Der politische Schriftsteller und Taz-Kolumnist Robert Misik hat in seinem vor einigen Jahren erschienen Buch WAS LINKE DENKEN beschrieben, wie politische Theorien in das Alltagswissen politisch denkender Menschen eingeschrieben sind, ganz ohne ausgiebige Lektüren entsprechender Theorie-Konvolute: „Was von irgendjemand einmal aufgeschrieben wurde, wird dann von Leuten geteilt, die das möglicherweise nie gelesen haben, vielleicht von dem Philosophen und Theoretiker, der die entsprechende These ursprünglich entwickelt hat, noch nicht einmal gehört haben.“
Das gilt wohl auch für poststrukturalistische Theorien von Politik und Gesellschaft, denen ja oft nachgesagt wird, mit ihrer Fokussierung auf Sprachspiele und Zeichensysteme einerseits die gesellschaftliche (materielle) „Wirklichkeit“ zu vernachlässigen und andererseits schwer verständliche, hermetische Texte zu produzieren, mit denen sich praktisch nichts anfangen ließe. Dass sich die einst meist wahrlich umständlich formulierten Thesen poststrukturalistischer Theoretiker*innen ganz einfach und praktisch darstellen lassen, ohne dass dabei explizit auf den Ursprung der Gedanken eingegangen werden muss, möchte ich hier anhand dreier kürzlich erschienener Kinderbücher zeigen.
Rhizom
Das erste Buch, das hier interessiert, ist das illustrierte Sachbuch WO KOMMST DU DENN HER? der beiden MISSY MAGAZINE-Redakteurinnen Sonja Eismann und Naira Estevez. Ausgehend von der titelgebenden Frage zeigen die Autorinnen, dass die Identität eines jeden Menschen von weit mehr und oft wichtigeren Faktoren bestimmt wird als dem Geburtsort oder der Herkunft der Eltern bzw. Großeltern. In 20 doppelseitigen sehr alltagsnahen Lektionen wird gezeigt, wie z.B. Kunst, Musik, Mode, Familie, Freund*innen, Feste, Essen, Düfte, Gerüche, Wohnen und Reisen unser Ich weit mehr prägen als die Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer ethnischen Gemeinschaft.
Zwar lassen sich die Ausführungen der Autorinnen unter dem Label „linke Identitätspolitik“ verschlagworten, der es darum geht aufzuzeigen, dass bestimmte Menschen/-gruppen unter der permanenten Frage nach ihrer „eigentlichen“ Herkunft leiden, weil sie so als nicht (ganz) zugehörig erscheinen. Die daran anschließende Argumentation, wie komplex, vielschichtig und widersprüchlich menschliche Identitäten tatsächlich beschaffen sind, hat aber einen ganz bestimmten theoretischen Unterbau, ganz gleich ob das Eismann und Estevez so bewusst bzw. überhaupt bekannt war.
Es handelt sich dabei um Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Konzept der rhizomatischen Organisation und Beschreibung von Wissen. Unter einem Rhizom versteht man kurz gesagt ein wurzelartiges Geflecht, dass anders als z.B. eine Baumwurzel nicht auf einen Stamm zuläuft, sondern sich vielfach ineinander verknotet. Es gibt also keinen Hauptstrang, sondern ein Geflecht von Strängen, in dem es keinen klar ersichtlichen Anfang, kein oben und unten gibt.
Bei Eismann und Estevez organisiert sich Identität insofern rhizomatisch, da diese nicht auf linear nachzuvollziehende Abstammung („Stammbaum“) reduziert wird, sondern ein verschachteltes, nicht hierarchisch strukturiertes Netzwerk unterschiedlichster Kritierien (Träume, Erinnerungen, Zukunftserwartungen etc.) darstellt. Nach der Lektüre des Buches sollte man verstanden haben, dass die Frage nach der Herkunft nicht nur eine oft unsensibel gestellte, sondern tatsächlich eine „falsche“ ist. Zumindest wenn es den Fragenden wirklich darum gehen sollte herauszufinden, wen man da gerade vor sich hat.
Antagonismus
Daniel Fehr und Mariachiara Di Giorgio greifen in ihrem Bilderbuch WIR BAUEN EINEN DAMM implizit auf eine andere poststrukturalistische Gesellschaftstheorie zurück. Es geht darin um einige Kinder, die an einem Fluss einen Damm errichten, indem sie nach und nach Stein für Stein übereinanderstapeln. Beim Bau bekommen sie Hilfe ganz unterschiedlicher Personen: zunächst die Besatzung des königlichen Schiffes, einschließlich des Königs selbst, und später gesellen sich noch Fischer und Piraten dazu. Als eines der Kinder seinen Stein zurückhaben möchte und aus dem Damm herauszieht, stürzt das Bauwerk abrupt in sich zusammen.
Meiner Meinung nach illustriert das Buch ganz gut das Antagonismus-Konzept des Politischen Philosophen Ernesto Laclau und der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe. Diesen zufolge ist die fundamentale Gespaltenheit von Gesellschaft und der daraus resultierende kämpferische Charakter von Politik kein außerordentliches Krisenphänomen, sondern der Regelfall – wenn auch nicht unbedingt offen zutage liegend. Gesellschaft organisiert sich stets nach zwei widerstreitenden („antagonistischen“) Prinzipien: Demnach schließen sich Menschen zu kollektiven Identitäten zusammen, indem sie sich von einem Außen (also dem, was sie nicht sind bzw. sein wollen) abgrenzen und dadurch Gemeinsamkeit und Zusammenhalt erfahren. Allerdings behält diese „Logik der Äquivalenz“ nicht dauerhaft die Oberhand, sondern gerät in Bedrängnis durch das, was Laclau und Mouffe die „Logik der Differenz“ nennen: persönliche Interessen und Neigungen, soziale Ungleichheit, politische Hierarchien und das individuelle Streben nach Freiheit. Gesellschaftliche bzw. politische Krisen treten immer dann auf, wenn das Gegeneinander der beiden Prinzipien aus dem Gleichgewicht gerät und sich – und das ist jetzt sehr poststrukturalistisch gesprochen – das Außen innerhalb des Systems bemerkbar macht.
