– ein Versprechen, das die Regierung der VR China erstmals 1954 auf der Konferenz von Bandung abgegeben hatte. Damals verschafften sich viele ehemalige Kolonien in Afrika und Asien gemeinsam in der ganzen Welt Gehör.
Außenminister Wang Yi hat dies in seiner Fünf-Punkte-Position zur Ukraine-Frage am zweiten Tag der russischen Invasion ausdrücklich erwähnt. Dennoch weigert sich China weiterhin anzuerkennen, dass es sich bei Russlands Vorgehen in der Ukraine um eine Invasion handelt. Lässt sich diese Missachtung des Bandung-Prinzips und des UN-Grundsatzes durch Wangs zweiten Punkt erklären, der lautet: „Angesichts der fünf aufeinander folgenden Runden der NATO-Osterweiterung sollten die legitimen Sicherheitsforderungen Russlands ernst genommen und angemessen berücksichtigt werden“?
Nein, das kann es nicht. Die Erweiterung der NATO an sich ist ungerecht. Sie hätte sich schon vor langer Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auflösen sollen. Dennoch hat Russland nicht das Recht, wegen des Versagens der NATO in die Ukraine einzufallen. Das ist die Sprache der Imperialisten, die Doktrin von „Macht gibt Recht“, nicht die Sprache der Charta der Vereinten Nationen, ganz zu schweigen vom „Sozialismus“, den die KPCh bis heute für sich in Anspruch nimmt.
Kontraproduktiv für Russland
Und sie ist sogar für die langfristigen Interessen des russischen Reiches selbst kontraproduktiv. Damit ein Reich sich lange genug halten kann, muss es neben seiner militärischen Macht auch eine Art kultureller Hegemonie herausbilden. Aber das ist die Art von Ressource, die Putin nicht bieten konnte. Nachdem seine Armee in der Ukraine feststeckte, stellte jemand ein Bild online, das einen komisch aussehenden, schwertschwingenden Krieger mit den Worten „Putins fataler Fehler war es, Sklaven zu schicken, um freie Menschen zu befreien“. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber es trifft das Gefühl nicht nur der Ukrainer, sondern auch der Menschen auf der ganzen Welt. Trotz aller Mängel der liberalen Demokratie ist sie im Vergleich zur Autokratie und besonders zu Putins Version immer noch das geringere Übel. Die EU hat ihre eigene Oligarchie, aber sie muss eine aktive soziale Bewegung und deren Kontrollfunktion dulden. Im Gegensatz dazu sind Putin und seine Oligarchie frei von allen Einschränkungen, weshalb seine Banden das Land in erstaunlich kurzer Zeit erfolgreich ausplündern konnten. Doch das hat seinen Preis. Putins Autokratie dringt in einen souveränen Staat ein, der seine Autokraten wiederholt durch Proteste und Wahlen abgesetzt hat. Dieser Gegensatz entwertet die Legitimität seines Regimes enorm. Dies gilt umso mehr, als es sich um einen Nachbarstaat Russlands handelt, der mit Russland schon seit langem verflochten ist. Kein Wunder, dass sein Einmarsch nicht nur in der Ukraine, sondern auch in der ganzen Welt starken Widerstand ausgelöst hat. Je mehr sich die Invasion hinzieht, desto höher ist das Risiko für Russland.
Grenzenlose Partnerschaft?
Knapp einen Monat nach den Olympischen Winterspielen in Peking, bei denen Xi und Putin zusammenkamen, um ihre „grenzenlose Partnerschaft“ zu schmieden, hat die russische Invasion bewiesen, dass es für Peking doch Grenzen gibt. Trotz starker Propagandaunterstützung verhält sich Peking bisher praktisch neutral zu Putins Krieg und hat sich bei der Abstimmung in den Vereinten Nationen, in der Russland kritisiert wurde, der Stimme enthalten. Seine Banken befolgen sogar die US-Sanktionen gegen Russland.
Wenn Peking davon absieht, die Kriegsanstrengungen seines russischen Partners direkt zu unterstützen, dann nur aus Pragmatismus – China hat sich längst in den globalen Kapitalismus integriert und muss daher Warnungen aus dem Westen sehr ernst nehmen. Langfristig könnte sich dies jedoch ändern, denn in Bezug auf die Wertvorstellungen teilt Peking inzwischen Putins Idee des „Nation Building“ und auch seine Arroganz gegenüber kleineren Nationen an seiner Peripherie. Wenn die NATO ein Übel ist, dann wäre eine Partnerschaft zwischen den derzeitigen Regierungen Chinas und Russlands auch nicht besser.
Selbstbestimmungsrecht?
In seinen beiden Reden (zuerst im Juli 2021 und dann im Februar 2022) griff Putin die Position Lenins und seiner bolschewistischen Partei zum Selbstbestimmungsrecht für Minderheiten, auch der Ukraine, als Verrat an dem Grundsatz an, dass „Russen und Ukrainer ein Volk – ein einziges Ganzes“ (1) seien. In seiner zweiten Rede argumentierte er, dass das Zugeständnis der Unabhängigkeit der Ukraine durch die Bolschewiki bedeutet hatte, dass „neue und oft willkürlich gebildete Verwaltungseinheiten – Unionsrepubliken – riesige Gebiete übertragen wurden, die oft überhaupt nichts mit ihnen zu tun hatten“.
