Phänomene wie Internet-, Social Media- und Computerspielsucht zu erklären.
Insulaner*innen in den Städten
Als im Frühjahr 2020 die erste Welle der Coronapandemie in Europa wütet, wird Michel Houellebecq (*1956) von Catherine Millet (*1948) auf die Parallele der Situation zu seinem Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ (2005) aufmerksam gemacht. In der Tat, räumt der französische Schriftsteller gegenüber seiner Kollegin ein: so habe er sich das Aussterben der Menschheit beim Verfassen des Textes damals vorgestellt: „Individuen, die isoliert in ihren Zellen leben, ohne physischen Kontakt zu ihren Artgenossen, mit nur ein paar sich zunehmend verringernden Interaktionen über den Computer.“[5] Seiner Meinung nach hätten „[s]eit einigen Jahren die technologischen Entwicklungen, ob sie nun weniger wichtig sind (Video-on-Demand, kontaktloses Bezahlen) oder wesentlich (Fernarbeit, Shoppen per Internet, die sozialen Netzwerke), zur Folge (zum Hauptziel?) die physischen Kontakte zu reduzieren, besonders die zwischen Menschen.“[6] Der Regisseur Hans Weingartner (*1977) lässt die Protagonist*innen seiner filmischen Intimitätserkundung „303“ hinter der Einsamkeit junger Menschen gar eine „Vereinzelungsstrategie des Kapitalismus“ vermuten, nach dem Motto: wer einsam ist, muss mehr konsumieren[7].
Was ist Einsamkeit?
Zwar weiß fast jeder Mensch aus eigenem Erleben, was Einsamkeit ist. Der Versuch einer genauen wissenschaftlichen Beschreibung ist aber gar nicht so einfach. Von den meisten Forscher*innen wird Einsamkeit als eine erlebte Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen beschrieben. Wie viele enge Freund*innen ein Mensch braucht, um sich nicht einsam zu fühlen, ist individuell verschieden. Einsamkeit ist eine universelle menschliche Erfahrung, die jede*r unter bestimmten Bedingungen machen kann. Lebensverändernde Ereignisse, wie das Ende einer wichtigen Beziehung, oder der Umzug in eine neue Stadt, in der man niemanden kennt, können Menschen einsam machen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt an, dass in vielen Ländern Europas, der USA und Lateinamerikas bis zu 30 Prozent der Menschen im hohen Alter Einsamkeit erleben[8]. In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov vom Oktober 2020[9] berichteten mehr als die Hälfte der 18-24-Jährigen, sich „sehr oft“ (21 Prozent) oder „eher oft“ (32 Prozent) einsam zu fühlen.
Laut dem amerikanischen Neurowissenschaftler John Cacioppo[10] (1951-2018) habe Einsamkeit unseren Vorfahr*innen einst als Alarmsignal gedient, das anzeigte, wenn unsere sozialen Bedürfnisse nicht erfüllt waren. Ähnlich wie Hunger, habe Einsamkeit zu einer Stressreaktion geführt und uns zum Beispiel dazu bewegt, uns wieder unserer Gruppe anzuschließen. Kurzfristig sei dies auch nützlich gewesen. Langfristige, ungewollte Einsamkeit wirke jedoch wie Dauerstress und mache krank. Einsamkeit ist zwar nicht das gleiche wie eine Depression. Allerdings kann chronische Einsamkeit das Risiko für die Entwicklung einer Depression, einer Angststörung und anderer psychischer Krankheiten deutlich erhöhen. Wie verheerend die Auswirkungen von Einsamkeit auch auf die körperliche Gesundheit sind, wurde lange Zeit unterschätzt. Bekannt ist, dass das Risiko für Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Immunsystems steigt. Die amerikanische Psychologin Juliane Holt-Lunstad fand heraus, dass lang andauernde Einsamkeit das Risiko, vorzeitig zu versterben, um 26 Prozent erhöht. Das ist vergleichbar mit dem Risiko durch das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag und liegt sogar noch über dem Risiko einer schweren Fettleibigkeit mit all ihren Folgeerkrankungen[11].
Alleinsein – dasselbe wie Einsamkeit?
Laut statistischem Bundesamt lebt bis 2040 jeder vierte Mensch in Deutschland in einem Singlehaushalt. Das bedeutet jedoch nicht zwingend, dass die Gesellschaft einsamer wird. Zwar kann, wer allein lebt, insbesondere, wenn er gleichzeitig unter körperlichen Einschränkungen leidet, ein höheres Risiko haben, einsam zu sein. Das Einsamkeitsleben alleinlebender Menschen kann aber nicht auf die Wohnsituation selbst, sondern auf Unterschiede in Familienstand und Einkommen zurückgeführt werden. Wer in einem Singlehaushalt lebt, kann mit der Zahl und Häufigkeit seiner sozialen Kontakte durchaus zufrieden sein. Umgekehrt können sich Menschen auch in einer größeren Gruppe oder Wohngemeinschaft einsam fühlen. Die Möglichkeit zu gewolltem, auch schöpferischem Rückzug, der dazu dienen kann, eine gute Beziehung zu sich selbst aufzubauen, kann schließlich auch eine wichtige Voraussetzung sein, um gute Beziehungen zu anderen aufzubauen. Diese im englischen als “solitude” bezeichnete Art des Alleinseins ist oft positiv konnotiert, im Gegensatz zu Einsamkeit im wissenschaftlichen Sinn, die immer als negativ empfundener Zustand definiert wird[12]. Eine Politik, die sich Barrierefreiheit, gute Arbeitsbedingungen, verbesserte Mobilität für alle Menschen und eine bessere Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte auf die Fahnen schreibt, könnte daher entscheidender sein, als die Frage, wie viele Menschen unter einem Dach wohnen.
Brennglas Coronapandemie
Zur Beschreibung der Coronapandemie wurde häufig die Metapher des Brennglases verwendet. Sie lasse uns einerseits, durch Vergrößerung, bestehende gesellschaftliche Trends besser erkennen, andererseits beschleunige sie diese. Nach Zahlen des Deutschen Alterssurveys vom Juni und Juli 2020 wirkte die Pandemie auch auf die Einsamkeit der Gesellschaft wie ein Brennglas[13]. So stieg während der ersten Welle der Pandemie das Einsamkeitserleben im mittleren und hohen Alter, bei Männern wie bei Frauen, und in den unterschiedlichen Einkommensgruppen gleichermaßen an. Selbst Faktoren, die üblicherweise helfen, Einsamkeit zu verhindern, hatten während der Pandemie keinen schützenden Effekt gezeigt. Besonders betroffen vom Anstieg der Einsamkeit während der Pandemie waren, laut weiteren Studien, Jugendliche und junge Erwachsene, Eltern kleiner Kinder und Alleinlebende[14].
Auch schon vor der Pandemie war bekannt: Einsamkeit trifft nicht bloß alte Menschen, sondern tritt in allen Lebensphasen auf, wie unter anderem die Psychologin Maike Luhmann herausfand. Die Gründe für Einsamkeit im hohen Alter sind gut verstanden: ältere Menschen haben oft ein geringeres Einkommen, leiden häufiger unter körperlichen Einschränkungen und leben häufiger allein, als junge Menschen. Die Hauptgründe für Einsamkeit von Menschen im jungen und mittleren Erwachsenenalter sind dagegen bislang noch nicht gut erforscht. Festzuhalten bleibt, dass die Gründe für Einsamkeit in jeder Lebensphase sehr spezifisch sein können und daher große Unterschiede zwischen den Altersklassen bestehen mögen, die erst noch verstanden werden müssen[15].
Das einsame Gehirn
Was es besonders schwierig macht, chronische Einsamkeit zu bekämpfen, ist, dass sie bleibende Spuren im Gehirn hinterlässt. Einige Forscher*innen sprechen von einem „Lonely Brain“ – einem Einsamkeitsgehirn. Chronische Einsamkeit führt nach dieser Vorstellung dazu, dass die Beschäftigung mit den eigenen Gedanken zu- und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, abnimmt. Chronisch einsamen Menschen fällt es daher immer schwerer, anderen Menschen zu vertrauen. Die Folge: sie ziehen sich paradoxerweise noch weiter von den Menschen zurück, deren Gesellschaft sie sich eigentlich wünschen. Ein Teufelskreis entsteht, der zu noch mehr Einsamkeit führt[16].
Erschwerend kommt hinzu, dass Einsamkeit gesellschaftlich stigmatisiert ist, oft bloß als Signum des individuellen Scheiterns gilt. Dadurch ist für viele Menschen das Sprechen über die eigene Einsamkeit schambehaftet. In vielen Fällen sogar so sehr, dass sie ihrem Umfeld schließlich nicht mehr signalisieren, wenn sie sich mehr Kontakt oder Nähe wünschen. Auf diese Abwärtsspirale bezugnehmend, schreibt Luhmann in einer Stellungnahme für den Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages: “Eine offene Frage, die sowohl wissenschaftlich als auch politisch beantwortet werden muss, ist daher, wie man einsame Menschen identifiziert und für Hilfsangebote erreicht.[17]”
Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Als im Frühjahr 2021 die Suizidzahlen in Japan, vor allem durch einen 70-prozentigen Anstieg der Suizide bei Frauen, zum ersten Mal seit 11 Jahren wieder anstiegen, steuerten die Politiker*innen des Landes alarmiert um und ernannten eine staatliche Einsamkeitsbeauftrage, die Initiativen gegen Einsamkeit aus verschiedenen Ministerien koordinieren soll[18]. Bereits 2018 hatte Großbritannien als erstes Land der Welt eine Einsamkeitsbeauftragte benannt. In Deutschland ist das Thema bislang im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt. Das Ministerium erklärt auf seiner Website, Einsamkeit zu verhindern, sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe[19]. Gefördert werden über den Europäischen Sozialfonds unter anderem Modellprojekte gegen Einsamkeit und Armut im Alter, die sich vor allem an Senior*innen am Übergang zwischen Berufsleben und Rente richten, sowie Mehrgenerationenhäuser. Projekte zur Erforschung und Bekämpfung von Einsamkeit in anderen Altersgruppen existieren bislang nicht.
Ein*e Einsamkeitsbeauftragte*r für Deutschland?
Eine*n Regierungsbeauftragte*n für Einsamkeit, den auch die Psychologin Luhmann vorschlägt, forderte der seit Dezember 2021 amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (*1963) schon 2018. Im Ampelkoalitionsvertrag wird die Einrichtung einer solchen Position nicht gefordert. Dort taucht das Wort Einsamkeit auf 177 Seiten insgesamt zweimal in Aufzählungen zu bislang noch nicht definierten Maßnahmenpaketen in den Kapiteln „Gesundheitsförderung“ und „Senioren“ auf. Dennoch wird die Ernennung Lauterbachs berechtigte Hoffnungen wecken, dass das Thema in Deutschland künftig zentraler behandelt werden könnte.
Darauf sollte jedoch nicht gewartet werden. Denn auch unabhängig von einer möglichen neu eingerichteten Stelle auf Bundesebene, ist das Thema eine der ganz großen kommenden Aufgaben für die Kommunal- und Landespolitik. Richtet man den Blick auf die bisherigen Erfahrungen aus anderen Ländern, sind nämlich vor allem lokale Lösungen erfolgversprechend.
Lokale Lösungen: Social Prescribing und Sozialtandems
Das Leitmotiv klingt zunächst schlicht, muss aber auch in konkrete Maßnahmen übersetzt werden: Menschen müssen wieder mit Menschen zusammenkommen können. Respekt, Anerkennung, Zuhören und Zeit lassen sich zwischen Menschen tauschen, zum Gewinn aller.
