vonMario Zehe 13.07.2018

[ˈkɒmik_blɔg]

Der Comic – einst das Schreckgespenst des Bildungsbürgers, heute dagegen der (heimliche) Liebling des Föjetong.

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Die wohl interessanteste Festlegung, was man denn eigentlich unter dem Begriff des Erzählens zu verstehen habe, stammt meiner Meinung nach von dem russischen Literaturwissenschaftler und Kultursemiotiker Jurij Lotman. Ihm zufolge haben wir es immer dann mit einer Erzählung zu tun, wenn der literarische Text (Roman, Film, Comic etc.) uns Leser*innen in die Lage versetzt, die Innenwelt unseres Denkens imaginär zu überschreiten und darüber nachzudenken, ob nicht alles auch ganz anders sein könnte oder gar sollte. Damit steht es im Kontrast zum mythologischen Denken, das das So-Sein unserer Welt affirmiert und vorschreibt. Den Kern von Narration nennt Lotman Sujet: Es stellt immer irgendeine Form von Grenzverletzung, Regelverstoß oder Erwartungsbruch durch eine oder mehrere literarische Figuren dar. Der Verlauf der Erzählung ist davon bestimmt, ob diese Verschiebung des Horizonts wiederum im Mythos gerinnen soll oder nicht, die Grenzen sozialer bzw. kultureller Selbstbeschreibungen verschoben werden sollen oder nicht besser doch zu den alten zurückzukehren sei.

Ich glaube, der russische Literaturwissenschaftler, der sich schon in den sechziger Jahren sehr für die Bewertung des Films als neue Erzählkunst stark machte, hätte seine große Freude an der Entwicklung der Comics während der letzten Jahrzehnte gehabt. Neben den beliebten Klassikern wie Asterix, Lucky Luke, den Peanuts oder Superheld*innen aller Art steht ein schon jetzt unüberschaubar werdendes Angebot an Comics, die die Grenzen unseres Sehens und Denkens erkunden, unbequeme Fragen bezüglich der Haltbarkeit unserer Annahmen über Identität, die Welt und das Sein stellen und ganz nebenher auch noch eine intensive Lektüre versprechen. In dieser Hinsicht habe ich mit zwei Comics, die mir zuletzt in die Hände geraten sind, allerdings sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Anfangen will ich mit Das leere Gefäß der Hamburger Künstlerin Magdalena Kaszuba, der laut Klappentext deren »Verlust der geistigen Heimat, der polnischen katholischen Kirche […], die streng katholische Großmutter, die Beichte vor der Kommunion und ihre Abkehr von alldem« verarbeitet. Das Versprechen auf Sujethaftigkeit ist hier jedenfalls maximal: Die Ich-Erzählerin und ihr Bruch mit dem Vertrauten, Erwarteten, wenn nicht gar mit dem Vorgeschriebenen und Gesetzmäßigen. Noch spannender wird diese Konstellation dadurch, dass das hier beschriebene Weltbild, dem schließlich der Rücken gekehrt werden soll, also der strenge Katholizismus in Polen, den meisten deutschen Leser*innen sehr wenig bis überhaupt nicht vertraut sein wird. Ergo Alteritätserfahrung allenthalben; Jurij Michailowitzsch Lotman würde sich wohl vor Vergnügen die Hände reiben…

© Magdalena Kaszuba & avant-verlag 2018

Den Rahmen bildet ein Spaziergang Magdalenas durch das novembergraue und -triste Hamburg. Die menschenleeren Straßen, Wege und Promenaden geben ihr die Möglichkeit, sich treiben zu lassen und ihren Gedanken nachzuhängen. Immer wieder wird sie durch bestimmte Orte, Gegenstände oder Geräusche an ihre alte Heimat erinnert und vertieft sich mehr und mehr in einen Gedanken, der um ein zentrales Ereignis ihrer Kindheit kreist, welches sie für immer verändern sollte: Es handelt sich um die erste Beichte vor ihrer Kommunion, wo sie der Übergriffigkeit des zuständigen Priesters ausgesetzt wird. Nicht vornehmlich sexuell, aber er respektiert ihre Privatsphäre nicht und stellt hartnäckig ihre Glaubwürdigkeit in Abrede. Aus dieser misslichen Lage kann sie sich paradoxerweise nur befreien, indem sie ihm die Hucke volllügt und eine begangene Sünde nach der anderen erfindet. Diese Erfahrung wird zum traumatischen Ereignis, der einen nicht mehr zu kittenden Bruch mit Glauben und Kirche zur Folge hat.

© Magdalena Kaszuba & avant-verlag 2018

Vor allem die zeichnerischen Fähigkeiten der Comicautorin machen diese Erinnerung in ihrer ganzen abgründigen und albtraumhaften Dimension erfassbar: Per Bleistiftzeichnung und Aquarellmalerei wird die Szenerie von anfangs recht realistisch wirkenden Zeichnungen ins Gespenstische verschoben: Magdalenas Kopf löst sich angesichts der drängenden Priesterfragen in einem weißen Nebel auf, während er zur schwarzen Silhouette gerät, von der sich nur die Augen, Hände und der Kragen des Priesters mit furchtbar strahlendem Weiß abheben. Schließlich verwandelt er sich in ein schwarzes Raubtier, das sein Opfer umkreist und so in die Enge treibt. Man versteht in dieser intensiven Lektüre ohne viele Worte, dass die persönliche Integrität des Kindes und die Welt der polnisch-katholischen Kirche ab diesem Moment schlicht zwei unvereinbare Tatsachen darstellten, die eine Entscheidung für das eine oder das andere verlangten.

