Die Welle der japanischen Comics hat mich nie erreicht. Eigentlich gar keine Comics. Weder Pokémon (auch nicht der Hype über die Go-Variante) oder Dragon Ball konnte mich überzeugen. Die Szene, in der sogenannte Cosplayer*innen sich als bunte Figuren verkleiden oder spezielle Manga-Clubs gründen, empfand ich als absurd.
Ich finde, dass dieses exzessive Fanverhalten extrem ausgrenzend wirkt – heute will ich mal dazugehören. Auf dem Weg zur Messe steigt ein junges Mädchen als Vogelhäuschen verkleidet ein – Kollegin S. und ich sind plötzlich hellwach und begeistert. Ich suche mir jetzt Manga-Freund*innen. Clever me suche ich mir nicht nur Freunde, sondern eine ganze Mangafamilie. Angereist aus Halle ist die Leipziger Buchmesse für sie ein Pflichttermin. Die drei Töchter sind seit Jahren große Fans, mittlerweile haben sie sogar ihre Mutter überzeugt. Alle vier Tage treiben sie sich in Halle 1 herum, vollkommen im Rausch.
Also ziehe ich jetzt mit der Königin Mutter aus dem Orient, ihrer gelben Manga-Oktoberfest-Tochter, Krakendame Ursula aus Ariel und Undertacker aus „Black Butler“ umher (scheinbar eine lohnenswerte Mangaserie für alle Sherlock Holmes Fans).
Mit Eintritt in die Halle bin ich nun die Außenseiterin. Passenderweise trage ich heute nur schwarz und falle sofort auf. Hier tummeln sich Jugendliche bis Enddreißiger in beeindruckenden, meist selbst geschneiderten Kostümen. „ Unsere Planung geht meist im September los, wir nähen ja schließlich alles selbst. Außerdem muss man ja dafür sparen, schließlich gebe ich so an die 2.000 Euro für meine Kostüme aus“, erklärt mir die Krakendame. Ich bin fasziniert.
Wir schieben uns durch die Verkaufsmeile: bonbonfarbene Perücken, handgefertigte Puppen und Comicfiguren findet man an jeder Ecke. Hauptsache knallbunt und plüschig muss es sein. Ein Merchandise-Stand von mir unbekannten japanischen Bands reiht sich an den nächsten. Shopping scheint hier neben dem Posieren für Fotos die wichtigste Aufgabe zu sein: Wir schaffen keine zwanzig Meter, ohne von anderen Verkleideten um ein Foto gebeten zu werden. Ich werde natürlich nicht fotografiert, aber mein Outfit eignet sich perfekt dafür, um den Auslöser zu drücken.
Auf der Toilette treffe ich auf einen Elfenkrieger in Begleitung eines Knuddelmonsters, die gerade einem Piraten die Haare flechten. Aus der Kabine neben ihnen kommt ein regenbogenfarbenes Einhorn heraus und bevor ich kapiere, was passiert, schreit es mir „Hugs!“ entgegen und umschlingt meinen Hals. Die körperliche Nähe mit verschwitzten Einhörnern lässt mich erschaudern.
Ich hasse diesen Einhorntrend. Und diese „Free Hugs“-Sache bringt auch keine Weltfrieden.
Freitagabend auf dem Weg ins Hotel diskutierten zwei Redakteure der Süddeutschen Zeitungen über den pädophilen Ruf der Mangaszene. Zwischen all den üppigen Dekolletés und den dazugehörigen kindlichen Gesichtern kann ich ihre Argumente plötzlich verstehen. „Ach, sexy funktioniert immer auf Fotos“, meint die Königin aus dem Orient.
In einem Abschnitt der Messe geht es tatsächlich nur um Manga in seiner reinsten Form. Hier stellen Künstler*innen ihre Werke aus. Wenn ihre Hände über das Papier fliegen und sie mit dünnen Strichen innerhalb von Sekunden neue Charaktere skizzieren, spüre ich zum ersten Mal einen Anflug von Faszination.
Zwischen all dem Bunten finden sich auch hier die Stereotypen aus meiner Schulzeit wieder: die Kartentauschenden Nerds. In Jeans und bedruckten T-Shirts bekleidet stellen sie sich in langen Schlangen an, um ihre Karten zu tauschen und gegeneinander zu spielen. Ein Typ am Ende der Schlange zeigt mir seine große Sammlung. Etwas ungeduldig versucht er mir die Regeln zu erklären. Ich war allerdings schon damals davon gelangweilt und habe dem Diddl-Trend nur aus Gruppenzwang ein paar Wochen mitgemacht. Entnervt gibt mein Gegenüber auf.
So sehr ich versucht habe, alles zu verstehen, die Begeisterung zu teilen und mich auch mal auf ein Foto zu schleichen, bleibe ich hier eine Außenseiterin. Hier gibt es eben nicht Manga in Häppchen, sondern gleich die volle Überdosis. Als ich nach einer Stunde die Halle verlasse, muss ich meiner Kollegin N. recht geben: Alle in dieser Halle erinnern mich an Menschen, die dem eigenen Leben entfliehen wolle. Dort angekommen, wollen sie aber auch unter sich bleiben.
Ach. Endlich mal wieder ein Beitrag, in dem ein selbsterklärter Normalmensch sich in die Gesellschaft „komischer Gestalten“ wagt. Es verwundert mich, wie diese Art uninformierter, ignoranter und herablassender Berichterstattung jedes Jahr aufs Neue ihren Weg in große Tageszeitungen findet. Dass sich diesmal ausgerechnet die taz dazu entblödet, macht mich traurig. Da wird auf der einen Seite Toleranz mit Mitmenschen gefordert und auf der anderen werden hier solche Beiträge publiziert, in denen Menschen pauschal in Schubladen gepackt und Stereotype befördert werden. Hier wurde nicht einmal der Versuch unternommen, sich wirklich zu informieren – sei es vorab oder im Nachhinein. Die Bemühungen der Messebesucher*innen, die recherchefaule Bloggerin ein wenig in ihr Hobby einzuweihen, wurden offenkundig von dieser selbst abgelehnt. Dass sie sich zu Beginn des Beitrags beschwert, sich ausgegrenzt zu fühlen, wirkt vor diesem Hintergrund albern. Tatsächlich ist sie es, die ausgrenzt, indem sie sich das Recht herausnimmt, Normalität zu definieren und alle, die ihr nicht passen, davon auszunehmen. Den kreativen, begeisterungsfähigen und offenherzigen Menschen in Halle 1 Realitätsflucht vorzuwerfen, ist eine Frechheit. Wie jedes andere Hobby auch, erweitern und verschönern die hier angesprochenen Hobbies die eigene Realität und sind Teil davon. Dass Frau Rivuzumwami das nicht sehen kann/will, spricht wohl eher für die engen Grenzen ihrer eigenen Wahrnehmung.