vonchina-watch 19.02.2024

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Seit 2020, mit Pekings Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes in Hong Kong, wurde die 2019 aufgetretene demokratische Bewegung unterdrückt. Eine einst pulsierende Zivilgesellschaft und ihre sozialen Bewegungen wurden zum Schweigen gebracht. Auch die plötzlich entstandene ”Leeres-Blatt-Papier Bewegung” war Ende 2022 in China schnell wieder ausgelöscht, nachdem die Behörden von ihrer Null-Covid wieder abgegangen waren. Obwohl sich die chinesischen Auslandsstudierenden immer noch auf das Erbe dieser Bewegung bezogen, ist auch diese seitdem stark zurückgegangen.

Der chinesische Parteistaat scheint stärker zu sein als je zuvor. Für die demokratischen Aktivisten aus Hong Kong und Festlandchina scheint es kein Licht am Ende des Tunnels zu geben. Dies führt uns zurück zu dem alten Diskussionsthema von der ”Hartnäckigkeit des chinesischen Autoritarismus”. Nach dem Fall der Berliner Mauer und in dem folgenden Jahrzehnt bestand die Hoffnung, dass auch für das chinesische Regime die Stunde schlagen würde. Was aber seitdem folgte, war das Gegenteil – das Regime stabilisierte sich und China macht seitdem einen rasanten Aufstieg zum Großmachtstatus. Diese Entwicklung hat Wissenschaftler wie Andrew Nathan zu der Einschätzung veranlasst, dass der chinesische Autoritarismus eine hartnäckige und sich ständig verfestigende Institution sei. Andere Wissenschaftler sind indessen entweder pessimistischer hinsichtlich der Fähigkeit der Staatspartei, ihre Vorherrschaft auf eher gesetzlichem Wege zu festigen oder auch optimistischer, was Chinas demokratische Transformation betrifft. Dieser kurze Artikel soll auf die Debatte über die Modernisierungstheorie auf dem Hintergrund der laufenden Ereignisse eingehen.

Die Debatte zwischen Nathan und Fewsmith

Im Jahr 2003 schrieb Andrew Nathan in seiner Dissertation über die Beständigkeit der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), dass die Institutionalisierungsbemühungen der Partei zu einer ständigen Verbesserung der Staatsverwaltung führen würden (1). Fünfzehn Jahre später veröffentlichte das Journal of Contemporary China Joseph Fewsmiths Kritik an Nathan und dessen Reaktion. Die Kurzfassung von Fewsmiths Artikel stellte Nathans These wie folgt dar: Der Parteigeist der Vergangenheit schwächte sich angesichts zunehmender Professionalität und funktionaler Spezialisierung ab. Die politische Nachfolge war zunehmend an weithin akzeptierte Normen gebunden und das Regime, obwohl immer noch autoritär, profitierte von Feedback-Mechanismen, die ein gewisses Maß an politischer Beteiligung ermöglichten und Informationen zu strittigen Themen lieferten. Kurz gesagt: es wurden Institutionen geschaffen, die das Regime stärkten und langlebiger machten (2).

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Im Gegensatz dazu vertrat Fewsmith die Ansicht, dass die Institutionalisierungsthese die Entwicklung ”erheblich überbewertete”, weil die KPCh als ”mobilisierende Partei sich stark von einer legalistisch und rational handelnden Bürokratie unterscheidet” und „Bemühungen, das System zu institutionalisieren, zu Störungen und Konflikten führen, wohingegen weitere Bemühungen zur Rezentralisierung der Macht zu einer Machtkonzentration führen, die zukünftige Übergänge unweigerlich erschweren“ und „Fragen über Chinas Beziehungen zur Außenwelt aufwerfen.“

Während Nathan betonte, dass sowohl Fewsmith als auch er selbst keine Beweise dafür sahen, ”dass das System in unmittelbarer Gefahr ist”, implizierte Fewsmiths Argumentation, dass er über einen längeren Zeitraum hinweg weniger Vertrauen als Nathan in die Bemühungen des Regimes hatte, sich durch weitere Institutionalisierungsmaßnahmen zu konsolidieren.