Wir brauchen unsere Leser nicht darüber zu belehren, dass alle gegenwärtigen Nationalstaaten jüngste menschliche Konstrukte sind, also in unterschiedlichem Maße „willkürlich gebildet“ wurden. Sowohl die Republik China als auch die Volksrepublik China fallen in diese Kategorie – eine nach der anderen teilten sie dieselbe semi-fiktive Idee von der Zhonghuaminzu („die chinesische Nation“), in der die Han-Chinesen nicht nur zahlenmäßig, sondern auch in allen Bereichen der staatlichen und gesellschaftlichen Macht dominieren, und zwar auf Kosten der Minderheiten. Der Unterschied zwischen der KPCh und der KMT bestand darin, dass die KPCh in den ersten beiden Jahrzehnten nach ihrer Gründung im Jahr 1921 das bolschewistische Programm mit dem Selbstbestimmungsrecht der Minderheiten übernommen hatte, um es danach wieder aufzugeben. Als die Volksrepublik China 1949 gegründet wurde, gestattete die Partei Tibet und Xinjiang sowie vielen anderen Minderheiten lediglich Autonomie. Letztere fanden bald heraus, dass ihre Version von „Autonomie“ nur als „administrative Autonomie“ gedacht war und nicht annähernd als „politische Autonomie“. Seitdem war die Verbreitung von Lenins Schriften über Selbstbestimmung eine strafbare Handlung. Der Gründer der Kommunistischen Partei Tibets, Phuntsok Wangyal, wurde deswegen (und wegen anderer Anschuldigungen) für zwanzig Jahre ins Gefängnis geworfen. (2)
Für jeden denkenden Chinesen kann es keine „grenzenlose Partnerschaft“ mit dem Nachfolger des zaristischen Russland – der Regierung Putin – geben. Schon das Gerede darüber ist ein Verrat an den historischen Interessen der Chinesen, die einst Opfer des russischen Imperialismus waren. Wenn die chinesische Regierung davon spricht, dann nur deshalb, weil sie zunehmend Putins Vorstellung vom Aufbau eines Imperiums teilt und daher jeden Hinweis auf nationale Selbstbestimmung vehement ablehnt.
Geschichte umschreiben
Jüngstes Beispiel sind die Parteimedien in Hongkong (3), die Studenten angreifen, die eine Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Ukraine gestartet haben, und deren Eintreten für nationale Selbstbestimmung als „anti-chinesisch und Unruhe stiftend in Hongkong“ bezeichnen. Dieser Angriff wird schnell entkräftet. Ein Mitdenker der Kampagne schrieb in einem Essay (4), dass „die Studenten weder gegen China noch gegen Russland sind. Was die Erklärung (der Kampagne) aussagt, ist, dass sie an der Seite all derer stehen, die von den Machthabern unterdrückt werden, ganz gleich, wo sich die Unterdrückten befinden – ob in China, Russland, Großbritannien oder den USA“. In dem Artikel wird dann daran erinnert, wie die KPCh einst das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung hochgehalten und es seitdem verraten hat. Kein Wunder, dass die Partei ihre Geschichte laufend umschreiben muss, um die Kontrolle über die Zukunft zu behalten – genau das, was George Orwell vorausgesagt hatte.
Übersetzung von P. Franke, Forum Arbeitswelten
Anmerkungen:
1. Vladimir Putin” On the Historical Unity of Russians and Ukrainians“, veröffentlich vom Kreml am July 12, 2021
2. vgl. Melvyn Goldstein, A Tibetan Revolutionary: The Political Life and Times of Bapa Phuntso Wangye, California Scholarship Online 2012
3. Wenweipo Online 11.3.2022 行動煽暴部曲四 (Der vierte Teil der Aufstachelung zur Gewalt in Aktion)
4. Borderless Movement 24.2.2022 在反戰也算分裂國家時代談談「民族自決」:反駁<亂港分子圖挑「抗爭」政界警告提防外力>一文 (Die Debatte über die „nationale Selbstbestimmung“ in einer Zeit, in der selbst die Kriegsgegner als Separatisten gelten. Eine Gegendarstellung zum Artikel „Politische Kreise warnen vor externen Kräften“.)
Die Nato hat sich nicht „ausgedehnt“, sondern souveräne Staaten haben offensichtlich dem großen Ex-Bruder im Osten nicht getraut. Aus langjähriger Erfahrung und sehr zurecht, wie man nicht erst seit Grosny, Sotchi (in dieser einstigen georgischen Großstadt wohnt heute kein einziger Georgier mehr), Krim usw. sieht. Das harsch kritisierte angebliche illegale Fortbestehen der Nato hat womöglich auch etwas mit einem gewissen roten Reisenriech im Fernen Osten zu tun…
In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 wurde seitens Russland anderen Staaten grundsätzlich zugestanden, der Nato (unter gewissen Bedingungen) beizutreten. Diese Grundakte ist ein vökerrechtlich gültiger *Vertrag*. Dies wird gerne verschwiegen, stattdessen auf unverbindliche Diskussionen bzw. Erinnerungen Beteiligter von Anno1991/92 verwiesen, wo man doch glase-klar versprochen hätte-und dann-grauensamer Wortbruch dingens. Das ist die putinsche Verschwörungs-Suada bis heute. Muß man ja nicht mitmachen.