vonchina-watch 27.05.2022

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Im vergangenen Mai veröffentlichte John Ross, leitender Mitarbeiter des Chongyang Finanzwissenschaftliches Institut der Chinesischen Volksuniversität in Peking, sein Buch „China’s Great Road – Lessons for Marxist theory and socialist Practices“ – Chinas großartiger Weg – Lektionen für marxistische Theorie und sozialistische Praxis  (1), in dem er die chinesische Regierung enthusiastisch verteidigt und das Regime als „sozialistisch“, seine politischen Institutionen als „demokratisch“ usw. bezeichnet. Morning Star, die mit der Kommunistischen Partei Großbritanniens assoziierte Zeitung, erklärte in ihrer Rezension von Ross‘ Buch:
John Ross macht sehr deutlich, dass Chinas Erfolge die des Sozialismus sind. Doch westliche Ökonomen haben lange darauf bestanden, dass jedes „chinesische Wunder“ auf Grundlage des Kapitalismus existiert. Nach dieser Version der Ereignisse hat China Ende der 1970er Jahre den Sozialismus aufgegeben, den Kapitalismus übernommen und die neoliberale Magie wirken lassen.(2)

Ein kapitalistischer Staat

Ross stützt seine Argumentation auf die angeblich dominierende Rolle des „staatlichen oder öffentlichen Eigentums“ in China. Offiziellen Zahlen aus dem Jahr 2017 zufolge lag der Anteil des Privatsektors am BIP jedoch bereits bei über 60 %. Ein hoher Beamter der Zentralen Abteilung für Einheitsfrontarbeit verwendete die Zahl „56789“, um den Beitrag des Privatsektors zur Wirtschaft wie folgt darzustellen:
Mehr als 50 Prozent der Steuereinnahmen.
Mehr als 60 Prozent des BIP, der Anlageinvestitionen und der ausländischen Direktinvestitionen.
Mehr als 70 Prozent der High-Tech-Unternehmen.
Mehr als 80 Prozent der städtischen Arbeitsplätze.
Mehr als 90 Prozent der neuen Arbeitsplätze.(3)

Auch wenn der staatliche Sektor bei vielen der oben genannten Messgrößen eine Minderheit darstellt, so bestimmt er doch die Preise vieler nach gelagerter Wirtschaftszweige, da er die Kommandohöhen der Wirtschaft kontrolliert. Dennoch ist der sehr große Privatsektor in der Lage, den Staat bis zu einem gewissen Grad in Schach zu halten, was manchmal dazu führt, dass der Staat sein makroökonomisches Ziel nicht erreichen kann. Chinas Abhängigkeit vom Weltmarkt ist auch eine seiner Achillesfersen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der staatliche Sektor in China zwar eine wichtige Rolle spielt, aber bei weitem nicht das einzige Element ist, das den Charakter des chinesischen Staates und seiner Wirtschaft bestimmt.

Die meisten großen chinesischen Staatsunternehmen sind an der inländischen Börse notiert und machen 40 Prozent der Börsennotierungen aus.(4) Viele von ihnen sind auch an Märkten außerhalb des chinesischen Festlands notiert, beispielsweise machen sie 20 Prozent des Hongkonger Aktienmarktes aus. Diese beiden Punkte bedeuten, dass diese staatlichen Unternehmen in erster Linie den Interessen der Partei und der privaten Investoren dienen.

Vor einigen Jahrzehnten gab es eine ganze Reihe kapitalistischer Länder mit dominierendem „Staatseigentum“, aber sie blieben trotzdem kapitalistisch. Im Kapitalismus kann ein vollständig in staatlichem Besitz befindliches Unternehmen nicht als vollständig „öffentliches Eigentum“ bezeichnet werden, da der Staat wiederum nicht allen Menschen gehört, sondern im Gegenteil praktisch von der Kapitalistenklasse und ihren politischen Vertretern kontrolliert wird. Staatsunternehmen im Kapitalismus sind lediglich eine Art Staatskapitalismus. Das hätten die Sozialisten schon vor langer Zeit von Engels lernen sollen. Er witzelte einmal: Wenn die Übernahme der Tabakindustrie durch den Staat sozialistisch ist, dann müssen Napoleon und Metternich zu den Begründern des Sozialismus gezählt werden.(5)

