vontilly 19.08.2024

Bewegungsfreiheit

Ein Blog über Grenzen, Meere und Mauern – sowie über Freiheit und Menschlichkeit und den Anspruch, niemanden zurückzulassen.

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„Die Geschichte von Bashir* und Fahim* wäre ein besserer Netflix Film als Die Schwimmerinnen geworden. Sie hat zwar kein Happy End, aber immerhin hätte man das Drama nicht erfinden müssen.“

Bashir erfuhr, dass sein Sohn tot war, als man ihn selbst dafür anklagte und einsperrte. Fahim wurde 6 Jahre alt. 

Vater und Sohn flohen gemeinsam aus Afghanistan. Im November 2020 setzten sie in einem Boot mit ca. 24 Menschen von der türkischen Küste nach Samos über. Das Boot rammte einen Felsen und kenterte. Die meisten schafften es an Land, doch einige blieben über mehrere Stunden im Wasser. 

Es war noch dunkel. Bashir konnte sich auf die Felsen der Küste retten, doch er fand seinen Sohn nicht wieder. Der Schiffbruch wurde noch in derselben Nacht gemeldet, doch die Rettung kam nicht. Sie kam viel zu lange nicht und als sie Fahim fanden, war er schon tot. 

Abgesehen von der Tragik dieses Falles, der sich einreiht in so viele tragische und vermeidbare Fälle von ertrunkenen Menschen in der Ägäis – warum ist die Geschichte von Bashir und Fahim so bedeutend? 

Bashir kam ins Gefängnis, weil er aus Fahrlässigkeit seinen eigenen Sohn umgebracht hätte, indem er ihn mit auf den Fluchtweg übers Mittelmeer nahm. Das bietet Stoff für mehrere hundert Seiten Aufarbeitung darüber, 

  • was das über unser Justizsystem und unsere Rechtsstaatlichkeit sagt
  • wie tote Geflüchtete schamlos instrumentalisiert und politisch ausgenutzt werden
  • mit was für einer Heuchelei und zweierlei Maß wir Recht walten und gelten lassen
  • nach welchen neokolonialen Vorstellungen wir die Welt um uns rum verstehen und leben

Das einzig Gute ist, bevor man sich durch diese Seiten wälzt und dabei den Glauben an die Menschheit vollständig verliert, gibt es da noch die Geschichte der Menschen, die damals wie heute den Gegenpol zu all diesen Punkten bilden.

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Menschen wie Dimitris, Mathilde, Joanna und Stefan. Anfang des Sommers durften wir das Team aus Anwält*innen und Aktivist*innen auf Samos kennenlernen. 

Dimitris ist Strafanwalt, kommt aus Samos und vertritt seit Jahren Geflüchtete vor Gericht, die nach ihrer Ankunft in Griechenland für “Schmuggel”, “Menschenhandel” oder andere angebliche Vergehen angeklagt und inhaftiert werden. 

Nach dem Schiffbruch im November 2020 war Dimitris der Anwalt von Bashir. Er bewies, dass es nicht Bashirs Schuld sein konnte, dass sein Sohn ertrank. Sondern, dass es stattdessen die Fahrlässigkeit der Küstenpolizei und der Rettung war.

Obwohl wir mit LeaveNoOneBehind seit 2020 in Griechenland aktiv sind, sind wir dieses Jahr das erste Mal auf Samos. Dimitris gibt sich die größte Mühe, uns in nicht mal drei vollen Tagen so viele Einblicke wie möglich zu geben. Er redet sehr viel, ist dabei die meiste Zeit ironisch und die Poprock-Playlist von 2012 in seinem Auto wird alle paar Minuten von bestimmt sehr wichtigen Anrufen unterbrochen.

An unserem letzten Abend auf der Insel treffen wir uns in einem Restaurant im Dorf, oder genauer gesagt in dem Restaurant, in dem man sich immer trifft, um abends weiter über die Arbeit zu sprechen. Am Nebentisch sitzt das gesamte Team von MSF (Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen). Es dauert etwa eine halbe Stunde, bis alle sich begrüßt haben.

Mathilde und Dimitris haben eine lustige Dynamik, finde ich. Er tut die ganze Zeit so, als wäre er total genervt von ihrem Eifer und ihrem Elan und ihrer Klugheit und rollt theatralisch mit den Augen. „She’s so annoying, right“, sagt er zu uns gewandt, aber man sieht ganz deutlich, wie sehr er sie schätzt und wie dankbar er ist, dass sie sich bewusst mit ihm ins selbe Boot setzt. Denn selbst Dimitris könnte nicht alleine gegen den Strom rudern und das weiß er selbst am besten. Er braucht Menschen, die den Schock über das, was vor aller Augen bereits auf dieser Insel passiert ist, teilen und damit auch seinen Ansporn, etwas daran zu ändern.

