Dreißig Jahre nach der Demokratiebewegung in China von 1989 ist eine weitere Welle des Demokratisierungskampfes in China ausgebrochen, diesmal in Hongkong. Bemerkenswert ist, dass Peking seinen Konflikt mit Hongkong nach wie vor im Rahmen eines Gegensatzes zwischen chinesischer und westlicher Kultur darstellt. Nur wenige Monate, bevor Peking sein Nationales Sicherheitsgesetz über Hongkong verhängte, forderte dessen ehemaliger Regierungschef Tung Chee-hwa Hongkong auf (1), westliche demokratische Systeme nicht zu kopieren – dies würde mehr schaden als nützen. Er schien zu vergessen, dass Chinas Regierungsparteien im 20. Jahrhundert stark vom Westen inspiriert waren. So griffen in den frühen 1920er Jahren zunächst die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) und dann die Kuomintang (KMT) auf die Erfahrungen westlicher demokratischer Revolutionen zurück, indem sie die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung forderten. Der Kanton-Hongkong-Streik von 1926, der die Macht der revolutionären Parteien in der Provinz Guangdong festigte, war nicht nur eine patriotische Bewegung, wie sie von der KPCh interpretiert wurde, sondern auch eine demokratische Bewegung, da die Arbeiter das allgemeine Wahlrecht forderten und gleichzeitig einen Arbeitskampf führten.
Beide Regierungsparteien wollten zunächst von westlichen demokratischen Revolutionen lernen, knüpften dann aber an die chinesische kaiserliche Tradition der Herrschaft durch eine Bürokratie an, die nicht dem Volk, sondern den obersten Führern der politischen Klasse rechenschaftspflichtig ist – ganz gleich, ob man sie „Kader“ oder „Gelehrte“ nennt. Beide wandten sich auch von ihrem ursprünglichen Programm einer demokratischen Transformation ab und strebten stattdessen eine Einparteiendiktatur an. Ihre Darstellung eines binären Gegensatzes „chinesische versus westliche Kultur“ scheint ein ideologisches Instrument zu sein, um ihre Weigerung zu rechtfertigen, politischen Pluralismus zu praktizieren und ihrem Volk gegenüber Rechenschaft abzulegen. In den letzten Jahren hat sich diese Interpretation des chinesischen „Patriotismus“ (sprich „Nationalismus“) noch weiter in Richtung Rassismus entwickelt. Letztes Jahr zu Weihnachten haben chinesische Kommunalverwaltungen und Hochschulen in China das Feiern von Weihnachten verboten, weil sie der Ansicht sind, dass dies „das Selbstvertrauen der Chinesen in ihre eigene Kultur untergräbt“. Darüber hinaus verbieten die Parteimedien zwar jede Form von Kritik an der Partei, lassen aber rechtsextreme Propaganda zu. Letztere hat beispielsweise begonnen, den Begriff „Zhonghua hun“ (chinesischer Geist, 中華魂) zu verwenden (2), um das „nationale Selbstvertrauen“ zu stärken. Dieser Begriff umschreibt den japanischen Begriff des „japanischen Geistes“ (yamato – damashii), der während des Zweiten Weltkriegs weit verbreitet war und insbesondere mit Japans selbstmörderischer „Divine Wind Special Attack Unit“ (“Kamikaze”) in Verbindung gebracht wurde.
Dieser regressive Wandel, den zunächst die KMT (in Festlandchina) und dann die KPCh vollzogen haben, bedeutet, dass dem chinesischen Volk kontinuierlich demokratische Rechte vorenthalten werden. Von Zeit zu Zeit erhebt sich eine große Anzahl von Chinesen, um ihre Rechte einzufordern, aber sie alle werden von dieser oder jener Partei unterdrückt. Dieses ständige Scheitern der demokratischen Bewegung mag Intellektuelle dazu veranlasst haben, nach tieferen Erklärungen für dieses Phänomen zu suchen. Für die einen liegt es am Konzept und an den Praktiken einer „Revolution“ selbst, die dazu bestimmt ist, ihre eigenen Kinder zu fressen und den Absolutismus zurückzubringen. Für andere ist es eher eine Frage des chinesischen „Nationalcharakter-Determinismus“ oder „Kultur-Determinismus“, womit sie meinen, dass es eine chinesische Seele gibt, die unfähig ist, sich selbst zu regieren, und dazu bestimmt ist, von Leitfiguren oder vom Westen regiert zu werden. Der taiwanesische Wissenschaftler Sun Lungkee hat 1982 mit seinem Buch “Die Tiefenstruktur der chinesischen Gesellschaft” (中國文化的深層結構) die erste systematische und detaillierte Untersuchung zu diesem Thema vorgelegt, in der er behauptet, das „Wesen“ des chinesischen Volkes und seiner Kultur bestimme, dass es „sklavisch“ sei und sich nicht selbst regieren könne.
Etwa zur gleichen Zeit gab es in China auch eine hitzige Debatte über die These vom „chinesischen Nationalcharakter“ oder dem „chinesischen Wesen“. Einige sahen die Kulturrevolution als Ausdruck dieses „chinesischen Wesens“ an – mit dem Ergebnis, dass alle Chinesen einen gerechten Anteil an ihren Exzessen hatten. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 wurde die „Kulturdebatte“ für eine Weile ad acta gelegt.
