Ein Mann wälzt sich in seinem Bett liegend hin und her. Er sucht den Schlaf, findet ihn aber nicht, fasst sich an die Stirn, als prüfte er seinen Gesundheitszustand, und richtet sich schließlich, die Hände vor dem Gesicht gefaltet, verzweifelt und erschöpft auf. Man hat keine Hinweise hinsichtlich der zeitlichen Rhythmisierung der aus fünf Einzelbildern aufgebauten Sequenz: Zwischen diesen Bildern können Sekunden, aber auch Stunden liegen. Insomnische Nächte haben die Fähigkeit, sich ins zeitlich Unendliche zu dehnen und die mit ihr verbundenen Qualen sehr lang dauern zu lassen.
Die Grafikdesignerin und Comiczeichnerin Jennifer Daniel hat diese eindringliche Sequenz ungefähr in die Mitte ihrer jüngst erschienen Graphic Novel DAS GUTACHTEN platziert. Sie zeigt einen Menschen, der mit der Welt und vor allem sich selbst ringt. Mehrmals in seinem Leben hat er eine falsche Entscheidung getroffen und damit große Schuld auf sich geladen. Einmal als junger Wehrmachtssoldat im Zweiten Weltkrieg, der seinen verletzten Freund auf Befehl eines Offiziers im Stich ließ und bei der Landung der Alliierten in der Normandie am MG unzählige Menschenleben auslöschte, nun als Mann mittleren Alters, der im alkoholisierten Zustand als Zeuge eines Unfalls anstatt Hilfe zu leisten, die Flucht ergriff. Tagsüber ertränkt Herr Martin, der Protagonist der Geschichte, seinen Kummer in Alkohol, nachts suchen ihn Albträume und Schlaflosigkeit heim.
Der Komplex aus Schuld und Verdrängung ist hier zunächst ein persönlicher, verweist aber auch auf die bis weit in die siebziger Jahre vorhandene kollektive Unfähigkeit der Deutschen, die im Zeichen von Rassenwahn und Weltherrschaftsfantasien begangenen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges wenigstens zu thematisieren. Da eine Sympathisantin der RAF (nicht zuletzt auch eine direkte Folge der verweigerten bundesrepublikanischen Erinnerungspolitik) und ihr kleiner, vierjähriger Sohn Opfer des oben besagten Unfalls waren, verstricken sich in Daniels grafischer Erzählung persönlicher und kollektiver Schuldverdrängungskomplex ineinander.
Die beschriebene Sequenz endet auf der Folgeseite in einem Splashpanel und markiert einen Wendepunkt der Geschichte. Langsam durchflutet das Licht des anbrechenden Tages die am Fenster gelegene Seite des Bettes, auf dessen Kante Herr Martin nun sitzt und nach draußen schaut. Auf der anderen Seite liegt schlafend seine Frau, noch ins Dunkel der Nacht gehüllt. Martin, Fotoassistenz eines gerichtsmedizinischen Institutes, wird sein forensisches Wissen von nun an in den Dienst der Aufklärung des Unfalles stellen und dabei seinen eigenen Untergang in Kauf nehmen.
Neben die Frage der persönlichen Verantwortung für die unterlassene Hilfeleistung gesellt sich nun die Suche nach den bzw. dem Verantwortlichen des Unfalls. Aus dem Entwicklungsroman wird zusehends ein Kriminalroman, angereichert mit weiteren interessanten Motiven, die nicht nur die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Siebziger Jahre spiegeln, in denen die Geschichte zeitlich angesiedelt ist, sondern auch in mehrfacher Hinsicht einen Bogen zur Gegenwart schlagen.
Da ist zum einen die auffallend strikte Trennung der Lebenswelten der „einfachen Leute“ einerseits und der „Eliten“ andererseits: Während sich Herr Martin und dessen Kollegen in einem schummrigen Lokal namens Zum Goldenen Sak [!] bei Bier, Korn und Karten die Zeit vertreiben, wird seinem Vorgesetztem – einem Professor der Rechtsmedizin – bei einer Gala des Bundeskanzleramtes Champagner kredenzt. Dieser nutzt die Gelegenheit für ein Stelldichein mit Größen der Bundespolitik. Diese Trennung durchzieht mehrfach ein populistisches Moment. Etwa, wenn ein Kollege Martins beim Kartenspiel über die Eskapaden von „denen da oben“ wettert, erst recht aber, wenn der Protagonist der Geschichte in seinen Aufklärungsbemühungen auf ein Komplott stößt, das die Beteiligung eines führenden Politikers an dem Autounfall vertuschen soll und bis in das Büro seines Vorgesetzten reicht.
Mit der Suche nach dem Corpus Delicti verbindet sich ein weiteres, wenn nicht gar das zentrale Motiv der Geschichte. Ob im Streit des Vaters und der Großmutter über eine angemessene Anerkennung der bestandenen Führerscheinprüfung des (Enkel-)Sohns, das detaillierte Nachvollziehen des Arbeitsweges Martins im zähflüssigen Berufsverkehr, Dialoge über Ente, Käfer und S-Klasse-Mercedes als Statussymbole und Lebenseinstellung und nicht zuletzt der (manipulierte) Sportwagen, den der Professor der Gerichtsmedizin seinem allzu neugierigen Untergebenen „freundlicherweise“ für eine Spritztour zur Verfügung stellt. Die Darstellung und die Thematisierung von Automobilität und Straßenverkehr durchzieht die Geschichte von Anfang bis Ende. In zeithistorischen Geschichtscomics hat das Automobil eine wichtige Funktion als chronologischer Marker und zeitliches Kolorit, hier hat es aber auch eine inhaltliche Seite.
Der motorisierte Individualverkehr war das einigende Band der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Selbst die radikale Linke stellte das lange Zeit nicht infrage. Ein wahrnehmbares ökologisches Bewusstsein entwickelte sich erst in den frühen Achtzigerjahren und damit auch die Keimzelle der zunehmenden Infragestellung dessen, was bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Pädagoge Michael zu Pidoll „Automobilismus“ nannte: Das Auto als gesamtgesellschaftliches Selbstverständnis in Form eines – wenn auch nie wirklich eingelösten – objektivierten Freiheitsversprechens. „Wenn es doch nur Autos wären“ sagt am Ende der Unfallverursacher zynisch lachend. Denn in Wahrheit sind es hoch gefährliche Fetischobjekte. Den Preis des Autofetischs haben in den vergangenen hundert Jahren meist die Schwächsten bezahlt, überproportional Nichtmotorisierte und vor allem Kinder.