Ein vom nationalen britischen Gesundheitsdienst (NHS) besonders gefördertes Programm nennt sich „Social Prescribing“[20], auf Deutsch etwa „Soziales auf Rezept“. Viele britische Hausärzt*innen machten die Erfahrung, dass Menschen ihre Praxen aufsuchten, ohne an körperlichen Beschwerden zu leiden, sondern schlicht, weil sie sich jemanden zum Reden wünschten und sonst niemanden hatten. Mit dem Sozialrezept ist es den Ärzt*innen nun möglich, diese an sogenannte „Link-Worker*innen“ zu vermitteln. In persönlichen Gesprächen finden diese heraus, was die Menschen, denen die Verbindungen zu anderen verloren gegangen sind, bewegt. In vielen Fällen gelingt anschließend gemeinsam der Anschluss an ein nachbarschaftliches Projekt, eine Essensgruppe oder ein Gartenprojekt, je nach Vorlieben und Möglichkeiten. Oftmals genügt die Knüpfung weniger solcher „Links“ dafür, dass sich die Menschen langfristig weniger einsam fühlen und Selbstvertrauen, sowie das Gefühl gebraucht zu werden, zurückgewinnen. Ein positiver Nebeneffekt: auch die Zahl der Arztbesuche und die Kosten für das Gesundheitssystem sanken durch die Einsätze der Link-Worker*innen.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das seit 2011 bestehende schweizerische Projekt KISS (“keep it small and simple”), ein geldfreies Fürsorgesystem, unter Eidgenöss*innen auch als die “Vierte Vorsorgesäule” bekannt. Menschen tauschen ihre Zeit mit anderen Menschen. Geld fließt nicht. In sogenannten „Tandems“ kommt es zwischen den Teilnehmer*innen aus allen Generationen zum Austausch von Respekt und Anerkennung und einem Geben und Nehmen auf Augenhöhe. So unterstützen sich die Tandems beispielsweise „bei alltäglichen Dienstleistungen in Haus und Garten, für Fahrten, Zuhören und Gespräche, Spazieren, Bewegung.“[21] In Deutschland sind wir bislang vor allem gewohnt, über Rente in Form von Geldzahlungen zu reden. Zurecht. Ein gesichertes materielles Auskommen ist eminent wichtig und die Voraussetzung für ein Leben in Würde auch im hohen Alter. Den dahinterstehenden Generationenvertrag auch durch nicht-materielle Formen der Anerkennung zu bekräftigen und zu stärken, könnte darüberhinaus zu mehr Respekt für die vielen unterschiedliche erbrachten Lebensleistungen führen. Dass die Potentiale für reziprokes bürgerschaftliches Engagement in Deutschland reichlich vorhanden sind, haben nicht zuletzt die zahlreichen freiwilligen Nachbarschaftshilfen während der Corona-Lockdowns bewiesen.
Einsamkeitspolitik ist eine Investition in eine krisenfeste Gesellschaft
Kommunen und Länder sollten also am besten gleich morgen vielerorts Modellprojekte zur Förderung von Link-Worker*innen oder Sozial-Tandems für alle Altersgruppen starten. Solche Projekte können aber nur der Anfang sein. Gerade die Unterschiede in den verschiedenen Altersgruppen müssen noch sehr viel besser verstanden und Angebote geschaffen werden, die die Bedürfnisse der Menschen beachten. So kann für ältere Erwachsene die Nutzung von sozialen Medien ein wichtiger Schutzfaktor gegen Einsamkeit sein, auch Menschen mit Behinderung würden mutmaßlich von einer verbesserten digitalen Inklusion profitieren. Andererseits stellt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein exzessiver Konsum sozialer Medien einen Risikofaktor für Einsamkeit dar[22].
Eine wirksame Einsamkeitspolitik gehört, als Querschnittsthema, auf zahlreiche politische Agenden gesetzt. Ziel sollte das Finden gemeinsamer Vorteile sein, die auf andere Politikfelder ausstrahlen können. Vor allem bei der Entwicklung von Konzepten für junge Menschen ist Kreativität gefragt. Das gilt zum Beispiel in den Bereichen Digitalisierung, Bauen und Verkehr. Schon 1965 beklagte Alexander Mitscherlich (1908-1982) in seinem Pamphlet “Die Unwirtlickeit unserer Städte” die Stadtplanung der Nachkriegszeit, die das Bild vieler Städte bis heute prägt, als einsamkeitsfördernd. Dass man, wie im Ampelkoalitionsvertrag angekündigt, 400 000 neue Wohnungen im Jahr bauen will ist gut. Wie diese Wohnungen gebaut werden, ob sie beispielsweise auch klimaneutral und begegnungsfördernd sein werden, muss beobachtet und debattiert werden. Die Verbesserung der digitalen Inklusion für Ältere und Menschen mit Behinderungen, eine autofreie Stadt der kurzen Wege, nach dem Vorbild der 15-Minuten-Stadt, wie sie in Paris und Kopenhagen bereits in Teilen umgesetzt wurde, ein verbessertes Mobilitätssystem, das mehr Teilhabe für alle ermöglicht und die Erschließung des schlummernden Potentials altgedienter Infrastrukturen; eine Baupolitik, die Klimaneutralität, Mischnutzungen und Begegnungsorte in den Vordergrund stellt. All dies könnte die Chance bieten, gleichzeitig Einsamkeit effektiv zu bekämpfen, Lebensqualität und Gesundheit zu verbessern und das Klima zu schützen. Eine nachhaltige Einsamkeitspolitik könnte so ein integraler Bestandteil und Leitstern bei der Bewältigung der sozialökologischen Transformation werden.
