vonMario Zehe 30.12.2020

[ˈkɒmik_blɔg]

Der Comic – einst das Schreckgespenst des Bildungsbürgers, heute dagegen der (heimliche) Liebling des Föjetong.

Mehr über diesen Blog

Bekanntlich gehört zu jeder gesunden sexuellen Beziehung auch eine aggressive Einfärbung. Ausdrücke wie, eine/n (potentielle/n) Sexualpartner*in „nehmen“ oder „besitzen“ zu wollen, weisen in Richtung dieses Zusammenhangs von Libido und Aggressivität. Ungesund wird es immer dann, wenn das sexuelle Verlangen einer bzw. einem der Beteiligten aufgezwungen wird bzw. auf deren/dessen Verletzung oder gar Vernichtung abzielt. Die Grenze zwischen den beiden Spielarten scheint sich auf den ersten Blick klar ziehen zu lassen: Einvernehmlichkeit und Simulation hier, Übergriffigkeit und Körperverletzung dort.

Dass es dann doch nicht ganz so einfach ist, zeigen die immerwährenden Diskussionen über die pornografische Zurschaustellung von Gewalt in Film, Literatur, Computerspielen und Comics. Was ist (unerlaubte) Gewaltpornografie und ab wann handelt es sich um (legale) sadomasochistische Darstellungen? In dieses Minenfeld hat sich die Comicautorin Nina Bunjevac mit ihrer Graphic Novel BEZIMENA begeben, und das durchaus provokant. Denn die grafische Erzählung, die um die virulente Frage kreist, wie sexualisierte Gewalt in die Welt kommt, konfrontiert die Lesenden mit höchst ansprechenden erotischen Bildern, die sadomasochistische Praktiken pornografisch in Szene setzen.

Den Anfang macht die Geschichte jedoch mit einem Tausch der Geschlechtsidentität: Aus einer jungen Priesterin wird, nachdem eine alte Frau namens Bezimena sie in einem kleinen See ertränkt, als Benny wiedergeboren. Der Junge entwickelt ein obsessives Verhältnis zu seiner Sexualität und zieht sich infolge der sozialen Sanktionen durch Schule und Elternhaus mehr und mehr in seine eigene Welt zurück. Als gesellschaftlich Ausgestoßener beschränkt er sich als junger Mann in sexueller Hinsicht auf die Rolle des Voyeurs in den Parks des zoologischen Gartens, bis ihm eines Tages das Skizzenbuch einer von ihm beobachteten ehemaligen Mitschülerin in die Hand fällt. Das Buch enthält zahlreiche pornografische Zeichnungen, die ihn selbst beim Sex mit verschiedenen Frauen zeigen. Auf wundersame Weise realisieren sich in der folgenden Zeit die gezeichneten Sexfantasien, und das Skizzenbuch wird für Benny zur Schwelle zu einem aktiven Sexualleben. Zwischen den ekstatischen Erlebnissen plagen ihn Albträume voll mit rätselhaften Andeutungen, er gerät mehr und mehr in einen tranceartigen, weltentrückten Zustand. Bis schließlich das schreckliche Erwachen folgt, dass ihn mit der infernalischen Wahrheit seiner sexuellen Ausschweifungen konfrontiert.

© avant-verlag 2020

Beinahe hegelianisch inszeniert Bunjevac die wahnhafte Entrückung ihres Protagonisten grafisch als Nacht der Welt, die Aufteilung jeder Doppelseite folgt dabei einem strengen Prinzip: rechts wortlose, schraffierte Schwarz-Weißzeichnungen, links vor dem Hintergrund des ewig gleichen schwarzen Sternenhimmels in Textblasen der Erzählerkommentar. Zahlreiche Abbildungen zitieren vorchristliche Mythologien und verweisen z.B. auf die Unfähigkeit zur (Selbst-)Erkenntnis (Eule der Minerva) oder den voyeuristischen Aspekt der Sexualität (Artemis und Aktaion). Überhaupt ist das Anblicken und Erblickt werden sehr präsent, nicht zuletzt in Form zahlreicher Fenster- und Spiegelmetaphern, die sich durch das Buch ziehen und unweigerlich an Lacans schillernde Relektüre der Psychoanalyse erinnern, in der die konstitutive Funktion des Wahns und des Narzissmus für die menschliche Psyche herausgearbeitet wurde.

Durch die vielen intertextuellen Verweise und die vertrackte Erzählweise gerät BEZIMENA beinahe genauso rätselhaft schillernd wie Lacans ECRITS. Aber eben auch so unverständlich und schwer verdaulich. Tatsache ist, dass in Nina Bunjevacs grafischer Erzählung zahlreiche Fährten gelegt werden, sie aber nicht in einem Punkt der Erkenntnis zusammen laufen. Vielleicht ist das aber auch genauso ganz gut, die Erzählung verstört und wirft Fragen auf. Und damit wäre schließlich eine der wesentlichen Aufgaben der visuellen und erzählenden Künste erfüllt.


Nina Bunjevac: Bezimena, avant 2020. 224 Seiten, Hardcover, 21,5 x 28 cm, s/w

ISBN: 978-3-96445-032-6

https://www.avant-verlag.de/comics/bezimena/

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/comicblog/2020/12/30/from-sketchbook-to-hell/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert