Will Eisner, der als Autor, Zeichner und Theoretiker des „graphic storytelling“ die Entwicklung des Comic im 20. Jahrhundert maßgeblich beeinflusste, hat für die Bedeutung des comicalen Bildrahmens folgende Analogie gezogen: Wie ein Fenster ermöglicht das gerahmte Bild einen Blick in einen anderen, imaginären Raum. Und ähnlich einem Voyeur betrachtet man als Leser*in aus sicherer Distanz die darin enthaltene Szenerie, ohne dabei jemals befürchten zu müssen, selbst in die Handlung verwickelt zu werden.
Die verwendete Fenstermetapher funktioniert nicht zuletzt deswegen so gut, weil in der Regel der Comicrahmen als rechtwinkliges Viereck gezogen wird und andere geometrische Formen dann schon einen ganz bestimmten Zweck erfüllen sollen. Denn nicht nur die Bildgrenze an sich, sondern auch deren gewähltes Format erschaffen durch die Anordnung der Elemente innerhalb des Comicbildes und die Ausgrenzung anderer Elemente eine ganz eigene Welt mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen – ein Weltbild sozusagen, das den Standpunkt des Betrachters immer schon auf irgendeine Weise mit einbezieht, den Betrachter selbst aber nicht (real) involviert. Die Rahmung des Comicbildes ist daher jenseits narrativer und ästhetischer Fragen immer auch ideologisch von Bedeutung.
Allein zu diesem Thema wurden in den vergangenen Jahrzehnten fröhlich-fleißiger Comicforschung tonnenweise Fachtexte – in Form von Monografien, Tagungsbänden oder Zeitschriftenartikeln – produziert. Zumindest dem Titel nach gehört NACH STRICH UND RAHMEN. POLITISCHE INTERVENTIONEN IM COMIC von Jonas Engelmann auch dazu. Engelmann ist von Beruf (Co-)Verleger des kleinen Ventilverlags und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Regelmäßig schreibt der Literatur- und Politikwissenschaftler in linken Tages- und Wochenzeitungen (z.B. Neues Deutschland, Der Freitag, Jungle World) über den Konnex von Comics/Comickultur und Politik.
In diesem etwas mehr als hundert Seiten umfassenden Bändchen ist eine Auswahl dieser Zeitungsessays versammelt, die von klassischen Buch- bzw. Reihenbesprechungen über Diskursanalysen zu ganz unterschiedlichen Themen wie Judentum, Familie, Krankheit, Krieg bishin zur Diskussion von gesellschaftsrelevanten Fragen der Comickultur reichen. Zu letzterem gehören etwa die Frage nach der Anerkennung von Comicautorinnen bzw. -zeichnerinnen in einer von Männern dominierten Branche oder die nach dem mindestens ignorant anmutenden Versuch einer Schulbehörde, die Graphic Memoir „Maus“ von Art Spiegelman über die Holocaust-Erinnerungen seiner Eltern aufgrund „unangemessener Darstellungen“ aus dem Schullektürekanon zu streichen.
Der rote Faden, der sich durch die verschiedenen Texte und unterschiedlichsten Themen zieht, lässt sich während der Lektüre schnell ausmachen, ist aber auch schon im Klappentext angedeutet: Engelmanns Interesse gilt den Außenseitern der Gesellschaft, den von sozialen Normen Abweichenden, denen, die dem kollektivem Ideal und seinen einhergehenden Disziplinierungsregimen die Stirn bieten. Anti-Held*innen sind für ihn die wahren Helden, weil sie – die gesellschaftliche Zwiespältigkeiten und Widersprüche verkörpernd – trotz ihrer Verletzbarkeit und oftmaligen Unterlegenheit die geltenden Normen- und Regelsysteme quasi passiv-aggressiv herausfordern. Dazu gehören etwa Protagonisten aus Comics und Graphic Novels wie Chris Wares „Jimmy Corrigan“, Tardis einfühlsam porträtierte Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, aber überraschenderweise auch Superman, vor allem aber die Macher*innen von Comics selbst, die sich wie Art Spiegelman, Julie Doucet, Luz, David B. oder Alison Bechdel aus unterschiedlichsten Gründen zeichnend ihren je eigenen Dämonen stellen.
Insofern ist es aber weniger der Comic-Rahmen selbst bzw. der künstlerische Akt der Rahmung (neudeutsch „Framing“), der in Engelmanns Texten eine maßgebliche Rolle spielt, sondern vielmehr die (affirmierte) Zerstörung des Rahmens, weil dieser als Symbol die rigide Einhegung bzw. Einkapselung des nach Freiheit strebenden Subjekts repräsentiert. Hinter dieser Perspektive steht ein Politikbegriff, der Ordnung sowie die Instrumente und Praktiken ihrer Stabilisierung kaum positiv denken mag. Anhand der besprochenen Comics wird deutlich, wie gesellschaftliche Normen und Gesetze zum Horror auswachsen können für diejenigen, die den gestellten Ansprüchen nicht entsprechen wollen oder können.
Man könnte aber auch fragen, wie es in Comics mit dem Horror sich auflösender Ordnungen steht? In unzähligen Comics – beispielhaft seien hier Robert Kirkmans THE WALKING DEAD, Jeff Lemires SWEET TOOTH oder Zeina Abiracheds SPIEL DER SCHWALBEN genannt – geht es darum, dass die Protagonist*innen in einer in Trümmern liegenden Welt verzweifelt versuchen, angesichts äußerer und innerer Bedrohungen für sich und ihre Nächsten irgendeinen Halt zu finden, mit dem sie (über)leben können. Das sind Erzählungen, die sich – selbst wenn sie aus der Vergangenheit schöpfen – durch ein Gespür für die gesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahre auszeichnen und eine Perspektive einnehmen, die in Engelmanns ansonsten sehr tiefgründigen und zugleich verständlich formulierten Essays etwas außen vorbleibt.