Der Nationale Volkskongress tagte im März 2024 in Beijing, inmitten eines steilen wirtschaftlichen Abschwungs, der die Lebensgrundlage von Millionen Menschen beeinträchtigt – Kreditkrise auf dem Immobilienmarkt, die sich nun auf andere Finanzsektoren ausweitet (1) Abfluss ausländischer Investitionen, Anstieg der Arbeitslosigkeit usw. Als Reaktion darauf hat Premierminister Li Qiang einen Bericht vorgelegt, der nichts anderes ist als eine lange Liste von Aufgaben, die von seinen 26 Regierungsabteilungen festgelegt wurden und die wie ein Inventurbericht eines Lebensmittelgeschäfts aussieht. Es gibt sicher noch mehr als das – leere Schlagworte. Es ist immer noch ein Rätsel, was Li Qiang in Bezug auf die Hauptstrategie zur Lösung der aufkommenden Krise im Kopf hat. Er räumte zwar ein, dass es „ineinander verwobene Schwierigkeiten und Herausforderungen“ gegeben habe, versicherte seinem Publikum jedoch die glänzende Zukunft Chinas, indem er sagte, dass das chinesische Volk unter der starken Führung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) mit Genosse Xi Jinping als Kern den Mut und die Vision hat und die Kraft hat, sich jeder Herausforderung zu stellen und jedes Hindernis zu überwinden. Tatsächlich erwähnte er Xi 19 Mal und überschüttete ihn mit allerlei Lob. Wenn es ein Hauptthema gibt, das sich durch den Inventurbericht des Premierministers zieht, dann ist es sein Kult um den obersten Führer.
Der Inventurbericht des Premierministers
Aber genau aus diesem Grund sollten wir uns über diesen Bericht Sorgen machen. Nicht, weil der gegenwärtige Wirtschaftsabschwung allein Xi zuzuschreiben wäre. Schon lange vor seiner Machtübernahme hatten die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen Investitionen, Produktion und Konsum gigantische Ausmaße angenommen und der Tag der Abrechnung rückt immer näher. Das Problem mit Xi besteht jedoch darin, dass seine Politik die Ungleichgewichte weiter vertieft hat und er sich in manchen Bereichen einfach selbst ins Bein geschossen hat, wie seine Null-Covid-Politik gezeigt hat. Sein unverhältnismäßiges hartes Vorgehen in Hongkong hat nicht nur die Opposition und die organisierte Arbeiterschaft ausgelöscht, sondern auch mehr als genug dazu beigetragen, die Gans zu töten, die einst goldene Eier für den Parteistaat legte – der Finanzmarkt der Stadt war schon immer die Druckmaschine für Pekings US-Dollar. Aber jetzt ist es „vorbei“ mit Hongkong, wie Stephen Roach, ehemaliger Vorsitzender von Morgan Stanley Bank Asia, der Ende der 1980er Jahre dort zu arbeiten begann, verkündete.
(2) Bestimmte westliche Mainstream-Medien belehrten Peking darüber, dass er das tun sollte, was sein Vorgänger Wen Jiabao 2008/09 getan hatte – ein Rettungspaket in Höhe von 634 Mrd. US-Dollar auflegen, um die stagnierende Wirtschaft anzukurbeln, oder zumindest etwas tun, um das Vertrauen der Verbraucher zu stärken. Auch wenn ihre Ratschläge höchst umstritten sind, ist der Kern der Sache derzeit, dass Peking überhaupt keine glaubwürdige Strategie hat, um die sinkende Wirtschaft in Griff zu bekommen.
Um das strukturelle Problem der chinesischen Wirtschaft besser zu verstehen, sollten wir noch einmal auf die Mao-Ära zurückblicken, und am Ende der Reise werden unsere Leser vielleicht verstehen, dass es trotz aller Brüche zwischen Mao und Dengs China auch eine große Kontinuität gibt. Der Eifer, „Großbritannien zu übertreffen und zu den USA gleichzuziehen“, zog sich durch beide Zeitalter und die Wachstumsstrategie ungewöhnlich hoher Investitionsraten war bemerkenswert dieselbe. Für Li Qiang ist es so offensichtlich, dass er sich überhaupt nicht die Mühe gemacht hat, darauf näher einzugehen. Er musste lediglich die Tradition der KPCh fortsetzen. Unsere Leser müssen jedoch auf dieses wenig beachtete, aber äußerst wichtige Thema zurückkommen, da dies nicht nur die Absurdität der Strategie ans Licht bringt, sondern auch Licht auf die Frage wirft, wie erfolgreich Pekings Wirtschaftspolitik sein wird.
„Die Produktion muss Vorrang vor dem Lebensunterhalt haben“
In der Mao-Ära wurde das Programm der Partei zur schnellen Industrialisierung durch ihre „zentrale Planwirtschaft“ umgesetzt. Aber die Spannungen zwischen der
Zentralregierung und den Provinzbürokratien waren schon immer eines der größten Hindernisse für ein weniger unausgewogenes Wirtschaftswachstum. Die „zentrale Planwirtschaft“ war berüchtigt für ihre mangelnde Effizienz, und den Provinzregierungen mangelte es immer an den notwendigen Materialien, Fachkräften oder einfach nur an Anreizen, was die Zentralregierung bald dazu zwang, in regelmäßigen Abständen erneut auf Regionalisierung zurückzugreifen – nicht zu Gunsten der lokalen Bevölkerung, sondern der Provinzbürokratie. Letztere waren aus Eigeninteressen, immer bereit, jede Gelegenheit zu nutzen, um mehr Macht (und damit mehr materielle Vorteile) zu erlangen. Sie mußte aber erleben, dass alsbald die Abrechnung erfolgte, da die Dezentralisierung nun zu Überinvestitionen und so viel Chaos führte, der die Zentralregierung darin bestärkte die Provinzen wieder zu entmachten. Dieser „Zyklus“ von 收 (Shou), 死 (Si), 放 (Fang) und 亂(Luan) (3) oder die Wiederholung von Zentralisierung, Dezentralisierung und Rezentralisierung plagte die Wirtschaft von Anfang an.
Die grausame Ausbeutung überschüssiger Arbeitskräfte durch das Regime ermöglichte es dem Staat, eine absurd hohe Investitionsrate zwischen 1958 und 1980 zu verwirklichen, die immer bei fast 30 % lag (ausgenommen nach der Hungersnot Anfang der 1960er Jahre). Dies hatte nicht nur eine Menge Verschwendung zur Folge, sondern vor allem eine Senkung des Lebensstandards der einfachen Leute. Die Löhne waren während des gesamten Zeitraums eingefroren worden, obwohl das jährliche Wirtschaftswachstum durchschnittlich mehr als 4 % betrug. Als Reaktion auf die verärgerten Arbeiter verbreitete die Propaganda der Partei die Parole: „Erst die Produktion, dann der Lebensunterhalt der Menschen!“ (4)
Die vier Jahrzehnte der „Reform und Öffnung“ waren eine Zeit, in der der Staatskapitalismus (in Partnerschaft mit dem privaten Sektor) die „zentrale Planwirtschaft“ ersetzen sollte, aber die vom Staat geförderte absurd hohe Investitionsrate hat sich bis heute gehalten. Sie lag mittlerweile sogar noch viel höher, überstieg 30 % und hielt sich dann in den letzten 20 Jahren auf über 40 %. Das allerdings auf Kosten eines starken Rückgangs des relativen Anteils des privaten Konsums am Brutto Inlandsprodukt (BIP) von 50% Anfang der 1980er Jahre auf unter 35% im Jahr 2010. Obwohl er seitdem wieder anstieg, erreichte er in den letzten Jahren nie 40 %. Der Hauptgrund für diesen Rückgang des Haushaltskonsums ist der sinkende Anteil des Arbeitseinkommens am Volkseinkommen.
Zwei chinesische Wissenschaftler warnten vor einigen Jahren in einem Artikel (5) vor der Situation wie folgt :
Chinas Investitionsrate ist 30% höher als der Weltdurchschnitt, während die Rate des privaten Verbrauch 30% niedriger ist als der Weltdurchschnitt, … und dies führte zu immer schwerwiegenderen Überkapazitäten.
Übermäßige Kapazitäten exportieren
Peking hatte nicht die Absicht, seine Leidenschaft für den Produktivismus aufzugeben, solange es weiterhin seine überschüssigen Kapazitäten exportieren konnte. Die jüngsten Nachrichten, dass beim Verkauf von Elektrofahrzeugen BYD Telsla übertraf und die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten und Europa jetzt über Vergeltungsmaßnahmen nachdenken, ist nur eines der Beispiele dafür, wie die Ausbeutungsfabrik der Welt ihre Probleme in die Welt exportiert und damit immer mehr Unmut und Vergeltungsmaßnahmen aus anderen Ländern auf sich zieht.
Was den chinesischen Binnenmarkt anbelangt, ignorierte die KPCh die Einschränkungen der arbeitenden Bevölkerung aufgrund des relativ geringen verfügbaren Haushaltseinkommen, und ermutigte die Menschen weiterhin, ihre eigenen Häuser und dann ihre Zweitwohnungen zu kaufen. Den lokalen Regierungen erlaubte sie Schulden anzuhäufen, um den Immobilienmarkt und ihre Urbanisierungsprojekte zu fördern. Nun ist der Tag der Abrechnung gekommen, und der Boom wird zur Pleite. Xi intervenierte zwar Ende 2020 mit der Politik der 3 Roten Linien (6), um die Mega-Blase in Griff zu bekommen, aber es war zu spät. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2012 waltete er über das rasante Wachstum der Blase. Zehn Jahre lang unternahm er nichts Wesentliches, um den Spekulationwahn einzudämmen, ganz zu schweigen davon, das Unrecht in Bezug auf die strukturellen Probleme des Produktivismus zu korrigieren. „Akkumuliert, akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!“ Aber der viktorianische Kapitalismus des freien Marktes, wie ihn Marx beschrieb, sah im Vergleich zum heutigen chinesischen Staatskapitalismus blass aus. Die unbequeme Wahrheit ist jedoch, dass es immer eine Grenze für alles gibt, insbesondere in Bezug auf den Drang zur Akkumulation und den Drang zum Machtmissbrauch. Im Fall Chinas ist das Land jetzt in großen Schwierigkeiten, weil die beiden Impulse miteinander verflochten sind, wie uns der dieser Volkskongress 2024 zeigt.
Was ist, wenn der Pilot noch nie ein Flugzeug geflogen hat?
Diese Sitzung des Kongresses unterschied sich stark von den vorherigen, da die seit 1993 übliche Pressekonferenz des Ministerpräsidenten zum Abschluss des Kongresses gestrichen wurde. Es war immer ein sehr wichtiger Moment, Außenstehenden einen Einblick in die Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Fraktionen an der Spitze zu ermöglichen. Den Premierminister ins Rampenlicht zu rücken, ist Deng Xiaopings politisches Erbe: Wir würden niemals zulassen, dass sich der Einfluss der Partei auf die Regierung auch nur um einen Millimeter lockert, aber wir sollten auch nicht zulassen, dass die Autokratie der Mao-Ära zurückkehrt. Was Xi jedoch gerade tut, ist nicht nur die Wiederherstellung der Autokratie, sondern auch, dass er seinen Machtmissbrauch zur neuen Normalität werden lässt. Er begnügt sich nicht damit, alle Machtbereiche in seinen Händen zu halten, sondern macht sich auch weiterhin zum Leiter eines Dutzends hochrangiger Arbeitsgruppen, um mehr Macht zu erlangen. Mitten in der Kreditkrise