vonMario Zehe 29.04.2022

[ˈkɒmik_blɔg]

Der Comic – einst das Schreckgespenst des Bildungsbürgers, heute dagegen der (heimliche) Liebling des Föjetong.

Mehr über diesen Blog

Wussten Sie, dass das weltberühmte Plattenlabel Blue Note Records von zwei jüdischen Emigranten aus Deutschland gegründet wurde? Dass jüdischen Résistance-Kämpferinnen wie Fanny Azenstarck nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Frankreich noch lange Zeit die Anerkennung als Widerstandskämpferinnen versagt wurde, während die Männer der Résistance problemlos diesen Status erhielten? Oder dass um 1800 eine jüdische Räuberbande, angeführt von Abraham Picard, das Grenzgebiet zwischen Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland unsicher machte?

Die Anthologie NÄCHSTES JAHR IN mit grafischen Erzählungen namhafter Comicautor*innen wie Simon Schwartz, Barbara Yelin, Tobi Dahmen, Hannah Brinkmann und zahlreichen anderen wirft einen Blick auf deutsch-jüdische Geschichte aus fünf Jahrhunderten und stößt dabei auf Bekanntes wie auch auf Vergessenes und lange Verdrängtes. Antje Herden und Jonas Engelmann, zwei der Herausgeber*innen des Bandes, liefern zu den einzelnen Bildgeschichten kurze Infotexte und bildliches Anschauungsmaterial. Erschienen ist der Band übrigens bei Ventil, eigentlich kein klassischer Comicverlag, sondern ein eher akademischer Verlag für Publikationen aus dem Bereich der Cultural Studies und Gesellschaftswissenschaften.

Miriam Werner/Monika Port: Jüdische Gegenwart © Ventil Verlag 2021

Der kürzeste Comic – DIE DARMSTÄDTER HAGGADA – umfasst gerade mal drei Seiten und handelt von einem Arzt aus Wertheim, der um das Jahr 1500 herum vom Darmstädter Grafen gerufen wird, um dessen schwer erkrankten Sohn zu heilen. Der Comic orientiert sich in gestalterischer Hinsicht an der mittelalterlichen Haggada, einer bebilderten Handlungsanweisung für die zeremonielle Mahlzeit am Beginn des Pessach-Festes. Autor Simon Schwartz gelingt es auf diesen wenigen Seiten, einen Eindruck von den Möglichkeiten und Einschränkungen jüdischen Lebens sowie jenen Vorbehalten zu vermitteln, mit denen in Spätmittelalter und Neuzeit die christliche Bevölkerung den jüdischen Mitmenschen in der Regel begegnete. Mit dreizehn Seiten ist dagegen die Geschichte über den bildenden Künstler Ludwig Meidner eine der längeren Comicerzählungen des Bandes. Meidner war ein expressionistischer Maler und Grafiker, der als von den Nazis verfemter „entarteter Künstler“ nach 1939 im englischen Exil lebte und schließlich – nicht zuletzt wegen seiner dortigen prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen – 1953 nach Deutschland zurückkehrte. Die Comiczeichnerin Büke Schwarz interessiert sich dabei vor allem für Meidners ästhetisch Auseinandersetzung mit dem hektischen Leben (in) der Großstadt des frühen 20. Jahrhundert und dessen künstlerische Prägung durch die Schulen des Kubismus und Futurismus, deren Formensprache(n) sich letztlich auch in der Gestaltung der Panels niederschlägt.

Büke Schwarz: Ludwig Meidner © Ventil Verlag 2021

Beeindruckend anzusehen ist auch und insbesondere Barbara Yelins grafische Umsetzung des berühmten Gedichtes KEIN KINDERLAND von Mascha Kaléko, das von einem traumatisierten Menschen auf der Flucht handelt, der sowohl in der Fremde als auch in der alten Heimat kein wirkliches zu Hause finden kann. Yelins teils aquarellierte Kohle- bzw. Kreidezeichnungen sind sehr düster gehalten und zeugen von unwiederbringlichem Verlust und tief sitzendem Schmerz. Diesbezüglich zeigt sich zwischen Antje Herdens und Jonas Engelmanns Einschätzungen zur Frage der Heimatlosigkeit der deutschen Juden aufgrund von Diskriminierung, Verfolgung, Flucht und Vertreibung eine interessante Differenz: Während Herden insbesondere das Unglück und Leiden der heimatlos gewordenen bzw. gemachten Menschen herausstellt, sieht Engelmann in der Kultur – sei es bildender Kunst, Literatur oder Popkultur – für die Betroffenen eine Art Ersatzheimat, die es ihnen in erlaubte trotz allem (also auch nach Auschwitz) weiterzumachen. Ist das „Nirgendland“ in Mascha Kalékos Gedicht nun die endgültig verlorene und schmerzlich vermisste Heimat oder der gewonnene Nicht-Ort, der Hybridität zulässt und kulturelle Dynamik erzeugt, wenn auch teuer erkauft? Vermutlich ist beides richtig.


Meike Heinigk/Antje Herden/Jonas Engelmann/Jakob Hoffmann (Hg.): Nächstes Jahr in – Comics und Episoden des jüdischen Lebens, Ventil 2021.

 

 

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/comicblog/2022/04/29/nirgendland/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert