vonchina-watch 05.10.2021

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Am 3. Oktober hatte die HKCTU (Hong Kong Confederation of Trade Unions) ihren Kongress abgehalten und für ihre Auflösung gestimmt. Sie war das jüngste Opfer des Nationalen Sicherheitsgesetzes (NSL), das Peking seit Juli letzten Jahres gegen Hongkong verhängt hat. Seither wurden insgesamt 153 Personen auf der Grundlage dieses Gesetzes strafrechtlich verfolgt. An der Spitze der Liste steht der Medienmagnat und Chef der Apple Daily, Jimmy Lai, aber ihm folgen auch Oppositionsführer, Reporter und eine ganze Reihe von einfachen Menschen. Insgesamt 49 Organisationen haben sich angesichts von Drohungen oder möglichen Repressionen dafür entschieden, sich aufzulösen. Zählt man die Demosisto von Joshua Wong hinzu, die sich am Vorabend der Inkraftsetzung des NSL auflöste, kommt man auf insgesamt 50. Dazu gehören die politische Opposition, große und kleine Gewerkschaften, Studentenorganisationen, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und ihnen angeschlossene Organisationen sowie Medienorganisationen. Das jüngste Opfer war die Hongkonger Allianz zur Unterstützung der Patriotischen Demokratischen Bewegungen Chinas, die von Peking wegen der kontinuierlichen Unterstützung der demokratischen Bewegung auf dem Festland durch die Bevölkerung Hongkongs am meisten gehasst wird. Mehr als drei Jahrzehnte lang hatte sie in der Stadt eine Gedenkveranstaltung zum Vierten Juni abgehalten und war damit der einzige Ort in China, an dem man der tragischen Niederschlagung gedenken konnte, bis sie letztes Jahr verboten wurde. Daraufhin wurde die Allianz von den Behörden schikaniert, bevor sie am Montag, dem 25. September, gezwungen wurde, sich aufzulösen.

Es sind nicht nur die Opposition und die Aktivisten, die ins Visier genommen wurden. Wir müssen eines klarstellen: Peking ist kein normales autoritäres Regime, sondern eher ein Orwellscher Staat, und sein gegenwärtiges Vorgehen bedeutet eine große Säuberungsaktion zur Zerschlagung der Zivilgesellschaft, einschließlich der Meinungsfreiheit, ziviler Vereinigungen wie Gewerkschaften und Studentenvereinigungen, und auch eine kulturelle Säuberung mit dem Ziel, das Denken und die Seele der Menschen zu kontrollieren. Die Einheimischen verwenden den Begriff Festlandisierung Hongkongs. Damit meinen sie, dass Hongkong trotz des rhetorischen Bekenntnisses Pekings zum Status „Ein Land – zwei Systeme für Hongkong schnell zu einer regulären chinesischen Stadt wird. Von nun an sollen die Menschen in Hongkong als „gleich“ mit den Menschen auf dem Festland behandelt werden – gleich behandelt als bloße Untertanen ohne Rechte, außer dem Recht, von einer allmächtigen und allgegenwärtigen Parteibürokratie regiert zu werden. Kein Wunder, dass die Regierung von Hongkong, nachdem sie den Beamten einen Treueeid abverlangt hat, nun versucht, auch die Lehrer dazu zu bringen, dasselbe zu tun. Hinzu kommt die seit langem betriebene Politik, Kantonesisch als Unterrichtssprache für das Fach Chinesische Sprache durch Mandarin zu ersetzen. Dies ist Teil von Pekings großem Plan des kulturellen Völkermords an Hongkong als kantonesische Stadt und als Ort mit einem pulsierenden kulturellen Leben. Der Kultursektor, der früher die Freiheit hatte, etwas zu schaffen, ist nun plötzlich der Zensur und Schikanen ausgeliefert, die so weit gehen, dass selbst das Ansehen von Dokumentarfilmen über die Revolte von 2019 in den Gemeinden als strafbare Handlung gilt.

Unter dem vernichtenden Schlag des Orwellschen Staates haben sich die Opposition und die Zivilgesellschaft zwangsläufig in eine defensive Position begeben, um weitere Verluste zu minimieren. Es ist eine Zeit des taktischen Rückzugs. Manchmal muss man sogar die Springer opfern, um die Dame zu retten. Das Problem ist jedoch, ob es sich um einen geordneten Rückzug handelt oder um einen chaotischen, der von Panik beherrscht wird und zur vollständigen Vernichtung der eigenen Kräfte führt. Jüngste Ereignisse lassen zunehmend befürchten, dass es in diese Richtung gehen könnte. Die gegenwärtige Unterdrückung hat jedoch auch diejenigen auf die Probe gestellt, die noch den Willen zum Widerstand haben, auch wenn dieser eher symbolischer und moralischer Natur ist. 