John Ross zweiter Beweis dafür, dass China sozialistisch ist, war die Behauptung, dass „die Armut in China ausgerottet worden ist“. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass es sich bei den Aussagen von Ross höchstens um die Ausrottung der absoluten Armut handelt und dass sich in China die relative Armut immer weiter vergrößert hat. Thomas Piketty und seine Kollegen haben das festgestellt:
Das Verhältnis zwischen Vermögen und Einkommen stieg von 350 Prozent im Jahr 1978 auf 700 Prozent im Jahr 2015, während der Anteil des öffentlichen Eigentums am Volksvermögen von 70 Prozent auf 30 Prozent sank. (…) Der Einkommensanteil der oberen 10 Prozent stieg zwischen 1978 und 2015 von 27 Prozent auf 41 Prozent; der Anteil der unteren 50 Prozent sank von 27 Prozent auf 15 Prozent. Das Niveau der Ungleichheit in China war früher ähnlich hoch wie in den nordischen Ländern und nähert sich jetzt dem Niveau der USA an.(6)

Ich habe mich einmal mit einem Gewerkschaftsaktivisten vom Festland China unterhalten und ihn gefragt, was er von den Nachrichtenberichten hält, in denen die „Ausrottung der Armut“ durch die Regierung gepriesen wird. Seine Antwort war: „Was hat die Regierung für die Arbeiter getan? Es sind der Schweiß und das Blut der Arbeiter, die sie aus der bitteren Armut befreit haben!“ Das trifft auf jeden Fall für Arbeitnehmer zu – denn Regierung trägt nichts zu den fünf Sozialversicherungen und den Wohnungsfonds bei, nur die Arbeitnehmer und Arbeitgeber tun dies. Leider fehlt in Ross‘ Schriften sehr deutlich diese basisdemokratische Perspektive.

Darüber hinaus ist es zweifelhaft, inwieweit die Beseitigung der (absoluten) Armut dem Argument „China ist sozialistisch“ dienlich ist – der fortgeschrittene Kapitalismus hat die absolute Armut in den vergangenen drei Jahrhunderten zwar weitgehend gemildert, ist aber nie in etwas verwandelt worden, das dem Sozialismus näher kommt. Der Grund dafür ist einfach: Genau wie China machen diese kapitalistischen Länder weiterhin die Ausbeuterklasse reicher und fördern damit das Wachstum der relativen Armut.

Ein Orwellsches Regime

Dies führt uns zu einer Diskussion über das Wesen des politischen Regimes in China. China ist nicht nur in Bezug auf seine Wirtschaft kapitalistisch. Vielmehr war es dieser Staat, der den Kapitalismus zurückgebracht hat und nicht umgekehrt, und der die kapitalistische Wirtschaft so geformt hat, dass sie den Bedürfnissen der Ausbeuterklassen entspricht – in erster Linie den Bedürfnissen der Parteibürokratie. Um dies zu erreichen, unternahm die Partei die beiden ersichtlichsten politischen Schritte zur Wiederherstellung des Kapitalismus: zunächst die Streichung des Artikels über das Streikrecht in der neuen Verfassung von 1982, dann die Legalisierung des Privatsektors und des Verkaufs der Landnutzungsrechte in der Verfassungsänderung von 1988. Diese Maßnahmen bereicherten die Funktionäre so sehr, dass sie das Volk verärgerten, was schließlich zu der Demokratiebewegung von 1989 führte. Die Partei wusste nur zu gut, dass die Wiederherstellung des Kapitalismus schwierig werden kann, wenn die Arbeiter streiken dürfen. Bevor die Wirtschaft kapitalistisch wurde, hatte die Partei dank ihres monolithischen Charakters die gleiche Transformation bereits vollzogen.

Ross sieht das anders. Er erwähnt in seinem Buch beiläufig, dass China politisch sozialistisch sei.(7) Außerdem verkündete er auf einer Konferenz über Demokratie im Dezember 2021 in Peking, dass Chinas Rahmen und Umsetzung von Menschenrechten und Demokratie dem ‚Westen‘ weit überlegen ist.(8) In beiden Fällen hat er jedoch keine Beweise für seine Behauptungen liefern können. Im Gegenteil, er hat das Wesen des KPCh-Regimes kaum im Detail untersucht.