Modernisierungsoptimismus

Unterdessen prognostizierten die beiden Wissenschaftler Yu Liu und Dingding Chen in ihrer Arbeit aus dem Jahr 2012 in Anlehnung an die Modernisierungstheorie, dass ”China etwa im Jahr 2020 mit der Demokratisierung beginnen wird”. Die Modernisierungstheorie geht davon aus, dass Modernisierung die Entwicklung einer Mittelklasse fördert, die gesellschaftlicher Träger demokratischer Werte ist, der sowohl die Fähigkeit als auch das Bestreben innewohnt, Demokratie zu verwirklichen. Liu und Chen folgen den Spuren der von Seymour Lipset vorgeschlagenen Modernisierungstheorie und argumentieren, dass wirtschaftliche Entwicklung, kultureller Wandel, politische Führungstrends und das globale Umfeld die vier Faktoren sind, die hinter dem wachsenden Streben nach Demokratie stehen. Die wirtschaftliche Entwicklung weckt in der Regel die Erwartungen verschiedener Gesellschaftsschichten, insbesondere der Mittelklasse. Obwohl China ein ”kulturelles Defizit in Demokratie” habe, dürfe man, so argumentieren die beiden Autoren, die Frage des kulturellen Wandels, den Modernisierung oft befördere, nicht aus den Augen verlieren. Zum einen hätten bereits einige der Parteieliten ihre Unterstützung für eine Art liberale Demokratie zum Ausdruck gebracht, zum andern fördere die Globalisierung (die China mit seinem Beitritt zur WTO im Jahre 2001 begrüßte) ebenfalls diesen Trend (3).

Die KPCh begann die 2020er Jahre nicht als ein Land im Übergang zu Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie sondern als das genaue Gegenteil. Xi Jinping mag zunächst vielleicht als ”schwacher Führer” gegolten haben, doch er entwickelte sich bald zur mächtigsten Führungskraft seit Deng Xiaoping. Die Thesen von Liu und Chen könnten sich als zu optimistisch erwiesen haben. Nathans Artikel aus dem Jahr 2003 prognostizierte die Widerstandsfähigkeit der KP Chinas realistischer , aber auch seine Vorhersage, dass die Partei in eine stärker regelbasierte Phase übergehen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Weder steht das Regime kurz vor dem Sturz noch entwickelt es sich in Richtung Rechtsstaatlichkeit.

Ich bin der Meinung, dass Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung eng mit dem Demokratiebewußtsein verbunden sind. Obwohl Urbanisierung, Industrialisierung, höhere Bildung und die Kommunikationsrevolution keine hinreichenden Bedingungen für Demokratisierung sind, sind sie doch zumindest Teil ihrer notwendigen Bedingungen. Während organisierte soziale Bewegungen in den letzten vierzig Jahren keine Chance hatten, sich zu entfalten, kam es zu einem Anstieg verschiedener Arten sozialer Aktionen, die jeweils ihre eigene Art von Bürgerrechten einforderten. Weiquan (维权) oder Rechtsschutz ist zu einer der Säulen des demokratischen Bewußtseins geworden, das vielen bürgerschaftlichen Aktionen und Protesten zugrunde liegt. Die Metoo-Bewegung in China ist nur eines der jüngsten Beispiele dafür, wie Weiquan begonnen hat, in der Gesellschaft Fuß zu fassen, und hier sprechen wir über eine potentielle Wählerschaft, die die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Im Lauf der Zeit fördert die Modernisierung den kulturellen Wandel und dieser bringt wiederum neue Werte mit sich, die die Wirkung traditioneller Werte wie des Patriarchats allmählich neutralisieren können. Es bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit die beschleunigte Modernisierung der letzten vier Jahrzehnte eng mit dem Aufstieg der Weiquan-Idee zusammenhängt. Möglicherweise besteht zwischen beiden kein direkter Kausalzusammenhang. Sollte dies aber der Fall sein, so wäre die Modernisierungstheorie für die Langzeitanalyse nützlicher als, sagen wir, vorherzusagen, wie sich die Dinge in einem kurzen Zeitraum von 5 oder 10 Jahre entwickeln, wie es Liu und Chen versucht haben.