Nach zwei Jahrzehnten wurde sie jedoch wiederbelebt, diesmal in Hongkong, mit Joe Chung als einer der Hauptfiguren. In seinem Buch “Ich will kein Chinese mehr sein” (來生不做中國人) behauptet er, Chinesen seien „unehrlich, betrügerisch, eigennützig und klientelistisch“. Dieses Buch aus dem Jahr 2007 wurde in 55 Auflagen aufgelegt und gilt als eines der wichtigsten Bücher zur Förderung der Identität und des Lokalismus in Hongkong. Im Jahr 2011 veröffentlichte ein anderer Wissenschaftler und Schriftsteller, Chin Wan, das zweitwichtigste Buch “Über den Stadtstaat Hongkong” (香港城邦論), das das Wachstum des rechten Lokalismus offen fördert, der die Identität Hongkongs und die chinesische Identität als einander ausschließend betrachtet, weil erstere die Werte der Menschenrechte und der Demokratie verkörpert, während letztere das Gegenteil davon ist. Da die Menschen in Hongkong „verwestlicht“ sind, sind sie auch den „schlechten“ Chinesen überlegen.
Der kulturelle und nationale Charakterdeterminismus, den sowohl die Han-Nationalisten als auch die Hongkong-Lokalisten vertreten, ist nie wissenschaftlich untersucht worden. Die Lokalisten haben nie wissenschaftlich bewiesen, dass es tatsächlich eine „chinesische Psyche“ und eine „nationale Seele“ gibt. Da sie keine Beweise für ihre Behauptungen haben, verteufeln sie die Chinesen nur, indem sie auf ihr „unzivilisiertes“ Verhalten hinweisen, z. B. darauf, dass sie sich nicht in Warteschlangen für Busse einreihen. Selbst wenn es stimmt, dass Besucher aus Festlandchina im Verhältnis seltener Schlange stehen als Einheimische, vergessen die rechten Lokalisten, dass sich die Hongkonger vor einigen Jahrzehnten ähnlich verhalten haben. Selbst wenn die „Hongkonger“ heute weniger abergläubisch oder höflicher sind (eine These, die man anfechten könnte), ließe sich dies wohl besser durch Modernisierung und allgemeine Bildung erklären.
Im Grunde genommen haben die rechten Lokalisten nichts anderes als den Rückgriff auf die folgende Tautologie zu bieten: Das chinesische Volk ist schlecht, weil die chinesische Kultur schlecht ist; die chinesische Kultur ist schlecht, weil sie die schlechten Eigenschaften des chinesischen Volkes widerspiegelt. Indem sie sich auf den Versuch konzentrieren, das „nationale Wesen“ der chinesischen Identität zu beschreiben, hat der lokalistische Diskurs die tatsächlichen politischen Prozesse und die sozioökonomische Struktur in China (einschließlich Hongkong), die duchgehend rasche und gigantische Veränderungen erfahren haben, weitgehend außer Acht gelassen. All diese Prozesse und Veränderungen haben sich positiv oder negativ auf das demokratische Streben der Menschen und ihre Fähigkeit zur Selbstverwaltung ausgewirkt, und zwar weit mehr als der mysteriöse Diskurs über den „nationalen Charakter“. Vor allem haben sie die Verantwortung der KPCh ausgeklammert, wenn sie das gesamte chinesische Volk anklagen. Trotz einiger großer Fortschritte bei den Sozialreformen in den frühen 1950er Jahren gibt das Regime in der Frage seiner Einparteiendiktatur keinen Zentimeter nach. Es geht stets hart gegen jede Art von demokratischer Bewegung vor, was dazu führt, dass letztere immer nur sehr kurzlebig ist, die Weitergabe von Erfahrungen fast unmöglich macht und jede Generation von Aktivisten wieder bei Null anfängt. Hierdurch werden sie anfälliger für Fehler, weshalb die meisten von ihnen schnell inhaftiert und ganz vergessen werden. Der demokratischen Bewegung in Hongkong droht nun das gleiche Schicksal, wenn sie keine wirksame Strategie entwickelt.
In diesem kritischen Moment ist es selbstmörderisch, weiterhin eine rassistische Propaganda für Hongkong zu betreiben, die sich gegen die chinesische Bevölkerung richtet. Aber es scheint, dass die rechtsextremen Lokalisten weiterhin von dieser Idee besessen sind. Letzte Woche brachte ein Karikaturist eine Karikatur heraus, in der er chinesische Einwanderer als Heuschrecken darstellte, um eine Identität Hongkongs zu behaupten. Zwar kommt diese Art von Angriffen nur von der sehr kleinen Minderheit rechter Lokalisten. Doch ist die andere Seite der Geschichte, dass wenngleich die meisten liberal gesinnten Menschen und die Handvoll Linker dies vielleicht nicht gutheißen, es ihnen dennoch an Mut fehlt, dagegen anzugehen.
In gewisser Weise sind sowohl Han-Nationalisten als auch Hongkong-Nationalisten eine Art komplementäre Gegensätze, zwei Hälften eines einzigen ideologischen Systems, das darauf abzielt, die Unterstützung ihrer jeweiligen Zielgruppen zu gewinnen. Sie stehen sich gegenüber, spiegeln sich aber auch gegenseitig wider.
Anmerkungen
1. siehe die Hongkonger Tageszeitung Mingpao vom 9.3.2021
2. siehe Nachrichtenagentur Xinhua vom 22.9.2019 „Chinas Seele hat sich für immer erneuert – Ein Blick auf Chinas 70 Jahre Selbstvertrauen“
Übersetzung von I. Wick, Forum Arbeitswelten