Die Auflösung der HKPTU (Hong Kong Professional Teachers‘ Union) – der größten Gewerkschaft in Hongkong – ist ein besonders enttäuschendes Beispiel für einen Rückzug. Technisch gesehen wurde der Antrag auf Auflösung zwar durch eine demokratische Abstimmung der Delegierten der Mitglieder beschlossen. Zuvor hatte die Führung jedoch bereits beschlossen, dass die Gewerkschaft angesichts der verbalen Drohungen von „Mittelsleuten“ im Namen Pekings aufgelöst werden würde und sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, änderte die Führung die Satzung der Gewerkschaft dahingehend, dass für die Auflösung nicht mehr eine Zweidrittelmehrheit aller Mitglieder erforderlich war, sondern nur noch eine Delegiertenversammlung. Anstatt fast hunderttausend Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, über den Antrag der Gewerkschaftsführung abzustimmen oder der Versammlung beizuwohnen, wenn sie dies wünschten, stimmten am Ende nur 140 Delegierte ab: 132 stimmten dafür, 6 dagegen und 2 enthielten sich der Stimme. Obwohl es sechs Gegenstimmen zu dem Antrag gab (und keine sichtbare Opposition in der Führung), hatten die Oppositionellen keine Gelegenheit, sich öffentlich zu äußern.

Es ist anzunehmen, dass der Antrag der Führung auch dann angenommen worden wäre, wenn die Führung die Satzung vorher nicht geändert hätte und alle Mitglieder weiterhin hätten abstimmen dürfen. Sowohl die Mitglieder als auch die Führung waren nicht mehr die Art von Gewerkschaftern, die die Gewerkschaft 1973 nach einem erfolgreichen Streik gegründet hatten. Auf meine Frage an ein Gewerkschaftsmitglied, warum sich die Führung so sehr um die Abstimmung bemüht hatte, antwortete er: „Sie wollte sicher sein, dass der Antrag angenommen wird“.

Das Hauptargument der Gewerkschaftsführung für die überstürzte und manipulierte Auflösung der Gewerkschaft war das Argument „Auflösung im Tausch gegen Nachsicht“. Ironischerweise machten die Parteimedien, als die Führung ihre Entscheidung bekannt gab, sofort klar, dass Peking auch im Falle einer Auflösung der Gewerkschaft weiterhin gegen die Gewerkschafter vorgehen würde.

Im Gegensatz dazu erwies sich die Art und Weise, wie die Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements (kurz HKA) aufgelöst wurde, als etwas erbaulicher. Oberflächlich betrachtet verlief sie nach einem ähnlichen Muster wie bei der HKPTU, aber in der Phase der Beratung durch die Führung gab es stärkere Einwände gegen den Auflösungsantrag – er wurde mit einer knappen Mehrheit von vier zu drei Stimmen angenommen. Die Opposition wurde von Chow Hang-tung, einer jungen Anwältin und Aktivistin, angeführt. Als es zur Abstimmung kam, war sie bereits festgenommen worden, aber vor der Abstimmung schrieb sie einen öffentlichen Appell an die Mitglieder, in dem sie sie aufforderte, nicht nachzugeben. Sie argumentierte, dass die Taktik „Auflösung im Tausch gegen Nachsicht“ ein Fehler sei und dass die Weigerung, zu kapitulieren, der Welt die Entschlossenheit der Menschen in Hongkong zeigen würde, den Kampf am Leben zu erhalten. Ihre Anhänger haben die Abstimmung verloren, aber sie und ihre Genossen haben die Ehre des Widerstands in Hongkong gerettet. Viele Menschen sehen in ihr ein neues Symbol des Widerstands.  

Innerhalb der HKCTU-Führung schien es keine öffentlich sichtbare Opposition gegen den Vorschlag der Auflösung zu geben, lediglich vom Hörensagen wusste man, dass der stellvertretende Vorsitzende, Leo Tang, dagegen war. Der Kongress vom 3. Oktober verabschiedete den Auflösungsantrag mit einer Mehrheit von 57 zu 8 Stimmen. Im Gegensatz zur HKPTU haben sowohl HKA als auch HKCTU ihren Mitgliedern ihr legitimes Stimmrecht zugestanden. Wir verstehen, wie schwierig es derzeit ist, sich dem Orwellschen Staat zu widersetzen, aber wir begrüßen auch die wenigen, die weiter gegen ihn aufstehen.

Übersetzung von I. Wick und B. Zeuner, Forum Arbeitswelten

 

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