Die Modernisierungstheorie scheint für Taiwan zuzutreffen, aber im Fall Hong Kongs kann die Theorie bestenfalls einige Aspekte ihres Erfolgs oder Misserfolgs bei der demokratischen Transformation erklären. Was Festlandchina betrifft, schrieb der britische Wissenschaftler Andreas Fulda in seinem Buch ”The Struggle for Democracy in Mainland China, Taiwan and Hong Kong”, dass China ein Fall von ”Modernisierung ohne Demokratie” sei, weil seine aufstrebende Mittelschicht ”die Rolle nicht gespielt hat, die ihr von der Modernisierungstheorie zugeschrieben wurde”. Er meinte auch, dass die Definition der Mittelklasse etwas willkürlich sei (4). Fairerweise muß man sagen, dass, wenn dies zutrifft, wie es zu sein scheint, man sinnvollerweise hinzufügen sollte, dass die Prophezeiung, wie sie Autoren von Marx bis Rüschemeyer und Stephens (5) vertraten, dass nämlich die Arbeiterklasse zur führenden Kraft einer radikalen demokratischen Transformation wird, auch in China noch nicht eingetroffen ist. Seit über 70 Jahren ist es allen sozialen Klassen und Schichten nicht gelungen, eine wirksame und nachhaltige Bewegung zu organisieren, um Staatsmacht von der KPCh zurückzugewinnen. Wir können jetzt nicht weiter auf dieses Thema eingehen. Es genügt zu sagen, dass die oben genannten Theorien über die sozialen Träger der Demokratisierung bestenfalls die potentielle Fähigkeit der diskutierten Klasse oder Klassen herausarbeiten können. Anders verhält es sich, wenn es um ein bestimmtes Land geht, da alle sozialen Gruppen auch in Beziehungsgeflechte eingebettet sind, die durch die besondere historische Entwicklung dieses Landes definiert sind und die wiederum entweder günstig oder ungünstig für diese Akteure bei der vollen Verwirklichung ihres Potentials für das Land sind.

Parteistaat und Bürokratie

Sowohl die These des resilienten Autoritarismus als auch die Modernisierungstheorie haben ihre Berechtigung, solange wir sie in eine breitere Perspektive stellen. Anstatt die institutionelle Stärke des Parteistaats isoliert zu untersuchen, müssen wir auch einen geschichtsbezogenen Ansatz wählen, um das Gesamtbild zu verstehen. Die institutionelle Stärke des Parteistaats kann nicht von den materiellen Interessen der Bürokratie getrennt werden. Sowohl Struktur und Handeln und wie beide interagieren, müssen untersucht werden. Der autoritäre, institutionelle Aspekt des Parteistaats sollte in Bezug auf den Träger dieser Institution untersucht werden – auf den existierenden und handelnden Menschen, der als ”Bürokrat” bekannt ist. Wenn sich der Parteistaat einer rechtsstaatlichen Verwaltung institutionell widersetzt, dann deshalb, weil diese seine Machtposition und damit auch seine materiellen Interessen schwächen würde. Der Staatskapitalismus ermöglicht es ihm, sowohl wirtschaftliche als auch politische Macht zu besitzen. Ersteres verschafft ihm Zugang zu Reichtum, während sein ”graues” Einkommen ihn vor der Rechenschaftspflicht schützt. Der Zusammenhang zwischen dem Genuss immenser Macht und dem Besitz großen Reichtums schafft den Anreiz, weiterhin an seiner alten Willkürherrschaft festzuhalten, und anstatt die Willkürherrschaft einzuschränken, tendiert die Bürokratie dazu, den staatlichen Zwang kontinuierlich zu perfektionieren, um die Partei immer weiter von der Rechenschaftspflicht gegenüber dem Volk zu entfernen. Selbst wenn es innerhalb der Bürokratie abweichende Ansichten gibt (wie Liu dargelegt hat) oder Menschen, die weniger von materiellen Interessen angezogen werden, schwimmen sie gegen eine starke Strömung.

