Die Schlange Scham
Die Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW zeichnete 2023 erstmals einen Comic mit dem Heinrich-Wolgast-Preis aus. Dieser ist Kinder- und Jugendliteratur gewidmet, die sich in beispielhafter Weise mit Erscheinungen und Problemen der Arbeitswelt befasst. Eva Müllers autofiktionale Graphic Memoir SCHEIBLETTENKIND über den Weg der Comicautorin und -zeichnerin aus dem Arbeitermilieu ihrer Familie in die Emanzipation als Künstlerin ist sicher keine Jugendliteratur im engeren Sinne, kann jedoch bei jungen Leser*innen ein Bewusstsein dafür geben, inwiefern soziale Verhältnisse die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung stark begrenzen. Und zwar selbst noch dort, wo der soziale Aufstieg augenscheinlich gelingt.
Das Buch behandelt die Möglichkeite(n) des Aufstiegs sowie den Selbstekel aufgrund der sozialen Herkunft, welcher die Autorin selbst im Zusammensein mit ihren Punkfreund*innen – alles Kinder aus bessergestellten Familien – und noch nicht einmal im studentischen Marx-Lektürekurs verließ. Vor einigen Jahren hat hierfür der Soziologe und Bourdieu-Schüler Didier Eribon in seinem autobiografischen Essay „Rückkehr nach Reims“ den Begriff der „sozialen Scham“ geprägt. Müllers Erzählung ähnelt in vielen Motiven Eribons Lebenserinnerungen: Eine beinahe protestantische Arbeitsmoral der Eltern, die dennoch keinen Ausweg aus Armut und Entbehrung verspricht, die zunehmende Entfremdung von den Eltern und dem übrigen sozialen Umfeld, der Wunsch nach Autonomie und Selbstverwirklichung, ein Ausweg aus der vermeintlichen sozialen Sackgasse durch Bildung, die ständig erfahrene Abwertung und immer der Zweifel des Arbeiterkindes an der Redlichkeit der eigenen Ansprüche an das Leben. Und hier wie dort am Schluss die Begegnungen mit den Eltern und alten Freund*innen als schmerzlich erfahrene Momente der Inkommensurabilität.
Zwei künstlerische Kniffe der Autorin überzeugen besonders: Zum einen das Motiv der Schlange, welche die Ich-Erzählerin immer wieder heimsucht, hier in ihrer alttestamentarischen Bedeutung von Scham und Schuld, welche mit der Überwindung, Verleugnung und Wiederkehr der eigenen Klassenherkunft einhergehen. Zum anderen die Kommentierung eines jeden Kapitels an dessen jeweiligem Ende in Form eines Marx-Memes, in welchem der gezeichnete Karl Marx in ironisch-zeitgeistiger Pose Sentenzen aus seinem Ouvre zum Besten gibt. Wenngleich die Comicautorin die Wahl der Autofiktion transparent macht und begründet („das Gedächtnis ist keine Festplatte“ / „ich bin Geschichtenerzählerin und keine Chronistin), ist der Trend zum bewussten Verwischen der Grenze von Wahrheit und Erfindung im autobiografischen Erzählen – selbst wenn es sich als „fiktional“ markiert – nicht ganz unproblematisch. Geschieht dies doch im Kontext eines Schreibens (und Zeichnens), welches die gesellschaftlichen Verhältnisse ja nicht nur interpretieren, sondern sicherlich auch verändern will und sich dabei auch – ob gewollt oder nicht – auf einen gewissen Authentizitätsanspruch beruft.
Besser leben
Die albumformatige Graphic Novel DAS GROSSE LOS von Joris Mertens erzählt im Stile eines Film Noir die Geschichte Francois, der als Lieferfahrer einer Wäscherei arbeitet und seinen anstrengenden wie prekären Job stets akkurat und freundlich ausführt. Obwohl oder vielleicht besser weil ihm das Glück bisher nicht gerade zugearbeitet hat, träumt er von einem besseren Leben jenseits der ewigen Plackerei. In stimmungsvoll kolorierten Kohlezeichnungen entwirft Mertens das Bild eines Mannes in einer geschäftigen und stets verregneten Großstadt, der auf den Moment wartet, an dem er aus der Tristesse seines Daseins endlich heraustreten kann. Diese Chance scheint sich ihm endlich zu bieten, als er während einer Auslieferung eine grausame Entdeckung macht, die ihn zu einer Entscheidung zwingt. Die Anlage des Protagonisten als ewigen Pechvogel, der ständige Regen und die melancholisch-düstere Grundstimmung der in großformatigen Panels transportierten Stadtansichten nimmt den tragischen Ausgang der Erzählung bereits vorweg: Der soziale Aufstieg ist und bleibt für den Wäschereilieferanten Francois ein unerreichbarer Traum.