In Fehrs und Di Giorgios Bilderbuch werden Gemeinsamkeit und Zusammenhalt durch die Errichtung eines Dammes verwirklicht. Die Kinder arbeiten Hand in Hand und können dabei zusehen, wie ihr je persönlicher Beitrag nach und nach zu einem Ganzen zusammenwächst. Dieser aus aufeinander geschichteten Steinen erbaute Damm entspricht genau dem, was mit der Abgrenzung zu einem Außen gemeint ist: Hier ist es die Errichtung einer unpassierbaren Grenze zwischen den beiden Seiten des Bauwerkes und die Einhegung des bis dahin ungehindert strömenden Fließgewässers, einer gewaltigen Naturkraft.
Dadurch werden schließlich Fischer angelockt, die sich in der Nähe des Dammes ansiedeln. Auch Piraten kommen dazu und ein Schiff der königlichen Marine. Alle verfolgen je ihr Eigeninteresse, doch vor dem Damm sind sie alle gleich. Selbst der König legt nach einigem Sträuben beim Bauwerk Hand an und hilft mit. Man kann hier der Vergesellschaftung also förmlich zusehen. Doch vergessen wir nicht die Kehrseite dieser Logik der Äquivalenz: Ein kleiner Junge, der den Bau des Dammes mal mehr, mal weniger interessiert und eher aus der Distanz verfolgt und doch sporadisch mithilft, kommt plötzlich auf die Idee „seinen“ Stein wieder aus dem Bauwerk zu entfernen. Das Unvermeidliche geschieht und der instabil gewordene Damm stürzt unter dem Druck der Wassermassen (das „Außen“) in sich zusammen.
Ist das Gemeinschaftsprojekt der Kinder dadurch gescheitert? War nun alles umsonst? Mit Laclau und Mouffe gesprochen könnte man sagen, dass hier nur ein aus dem Gleichgewicht geratenes soziales System an der totalen Schließung gehindert wurde. Differenz und das Eindringen des Außen ermöglichen Selbstkritik und Neuerfindung: Triefnass kommen die Kinder nach Hause und sinnieren eingehüllt in warme Decken schon über den Bau eines größeren, viel mächtigeren Dammes, der sogar die Schiffe des Kaisers anlocken könnte …
Heterotopie
Der französische Philosoph Michel Foucault interessierte sich in seinen Arbeiten vor allem für gesellschaftspolitische Fragen, allerdings mit einer auf metasoziologischer Ebene angesiedelten Fragestellung: Auf welchem Wissen und welchen Wahrheiten gründen sich unsere Annahmen gesellschaftlicher Zusammenhänge? Da bei dem Zustandekommen dieses Wissens und jener Wahrheit Zwang, Kontrolle und Exklusion eine wichtige Rolle spielen, sinnierte Foucault gern über die Möglichkeiten des Sich-Entziehens und der Etablierung von Gegenordnungen. Zu diesem Feld gehört auch das Konzept der Heterotopie („Anderer Raum“): Hier realisieren sich ganz konkret soziale Utopien, als Gegenwelten zu den Ordnungs- und Machtstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Als räumlich abgegrenzte Orte in einer Gesellschaft liefern sie ein Gegenbild der Gesamtgesellschaft und stellen sich unter Umständen auch klar gegen diese samt deren Ordnungen und Normensystemen.
Das Bilderbuch DAS ALTE HAUS AN DER GRACHT von Thomas Harding und Britta Teckentrup, das die Geschichte des heutigen Anne Frank Hauses erzählt, ist durch die Wahl des Erzählobjektes eng mit dem Konzept der Heterotopie verbunden: Es geht es um das Wohnhaus in der Prinsengracht 263 in Amsterdam, dass in der Zeit der nationalsozialistischen Besetzung der Niederland einer Gruppe jüdischer Menschen – unter ihnen die vierzehnjährige Anne Frank – Zuflucht bot. In großen Schritten eilen der Autor und die Illustratorin durch die fast vierhundertjährige Geschichte des Hauses, von seiner Errichtung durch einen Steinmetz und sämtlichen Nutzungsformen seither: als Wohnhaus, Lagerhaus sowie später als Museum.
Ab 1942 wurde das Haus zum „anderen Ort“, als sich die Familie Frank und Freunde dafür entschieden, sich in den folgenden zwei Jahren im Hinterhaus zu verstecken und so dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen. Auf engstem Raum zusammengedrängt und von Bekannten mit dem Nötigsten versorgt lebten sie dort bis zu ihrer Entdeckung im Jahr 1944. Nach Ende des Krieges sorgte der Vater Annes, der die Deportation als Einziger überlebte, für den Erhalt des Hauses und die Umwidmung des Gebäudes als Gedenkort. Seitdem steht es als Sinnbild für die Aufrechterhaltung von Werten wie Humanität, Solidarität und Hoffnung in einer von Unterdrückung und Verfolgung geprägten Zeit. Als Museum und Zentrum für politisch-historische Bildung zieht es jährlich mehr als eine Million Besucher an, hier konkretisiert sich utopisches Denken über ein besseres Morgen anhand seiner tragischen wie auch mutmachenden Geschichte.