In diesem „sozialistischen“ oder „fortschrittlichen“ Land müssen die einfachen Leute eine Menge Codewörter verwenden, um die strenge Zensur in den sozialen Medien zu umgehen. Auf dem Höhepunkt der Abriegelung Shanghais verbreitete sich in Anlehnung an die Null-Covid-Politik ein Gedicht mit dem Titel Lasst uns versuchen, ein bisschen mutiger zu sein:
Lasst uns versuchen, ein bisschen mutiger zu sein,
Statt des Wortes „zy“ sollten wir „Freiheit“ schreiben,
Anstelle des Wortes „zf“ schreiben wir „die Regierung“,
Statt des Wortes „gj“ schreiben wir „der Staat“,
Anstelle des Wortes „zs“ schreiben wir „Selbstmord“,
Anstelle des Zeichens einer Eisenkette schreiben wir „angekettet“.(9)

Dies ist keine „neue Normalität“. Seit Beginn des Internetzeitalters hat es immer eine strenge Zensur gegeben, die immer repressiver wurde. Bereits 2013 brachte die Regierung ein geheimes Dekret der „Sieben Sprechverbote“(10) in Umlauf – Dinge, über die zu sprechen allgemein verboten ist:
1. Allgemeine Menschenrechte
2. Pressefreiheit
3. Die Zivilgesellschaft
4. Bürgerrechte
5. Frühere Fehler der Kommunistischen Partei
6. Klientelkapitalismus
7. Richterliche Unabhängigkeit

Wenn es an den Hochschulen verboten ist, über darüber zu sprechen, wird dies dazu führen, dass die gesamte Bevölkerung zum Schweigen gebracht wird, wenn es um diese Themen geht. Leider haben sowohl Ross als auch der Morning Star kein Interesse daran, über diese Fakten zu berichten, geschweige denn Kritik an Peking zu üben.

 

Anmerkungen:
1. John Ross, China’s Great Road – Lessons for Marxist theory and socialist Practices,  Praxis Press, 2021.
2. Carlos Martinez, Why the great leap forward continues, in: Morning Star
3. Die dritte Sitzung der Pressekonferenz zum 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas, 21.10.2017 (党的十九大举行第三场记者招待会 介绍党的统一战线和对外交往有关情况, siehe auch: Amir Guluzade,  The role of China’s state-owned companies explained, World Economic Forum 7.5.2022
4. Ori Ben-Akiva, Mickael Nouvellon and Ziang Fang, Commentary: The value in China’s state-owned enterprises, in: Pensions&Investments 7.3.2019
5. Friedrich Engels,  Anti-Dühring , 1877, Zitat (deutsch) aus MEW Bd. 20,  Fußnote auf S. 259, siehe auch Online S. 261
6. Thomas Piketty, Li Yang, Gabriel Zucman, Capital Accumulation, Private Property, and Rising Inequality in China, 1978–2015 in American Economic Review 2019, 109(7): S. 2469-2496
7.
Ross, a.a.O. S. 39
8. Zitiert nach China Daily vom 9.12.2021
9. Das verschlüsselte Wort ist hier die Abkürzung in der alphabetischen Umschrift Pinyin der Schriftzeichen. Das Pinyin für das Wort „Regierung“ lautet zum Beispiel „zhengfu“ und wird zu „zf“ abgekürzt. Was das Wort „Ketten“ betrifft, so steht es wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Ende Januar 2022 bekannt gewordenen Fall der angeketteten Frau in Xuzhou, wo eine Frau jahrelang an der Wand angekettet gefunden wurde. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Fall von Menschenhandel – sie könnte entführt und mit einem Mann „verheiratet“ worden sein und acht Kinder zur Welt gebracht haben. Diese Praxis ist in China weit verbreitet.
10. Vgl. Benjamin Carlson,  7 things you can’t talk about in China, in The World 3.6.2013. Man beachte, dass in einer nicht überprüften chinesischen Version, die angeblich das Originaldokument ist, „Bürgerrechte“, „Vetternwirtschaft“ und „Unabhängigkeit der Justiz“ durch „konstitutionelle Demokratie“, „Neoliberalismus“ und „Zweifel am Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“ ersetzt wurden. Siehe auch chinesischsprachige Wikipedia.

 

Übersetzung  von F. Hofmann, Forum Arbeitswelten

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