Was haben Marco Polo und Neil Armstrong gemeinsam? Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der venezianische Kaufmannssohn gegen Ende des 13. Jahrhunderts lange Jahre durch China reiste und der aus Ohio stammende NASA-Pilot 1969 als erster Mensch den Mond betrat. Und dennoch bereitet(e) der Zweifel an mindestens einer der beiden ›Erzählungen‹ vielen Menschen mehr Freude, als einfach daran zu glauben. Das war vor achthundert Jahren nicht anders als heute.
Mit diesem Zweifel (und seiner doppelbödigen Widerlegung) beginnt Comicautor Joachim Brandenberg seine grandiose und hoch philosophische Graphic Novel EIN KLEINER SCHRITT FÜR DIE MENSCHHEIT, wo im Jahre 1325 in einem gegen Signore M. Polo angestrengten Prozess drei Wissenschaftler die Richtigkeit seiner Reiseschilderungen bestätigen. Nicht etwa, weil sie irgendwelche Beweise hierfür erlangt oder gar mit dem Handelsreisenden persönlich gesprochen hätten. Nein, die drei finden dessen Behauptungen schlicht zu banal, um sie für eine Erfindung zu halten. Angesichts ihrer eigenen Mission scheint das verständlich, denn ihnen schwebt nichts geringeres vor, als die erstmalige »Besteigung« des Mondes. Da dieser genau wie die Sonne im Osten aufgeht, heißt es nun also, auf Marco Polos Spuren zu wandeln und darüber hinaus endlich wahres Neuland zu betreten.
Mit dem Sujet seiner grafischen Erzählung fühlt Autor Brandenberg einem vom Zeitgeist umwehten Phänomen auf den Zahn: das Prinzip der Grenzüberschreitung (Transgression). Überschreitung, Öffnung und Austausch sind längst Chiffren eines spätmodernen Diskurses geworden, der das einstmalige Leitmotiv der künstlerischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zu einem Fundamentalprinzip individueller Lebensführung und gesellschaftlicher Organisation erklärt. Alles was trennt, soll überwunden werden; alles was getrennt ist, muss verbunden werden. In vielerlei Hinsicht ist Transgression zwar tatsächlich zu begrüßen, man denke an die Aufweichung nationaler Grenzen oder rigider Geschlechterzuordnungen; aber man darf nicht übersehen, dass auch Kolonialismus oder sexuelle Übergriffigkeit höchst transgressive Phänomene sind. Es scheint an der Zeit, zu fragen, ob nicht auch hier und da Grenzen ihre Daseinsberechtigung haben, und ob wirklich jede Überschreitung unseres Wissens- und Erkenntnishorizontes bereichernd wirkt.
Ich verstehe den vorliegenden Comic so, dass er genau diese Frage be- und verhandelt. Da sind nun die drei Wissenschaftler mit ihrem aberwitzigen Vorhaben der Erklimmung des Mondes, welche eine Reise antreten, die sie an den Rand der Welt führen soll. Den können sie aufgrund der Kugelgestalt der Erde zwar nicht erreichen, dafür bringt sie die strapazenreiche und ohne gewünschte Ergebnisse bleibende Reise an und über die Grenzen ihrer eigenen Zurechnungsfähigkeit. Während sich der eine die karge Wüste Gobi zu einer blühenden Mondlandschaft phantasiert, samt eigenwilliger, aber äußerst gastfreundlicher Bewohner, verliert der andere jeden Bezug zur Realität, weil deren Anerkennung das Eingeständnis des eigenen Scheiterns zur Folge haben müsste. Nur der Dritte im Bunde bleibt einigermaßen klar und beobachtet, wie hier der Versuch, die kognitive Matrix der Exzentrizität auszuspiegeln, unweigerlich im Wahnsinn endet: die Matrix bricht zusammen, es gibt keine Ordnung, keinen Sinn und keinen Verstand mehr.
Am 21. Juli 2019 jährt sich die erste bemannte Mondlandung bereits zum fünfzigsten Mal. Wahrscheinlich werden diejenigen, die auch nur leise Zweifel am Sinn des ganzen Apollo-Raumfahrtprojekts anmelden, genauso behandelt werden, wie die, welche die Mondlandungen gleich ganz im Reich der Fiktionen ansiedeln: als ewige Nörgler und unverbesserliche Spinner eben. Es gibt jedoch gute Gründe, sich auf deren Seite zu schlagen. Denn vielleicht hätten wir ja die zentralen ökologischen Probleme unserer Zeit schon längst im Griff, wenn wir nicht insgeheim darüber phantasierten, dass wir im Angesicht eines kollabierenden Planeten Erde irgendwo da draußen Zuflucht suchen und von vorn beginnen könnten. (Eine völlig verrückte Vorstellung, sollte man jedenfalls meinen.) Und wer sagt eigentlich, dass wir dort willkommen wären? Hat sich eigentlich schon mal jemand gefragt, ob der Mond überhaupt besucht werden will? Joachim Brandenberg hat es getan und eine auf subtiler Komik sowie wundervollen Zeichnungen aufbauende Geschichte geschaffen, die ebenso unterhält wie sie zum Nachdenken anregt. Vor allem in den großformatigen Splashpanels zeigt Brandenburg, dass er nicht nur ein begnadeter Erzähler, sondern auch ein großartiger Illustrator ist.
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Joachim Brandenberg: Ein kleiner Schritt für die Menschheit, JAJA Verlag (Berlin) 2019.