Die davor liegenden 2/3 des Buches plätschern jedoch meiner Meinung nach etwas zu sehr vor sich hin. Man ist sehr bei der jungen Autorin und ihrer Reflexion von Kindheitserinnerungen, allerdings wäre es interessanter gewesen, noch mehr die Perspektive des Kindes, das sie damals war, einzunehmen und in diese fremdartige Welt aus Katechismus, alltäglichen Bibelgeschichten und Heiligenbildnissen einzutauchen. So wäre zumindest jene explosionsartige Selbstentfremdung im Augenblick der Beichte besser begreiflich geworden. Irgendwie bleibt selbst in jenem Moment noch eine befremdliche Distanz, der meiner Meinung nach aber keine Erkenntniskritik zugrunde liegt, sondern ein Versäumnis im Aufbau der erzählten Welt, wie sie sich vor Entfremdung und Abkehr der Protagonistin darstellt.

Auch in Die Welt der Söhne des Comickünstlers Gipi gibt es diese Unzugänglichkeit der Welt vor dem sujethaften Bruch mit derselben. Allerdings ist die fehlende Zugänglichkeit dieser Welt hier einfach nur logisch: Der Comic beschreibt nämlich ein postapokalyptisches Szenario, in dem zwei junge Männer zusammen mit ihrem Vater in einer unwirtlichen, teils feindlichen Umgebung zu überleben versuchen. Anders als Letzterer besitzen die beiden Protagonisten keine Erinnerung an die Zeit davor, weil der eine noch gar nicht lebte und der andere zu jung für jede bleibende Erinnerung war. Vom Vater, der sich ganz auf die Härte der ihnen gegenwärtigen Zeit eingestellt hat, ist ein Rückblick allerdings auch nicht zu erwarten.

© Gipi & avant-verlag 2018

Wir können als Leser*innen aber wohl getrost annehmen, dass uns die alte Welt wohl irgendwie bekannt vorkäme und sich maximal unterscheidet von dem entbehrungsreichen Leben nach der Katastrophe – die im Buch nur das ›Ende‹ genannt wird. Doch jedes Ende ist bekanntlich auch immer der Anfang von etwas Neuem. Hier gilt diese Sentenz einmal mehr, als der schützende und versorgende, aber auch überstrenge Vater stirbt und die beiden jungen Männer – entgegen dem väterlichen Verbot – in ihnen unbekanntes Territorium aufbrechen. Sujethaftigkeit gibt es also auch hier noch und nöcher!

In Puncto Zeichenstil entfaltet Gipi das absolute Kontrastprogramm zu Magdalena Kaszuba. Statt auf farbig aquarellierte Flächen setzt er auf Striche bzw. Linien und einen strengen Schwarz-Weiß-Kontrast. In der Konsequenz bestimmt am Tage eine tristes Grau die einzelnen Panels und in der Nacht ein düsteres Grau-Schwarz. Das gibt der erzählten Welt den passenden ästhetischen Ausdruck, weil hier zwischen Tristesse und absoluter Grausamkeit nichts weiter geschieht. Momente der Liebe, des Glückes, des Humors oder der geteilten Freude sind jedenfalls rar gesät.

© Gipi & avant-verlag 2018

Zumindest sind jedoch die beiden Waisen durch ein starkes unsichtbares Band miteinander verbunden, was spätestens in dem Moment von Bedeutung ist, in welchem sich das väterliche Verbot als durchaus begründet erweist und sich eine Gefahr auftut, die sie zu verschlingen droht. Sie bekommen es nämlich mit einer kriegerischen Sekte zu tun, die sich ›Die Gläubigen‹ nennt und permanent Jagd macht nach Opfern für ihre mehr als bizarren Vergewaltigungs- und Verstümmelungsorgien.

Ein weiteres sujethaftes Ereignis besteht denn auch darin, dass in dieser lebensfeindlichen Welt, in der (mit Plautus bzw. Hobbes gesprochen) der Mensch dem Menschen einzig ein Wolf ist, etwas anderes möglich ist als gegenseitiges Übervorteilen, Berauben oder Abschlachten. Um die beiden Brüder herum entsteht schließlich eine kleine Gruppe, deren Mitglieder den Ausbruch aus dieser albtraumhaften Realität wagen wollen: »Am anderen Ufer des Sees, vielleicht gibt es da Leute […] anständige Leute […] die anderen nicht das Gesicht fressen«. Gipis große Erzählkunst besteht darin, dass er mit diesen wenigen, eigentlich sehr grausamen Worten plötzlich so etwas wie Hoffnung aufkeimen lässt. Hoffnung auf eine Welt, in der Liebe, Glück und geteilte Freude (wieder) möglich sind.

Magdalena Kaszuba: Das leere Gefäß, avant 2018. 152 S., vierfarbig, Softcover, Preis: 20 €; ISBN: 978-3-945034-86-6; Leseprobenlink.

Gipi: Die Welt der Söhne, avant 2018. Übersetzung aus dem Italienischen von Myriam Alfano. 288 S., s/w, Hardcover, Preis: 30 €; ISBN: 978-3-945034-80-4; Leseprobenlink.

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