Denn: ein starker und nachhaltiger gesellschaftlicher Zusammenhang ist kein Luxus, sondern notwendige Voraussetzung, um für künftige Krisen gewappnet zu sein. Die Einsamkeit der vielen Atomisierten ist schließlich auch Ausdruck einer Gesellschaft, die in Teilen verlernt hat, ihre inneren Bindungen zu stärken. Mitscherlichs Feststellung, man verstehe es nicht “zwischen schrankenlos zudringlicher Intimität und vollkommener Interessenlosigkeit aneinander die mittlere Distanz zu finden.”[23], wirkt auch vierzig Jahre, und eine Erfindung des Internets, später, nicht ganz falsch. Nur eine Gesellschaft aber, die lernt, wie nachhaltige und stabile Beziehungen geknüpft und erhalten werden können, kann kommenden Krisen widerstandsfähig begegnen und sich der größten Herausforderung unserer Zeit mit aller Kraft stellen: der Bekämpfung des Klimawandels.
Über Einsamkeit reden
Ein erster Schritt zur Entstigmatisierung kann sein, über Einsamkeit zu reden. Mit Freund*innen, in der Familie, mit Arbeitskolleg*innen oder sogar, wie Vivek Murthy vorschlägt, mit einer*m Fremde/n auf der Straße, im Supermarkt, im Kiez. So fürchterlich die Verheerungen der andauernden Pandemie sind; es muss gelingen, sie zumindest in Teilen auch als eine Chance dafür zu begreifen, jetzt die Grundsteine dafür zu legen, dass wir in Zukunft besser zusammenleben können.
[1]. https://www.npr.org/2020/04/20/838757183/a-social-prescription-why-human-connection-is-crucial-to-our-health?t=1640613369242
[2]. Plath, Sylvia – Die Glasglocke (OT: The Bell Jar), Frankfurt am Main, 2005.
[3]. Bachmann, Ingeborg – Die Glasglocke / Das Tremendum. In: Monika Albrecht, Dirk Göttsche: Über die Zeit schreiben. Literatur- und kulturwissenschafliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns, Würzburg 2000, S. 181–183.
[4]. Wallace, David Foster – Unendlicher Spaß (OT: Infinite Jest), Reinbek bei Hamburg, 2011.
[5]. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/die-zukunft-nach-corona-ein-essay-von-michel-houellebecq-16761890.html?premium
[6]. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/die-zukunft-nach-corona-ein-essay-von-michel-houellebecq-16761890.html?premium
[7]. www.303-film.de
[8]. https://apps.who.int/iris/rest/bitstreams/1358663/retrieve
[9]. https://yougov.de/opi/surveys/results/#/survey/3a7315c7-0c5b-11eb-930b-c139f49e66db/question/b23c0ff7-0c5b-11eb-9edb-d3ec696753f8/age
[10]. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0065260118300145?via%3Dihub
[11]. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25910392/
[12]. https://www.bundestag.de/resource/blob/833358/0924ddceb95ab55db40277813ac84d12/19-13-135b-data.pdf
[13]. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/173820/666c7db8a6a5f4f9211f4e55fd12df3f/einsamkeit-deutscher-alterssurvey-dzi-data.pdf
[14]. https://www.bundestag.de/resource/blob/833358/0924ddceb95ab55db40277813ac84d12/19-13-135b-data.pdf
[15]. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8015413/
[16]. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2752489/
[17]. https://www.bundestag.de/resource/blob/833358/0924ddceb95ab55db40277813ac84d12/19-13-135b-data.pdf
[18]. https://asia.nikkei.com/Spotlight/Coronavirus/Japan-appoints-minister-of-loneliness-to-help-people-home-alone
[19]. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/aeltere-menschen/aktiv-im-alter/einsamkeit-im-alter-135712
[20]. https://www.gov.uk/government/publications/loneliness-annual-report-the-second-year/loneliness-annual-report-january-2021#evidence
[21]. https://fondation-kiss.ch/
[22]. https://www.bundestag.de/resource/blob/833358/0924ddceb95ab55db40277813ac84d12/19-13-135b-data.pdf
[23]. Mitscherlich, Alexander – Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt am Main, 1999, S. 98.