gründete Xi im vergangenen Oktober eine neue Organisation, die Zentrale Finanzkommission, scheinbar unter der Schirmherrschaft des Zentralkomitees der KPCh. Obwohl der Chef der Zentrale Finanzkommission Li Qiang ist, hatte die aktuelle Sitzung des Volkskongresses bereits deutlich gezeigt, wer der wahre Chef dieser Zentrale Finanzkommission ist. Xis Absicht scheint es zu sein, die etablierten staatlichen Finanzinstitutionen sowie verschiedene Regulierungsabteilungen weiter zu schwächen. Das Problem ist jedoch, was weiß Xi darüber, wie der Kapitalismus oder seine Finanzmärkte funktionieren? Letzten Januar erlebten wir, wie die Marktaufsichtsbehörden in ihrem Bemühen, den Markt vor einem starken Einbruch zu bewahren, institutionellen Anlegern anordneten, an bestimmten Tagen keine Nettoverkäufe von Aktien zu tätigen. (7) Das ist so, als würde man den Deckel eines kochenden Topfes schließen, um zu verhindern, dass er überläuft. Tatsächlich untergräbt die Maßnahme das Vertrauen des Marktes weiter. Um fair zu sein, hat Li Qiang angekündigt, dass er Staatsanleihen im Wert von einer Billion RMB (oder 139 Milliarden US$) ausgeben wird, um Geld für die unter Liquiditätsengpässen stehende Wirtschaft zu beschaffen. Dies ist verschwindend gering im Vergleich zum Ausfallrisiko der lokalen Regierungen, die 94 Billionen RMB Schulden haben, von denen 3,2 Billionen zum Ende dieses Jahres fällig werden. Ganz zu schweigen davon, dass auch Bauunternehmen 2 Billionen US$ benötigen, nur um ihre Bestände zu liquidieren. (8).
Oder hat Xi einen radikaleren Plan im Kopf? Wir können nur sicher sein, dass Xi viele Hebel zur Verfügung hat, um die aufkommende Krise zu lösen. Sollte es ein unangenehmes Marktupdate geben, könnte er die Nachricht einfach in Luft auflösen. Nachdem die Statistik im vergangenen Mai zeigte, dass die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 20 % erreichte, hat die Regierung die Veröffentlichung dieser Zahl einfach eingestellt. Sehr bald werden der Liste der zensierten Nachrichten weitere Statistiken hinzugefügt – sinkende Geburtenraten, sinkendes Verbraucher- und Finanzmarktvertrauen usw. Unser Führer hatte all diese Probleme gelöst, indem er sie einfach unter den Teppich gekehrt hat.
Der Volkskongress hat also erneut großartige Arbeit geleistet und die Menschen daran erinnert, dass mit Xi Jinping als ihr Führer sich niemand Sorgen machen muss – er ist so gut darin, die Probleme zu beseitigen, indem er diejenigen ausschaltet, die über die Probleme berichten, ganz so wie es chinesisches Sprichwort sagt.
Anmerkungen
1) siehe hier im Blog Die Blase, der Staat und der schiefmündige Mönch
2) It pains me to say Hong Kong is over in Financial Times 12.2.2024
3) “一收(權)就死,一死就放(權),一放就亂,一亂就收(權)“
4) “先生產,後生活“
5) https://www.pishu.com.cn/skwx_ps/initDatabaseDetail?contentId=8571865&siteId=14&contentType=literature
6) siehe Wkipedia
7) siehe Beijing tells some investors not to sell as Chinese stock rout resumes in Financial Times vom 16.1.2024
8) siehe China’s indebted provinces meet state bankers to discuss debt relief in Financial Times und On China’s property mess and its banks’ ‘impossible trinity’ in Financial Times
Der Beitrag erschien am 10.3.2024 auf Englisch mit dem Titel The Tyranny of State Productivism – On the 2024 China’s People’s Congress auf der Webseite von Europe Solidaire Sans Frontières. Er wurde hier leicht gekürzt.
Übersetzung von P. Franke, Forum Arbeitswelten