Gesellschaft der Eigentümer
In seinem bahnbrechenden Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (2014) zeigte der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, dass ein unregulierter Kapitalismus zwangsläufig zu einer krassen Ungleichverteilung von Vermögen führt, was wiederum die Grundfesten unserer Demokratie bedroht. Im Nachfolgeband „Kapital und Ideologie“ (2020) ging es dem Ökonomen darum darzustellen, wie Gesellschaften über die Jahrhunderte ihre sozialen Ungleichheiten jeweils mit Sinn versehen und damit gerechtfertigt haben. Heutzutage ist es der Glaube, dass jeder selbst reich werden und Eigentum anhäufen könne, wenn er sich nur genug anstrenge, das entscheidende Argument zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit. Stattdessen aber, so zeigte Piketty auf, wird Reichtum zu immer größeren Teilen vererbt. Dieser „patrimoniale Kapitalismus“, in der die Elite ihren immensen Reichtum an die jeweils nächste Generation weitergebe und die Mehrheit der Gesellschaft sich um den kleinen Rest streite, müsse und könne überwunden werden, um unsere Demokratie zu retten.
So unbestreitbar bedeutend die beiden (Haupt-)Werke des französischen Ökonomieprofessors sind, so sind sie für die breite Allgemeinheit aufgrund ihres extremen Umfangs von mehr als 2000 Seiten kaum lesbar. Für Interessierte gibt es nun mit KAPITAL UND IDEOLOGIE. THOMAS PIKETTY ALS GRAPHIC NOVEL, getextet von Claire Alet und gezeichnet Benjamin Adam, einen Ausweg. Alet war Chefredakteurin der Zeitschrift „Alternatives Economiques“ und schrieb u.a. das Drehbuch für die vielbeachtete Arte-Dokumentation „Glücklichsein um jeden Preis“ über den problematischen gesellschaftlichen Trend zur persönlichen Selbstoptimierung per mentaler Positivität. Zusammen mit dem Comiczeichner Adam bemüht sie sich um eine zugängliche Version von Pikettys Standardwerk. Die zahlreichen Daten und Fakten zur Entwicklung der sozialen Ungleichheit werden anschaulich in einem im Wortsinne bunten Mix aus Schaubildern, Infografiken, Karten und Diagrammen präsentiert. Den roten Faden bildet eine Familiengeschichte, die sich über acht Generationen erstreckt und von der wiederkehrenden „Bedrohung“ des familiären Reichtums durch politische Forderungen nach gerechter Besteuerung von Einkommen und Vermögen erzählt, welche von den Protagonist*innen mit Unverständnis und Ärger aufgenommen und zum Teil auch vereitelt werden. Die Suche nach dem Ursprung ihres immensen Vermögens führt eine junge Familienangehörige mehr als 200 Jahre in die Zeit zurück und deckt das (post-)koloniale Erbe auf, das mit dem sozioökonomischen Aufstieg der europäischen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit verbunden ist. Zum Abschluss des Bandes werden sechs ziemlich konkrete Vorschläge Pikettys vorgestellt, mit denen sich der Kapitalismus auch heute schon überwinden ließe.
Garibaldis Erben
Bekanntermaßen handeln Barus Comics von gesellschaftlichen Außenseitern aus dem Immigranten- und Arbeitermilieu, die mit viel „Wut im Bauch“ – so ein Titel aus den frühen 2000er Jahren – für ihre Ansprüche an das Leben eintreten. Stets sind in dem Werk des Autors und Zeichners, der mit bürgerlichen Namen Hervé Barulea heißt, die (Alltags-)Probleme proletarischer und migrantischer Jugendlicher und ihrer Familien mit der Frage der Gewalt verknüpft. Diese kann wie im Falle der oben genannten grafischen Erzählung über einen Boxer polnischer Herkunft die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs bedeuten, sie kann aber auch für einen „illegalen“ marrokanischen Einwanderer, der von einem rechtsextremen Mob verfolgt wird („Lauf Kumpel!“) zur existenziellen Bedrohung geraten. Barus Geschichten handeln so gesehen nicht einfach von sozialer Ungleichheit, sondern so ziemlich im Wortsinne von Klassenkämpfen. Seine Protagonisten gehen mitunter extrem brutal vor, verhalten sich aber untereinander auch sehr solidarisch.
Das auf drei Bände angelegte Werk BELLA CIAO handelt von den Schicksalen italienischer Einwanderer in Frankreich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit. War der erste Band, der von mir hier besprochen worden ist, noch episodenhaft ausgefallen, erzählt der zweite Teil eine eher stringente Geschichte, die allerdings auf mehrere Zeitebenen verteilt ist. Dreh- und Angelpunkt ist die Kommunionsfeier des jungen Theo, auf der die Mitglieder seiner italienischstämmigen Großfamilie singen, tanzen, trinken und schließlich Anekdoten zum besten geben: Vom Großvater, der dem Aufruf eines Sohnes des berühmten Freiheitskämpfers Giuseppe Garibaldi folgte, um in einer Legion italienischer Freiwilliger ab der Seite Frankreichs im Ersten Weltkrieg zu kämpfen, und der als alter Mann in seinem Garten mit einem Hammer bewaffnet Jagd auf Maulwürfe macht; von der in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zwischen Mussolini und „collaboration“ einerseits sowie Republiktreue und „résistance“ zerrissenen italofranzösischen Community; von Arbeitskämpfen, gescheiterten Versuchen der Rückkehr in die Heimat der Vorfahren, von Cappelleti und Tiramisu. BELLA CIAO ist eine wunderbar gezeichnete und mit viel Witz und dennoch einfühlsam erzählte Hommage an die italienischen Einwanderer in Frankreich sowie eine Reflexion über das Leben im Spannungsfeld zwischen Integration und der Bewahrung einer eigenen Identität. Abbildungen hier