Aber die Partei übt ihre Macht nicht im luftleeren Raum aus, sondern auch im Verhältnis zum Volk. Die Stärke der ersteren hängt auch davon ab, wie sehr das Volk ihren Autoritarismus akzeptiert oder erträgt. Anscheinend haben chinesische Internetnutzer heutzutage ein so geringes Selbstwertgefühl, dass sie sich zynisch ”Schnittlauch” nennen und nur darauf warten, von denen geerntet zu werden, die Macht über sie haben. Aber ich nehme an, dass es immer einen Punkt gibt, ab dem eine beträchtliche Anzahl von Menschen es nicht mehr erträgt und anfängt Widerstand zu leisten, wie es Ende 2022 der Fall war. Die Leeres-Blatt-Papier Bewegung schien den Ausbruch eines Konflikts zwischen zwei Logiken zu veranschaulichen – die kontinuierliche Perfektionierung staatlichen Zwangs durch die Partei stiess mit dem Limit dessen zusammen, was Menschen an Not ertragen. Aber diese angeborene Tendenz, der Peitsche Vorrang vor der Karotte zu geben, könnte bald auf eine noch größere Herausforderung stoßen, da nun Peking seit 2021 mit dem Platzen der Immobilienmarktblase konfrontiert ist. So schrieb kürzlich Gillian Tett, Autorin eines Buches über Japans Billionendollarkrise: Wenn China vermeiden will, dass es zu einer Wiederholung des Versagens der Japaner wie in den 90er Jahren kommt und eine platzende Immobilienblase eine langfristige Stagnation auslöst, so muß es sich entscheiden, entweder Transparenz über uneinbringliche Schulden zu schaffen und ”Mindestpreise” für diese Schulden festzusetzen, um den Markt wiederzubeleben, oder kontinuierlich an der Ideologie der Parteiherrschaft festzuhalten (6). Aber Transparenz ist das letzte, was die Partei will. Pekings Vorgehen in den letzten drei Jahren um die Marktkrise zu bewältigen scheint darauf hinzudeuten, dass es immer noch der Perfektionierung staatlichen Zwangs Vorrang vor Transparenz einräumt (7).

Was für unsere Diskussion allerdings noch wichtiger sein mag, ist, dass diese Grenze der Geduld im Lauf der Zeit sich immer mehr verschiebt und im Verlauf der Modernisierung ihren Rhythmus ändern kann. Während des Großen Sprungs nach vorn, als China noch sehr arm war, gab es spontanen Widerstand gegen die exzessive Getreideabschöpfung in den Provinzen, wobei die Zensur allerdings verhinderte, dass es landesweit bekannt wurde. Im Unterschied dazu wurde der Brand von Urumqi über die sozialen Medien schnell bekannt und die Proteste griffen auf über 20 Städte und 200 Universitäten über und wurde zu einem landesweiten Thema. Alles in allem – so wie von Liu und Chen erwähnt – hat sich das Bewußtsein von Menschen- und Bürgerrechten im chinesischen Volk während der letzten vier Jahrzehnte erhöht.

Auch wenn die Aussichten für eine demokratische Transformation derzeit nicht gut stehen, so haben die Kräfte der Modernisierung auf längere Sicht vielen Chinesen die Augen geöffnet und dies wird so weitergehen, wie die Partei die Modernisierung weiter treibt (wenngleich diese mit den ”chinesischen Charakteristiken” geschmückt wird). Der chinesische Autoritarismus ist zunehmend gefangen von dem, was das Modernisierungsprojekt selbst schafft. Nicht nur der chinesische Autoritarismus ist hartnäckig, sondern auch das Anwachsen eines demokratischen Bewußtseins.

Anmerkungen:
(1) China Changing of the Guard: Authoritarian Resilience, in Journal of Democracy  Vol. 14,  2003  Issue 1
(2) Authoritarian Resilience Revisited, in Journal of Contemporary China Vol. 28, 2019 Issue 116
(3) Why China will Democratise? in The Washington Quarterly, Vol. 35, 2021 Issue 1
(4) The Struggle for Democracy in Mainland China, Taiwan and Hong Kong, 2020, Routledge, New York, S. 23
(5) Karl Marx, Kommunistisches Manifest; Dietrich Rüschemeyer, Evelyne Huber. Stephens & John D. Stephens, Capitalist Development & Democracy, Polity Press, 1992
(6) vgl. Gillian Tett, China needs to learn lessons from 1990s Japan, in Financial Times 1.2.2024
(7) z.B. verbietet Peking Nettoverkäufe von Aktien an bestimmten Tagen vgl. Beijing tells some investors to sell as Chinese stock rout resumes. in Financial Times 16.1.2024

Übersetzung von H. Dierkes

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