„Wir sind nicht immer gut miteinander ausgekommen“, erzählt uns Mathilde beim Abendessen. 

„Wie zum Beispiel damals, nach der Beerdigung des kleinen afghanischen Jungen. Weißt du noch, da habe ich mal 15 Tage lang nicht mit dir geredet. Weil du einen Witz gemacht hast. Ich war empört.“

„Aber der Witz war lustig! Was war er noch mal?“, Dimitris überlegt kurz. 

„Ah ja, als der Imam vorbetete und ‚Mohammad, Ahmed‘ und so weiter sang, habe ich gesagt, was soll das, wir sind auf einer Beerdigung und er liest nur eine Liste meiner Klienten vor!“

„Nein, den Witz meinte ich gar nicht, aber der ist ja auch furchtbar!“, entgegnet Mathilde, muss aber doch ein bisschen lachen.

„Ich meine hinterher, wo du mir gesagt hast, ich solle meine Emotionen lieber in Therapie behandeln.“

„Ah, ach, das weiß ich gar nicht mehr. Ich weiß eigentlich gar nichts mehr von dem Tag, alles verschwommen.“

Ich glaube, eigentlich erinnert sich Dimitris an jedes Detail dieses Tages.

„Naja jedenfalls habe ich wieder angefangen mit dir zu sprechen, als du begonnen hast, ein Buch über deine Erlebnisse zu schreiben und als du beim Lesen deiner eigenen Seiten weinen musstest. Da kam mein Respekt für dich zurück.“

„Wie gesagt, ich weiß überhaupt nichts mehr so genau, gar nichts mehr.“ Dimitris will jetzt sehr dringend das Thema wechseln. 

An unserem letzten Tag auf Samos fahren wir auf dem Weg zum Flughafen am Friedhof vorbei. Ähnlich wie auf Lesbos ist der „offizielle“ Friedhof der griechischen Gemeinde gesäumt von provisorischen Gräbern, die nur mit kleinen weißen Steinen und Nummern gekennzeichnet sind. Es gibt nur zwei Gräber von Geflüchteten, die einen richtigen Grabstein, einen Namen, ein Datum und ein Bild des Verstorbenen haben. 

„Ich habe Asylberatung gemacht vor einigen Jahren, bevor ich mit all dem anderen Zeug angefangen habe. Jeden Tag kamen so viele Leute zu mir und als dann dieser junge Mann aus Afrika vor mir stand und sagte, er hat Kopfschmerzen und dass er einen Arzt braucht, habe ich einfach genervt abgewunken und ihm gesagt, dass ich Anwalt bin, kein Arzt und dass er weggehen soll.“

Zwei Tage später kommt der Bruder dieses Mannes zu Dimitris in die Anwaltskanzlei, fragt ihn, ob sein Bruder hier gewesen sei, die letzten Tage. „Keine Ahnung“, erwidert ihm Dimitris.

„Doch, er war hier und hat nach einem Arzt gefragt wegen seiner Kopfschmerzen. Vorgestern ist er gestorben“, erzählt der Mann weiter und Dimitris fällt der etwa Anfang 30-Jährige wieder ein, der vor einigen Tagen in seiner Kanzlei stand.

„Und weil mir alles egal ist, war mir das natürlich auch egal, ihr kennt mich ja. Aber wie auch immer, deshalb haben wir die Organisation gegründet. Weil es meine Schuld war, dass er an diesem Tag gestorben ist. Ich habe mich nicht weiter für ihn interessiert, weil er kein Klient war. Also haben wir eine Unterstützungsstruktur aufgebaut für die tatsächliche Realität, die die Leute durchleben, wenn sie hier ankommen.“

Human Rights Legal Project ist die Organisation von Dimitris, Mathilde, Joanna, Stefan und weiteren Anwält*innen, Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen auf Samos. Sie vertreten Geflüchtete vor Gericht, wenn diese als „Schmuggler“ inhaftiert werden und absurde Haftstrafen aufgehalst bekommen. Sie klären Pushbacks auf und bringen Menschenrechtsverletzungen an die Öffentlichkeit. Kurz gesagt, sie verteidigen Menschenrechte, wo diese seit Jahren im Schatten der breiten Aufmerksamkeit mit Füßen getreten werden. 

Und so weit abgelegen und surreal ihr Einsatz auf dieser Insel im Mittelmeer für uns hier in Deutschland scheint – sie sind ein tragender Baustein in der Brandmauer: in der Verteidigung unserer Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Grundrechte und Anerkennung der allgemeinen Menschenwürde.

 

*Namen geändert.

 

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