„Wie kommt man aus dynamischem Kapitalismus in eine ökologische Kreislaufwirtschaft, ohne eine Wirtschaftskrise auszulösen?“ Ulrike Hermann stimmt uns am Samstagmorgen aufs Ende des Kapitalismus ein, die Stimmung ist ausgelassen. Auch wegen der vielen Scherzchen von Kabarettist Jürgen Becker, etwa über irgendeinen Tycoon, der angibt, hobbymäßig am liebsten Holz zu hacken: „Was nützen den Reichen ihre Milliarden, wenn sie nicht ständig zeigen können, dass sie sie nicht brauchen?“
„Er war lustig, aber ich weiß jetzt gar nicht, was in seinem Buch steht.“, sagt mir später jemand aus dem Publikum.
Die Menschen richten unterdessen auf dem Messegelände ein absolutes Mobilitätschaos an. Sie sitzen über Meter hinweg auf dem Boden, mitten auf der Kreuzung von Gängen, Kinder essen gemütlich ein Pausenbrot am Fuß einer Treppe. Sie bilden eine Schlange, um sich Bücher signieren zu lassen.
„Wir stehen hier für“, und dann geschieht etwas in ihrem Gesicht, es ist FANDOM, das süße Gefühl der verehrenden Verbundenheit: „Adam Silvera an!“ Der New Yorker Silvera schreibt, ich lasse es mir erklären, queere Jugendbücher und die beiden jungen Leser*innen lieben seine Bücher dafür, sich voll einfühlen zu können, weil sie ihrer eigenen Wahrnehmung der Welt so nah sind.
Wo ich gerade schon so in touch mit der Jugend bin, gehe ich zu den Cosplayer*innen rüber. Angesichts der selbstgebastelten Kostüme möchte ich die kids immer gleich als alright postulieren, der ganze handarbeitliche Teil dieser Szene wird (von außen) so gern übersehen. Die können nähen, versteht ihr? Und jetzt nicht so mit Schnittmuster aus der Burda, sondern teilweise sogar selbst die Architektur eines hochkomplexen Kleidungsstücks planen, also genau das, was Rick Owens früher beruflich gemacht hat. Die jungen Kostümbildner*innen sind übrigens nicht unbedingt der Bücher wegen hier, sondern: „weil wir wissen, dass andere Cosplayer hier sind. Man kann leicht Leute kennenlernen.“ Der Bereich mit Cosplay-Merchandising Artikeln und Mangas fehlt nämlich dieses Jahr, wohl wegen Umbauarbeiten an Halle 1.
Cosplay endet nicht bei der Kleidung oder dem Make-Up
Eine Elfe posiert vor Halle 4. Ich frage, ob ich sie und den Highschool-Boy (? Ich kenne mich nicht aus!) auch fotografieren darf. Sie sagen ja. Und: „Viele Fragen gar nicht, das nervt, die halten einfach drauf.“ Vom Awareness-Team haben sie noch nicht gewusst, aber das finden sie gut, es kommt wohl häufiger zu unangenehmen Sprüchen. Vielleicht gehen sie hin.
Ich lerne, dass Cosplay nicht bei der Kleidung oder dem Make-Up endet: Auch Körperhaltung und Gesten der reinszenierten Figur werden einstudiert. Ausserdem komplettieren Props, etwa Waffen oder Zauberwerkzeuge, die Figuren.
Das Highlight der Cosplayer*innen kommt am Sonntag: Die Deutsche Cosplaymeisterschaft. Die qualifizierten Finalist*innen müssen ihre Looks vollständig von Hand genäht, gegossen, geformt, besprüht, geflochten und gefärbt haben. In der Szene gilt es aber sonst nicht als Schande, ein gekauftes Kostüm zu tragen. Schließlich habe nicht jede*r das handwerkliche Geschick oder die Zeit für eine aufwendige Inszenierung. Auch sonst handle es sich um eine inklusive Szene. Es sei denn..
Theoretisch steht das Finale allen Interessierten offen, aber RTL darf nicht rein: Hausverbot! Ein junger Mann erklärt mir, dass das in Deutschland bei fast allen Cosplay-Veranstaltungen und auf auch der weltgrößten Messe für Computer- und Videospiele GamesCom so sei. Warum? RTL habe die Cosplay-Gemeinde wiederholt als weltfremde Spinner dargestellt, die den Bezug zur Realität verloren hätten.
Fandom für euch
Mein Interesse am DIY-Gedanken freut meinen Gesprächspartner offensichtlich. Er zeigt mir das Foto eines Kostüms, das in über 600 Arbeitsstunden entstanden ist und erklärt mir werkstoffkindliche Details, die ich mir leider nicht werde merken können.
Am Samstagabend höre ich endlich Kim de l’Horizon aus Blutbuch vorlesen – trotz Kims Ehrenrunde durch über alle Buchmessebühnen kam ich irgendweshalb vorher nicht dazu. Die Lesung findet im Rahmen des Göttinger Literaturherbsts statt und ich verfolge sie von meinem Hotelzimmer in Frankfurt Sachsenhausen aus im Livestream. Das erzähle ich jetzt nicht der Vollständigkeit halber, sondern weil ich euch höflich auffordere, die Freuden der Gegenwart anzunehmen und demgemäß den YouTube Kanal der taz zu abonnieren. Nicht nur das Buchmesseprogramm (z.B. die Veranstaltung mit Ulrike Hermann und Jürgen Becker) bleibt dort weiter abrufbar, nein! Es kommt ständig Neues hinzu und vielleicht wär das langfristig ein Fandom für euch.
Am Samstag erhielt die Autorin Kirsten Boie den Jugendliteraturpreis für „Dunkelnacht“, das auch in der Kategorie Publikumspreis nominiert war. Das Buch behandelt deutsche NS-Geschichte, genau wie Bianca Schaalburgs „Der Duft der Kiefern“, das in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet wurde.
Ausserdem wurden u.a. Hans Ticha (Sonderpreis Illustration, Lebenswerk) geehrt. Sein Schaffen beschrieb die taz vor rund zwei Jahren so: „Als Brotberuf wählte er die Buchgrafik. So war er nicht abhängig vom staatlichen Auftragswesen für Maler. Die Bilder, mit denen er die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität im Arbeiter- und Bauernstaat auf den Punkt brachte, konnte er offiziell nicht zeigen. Er versteckte sie in seiner Wohnung in der Rykestraße.“