vonMario Zehe 01.10.2024

[ˈkɒmik_blɔg]

Der Comic – einst das Schreckgespenst des Bildungsbürgers, heute dagegen der (heimliche) Liebling des Föjetong.

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Vor knapp zehn Jahren veröffentlichte die libanesisch-französische Comicautorin Zeina Abirached eine autobiografisch inspirierte Graphic Novel über das Leben eines Mannes, der unter Inkaufnahme großer Anstrengungen und trotz zahlreicher Rückschläge sein Leben der Überwindung kultureller Grenzen und dem Abbau von Fremdheit widmete. In Piano Oriental wird die Geschichte des in Beirut lebenden und arbeitenden Büroangestellten und Klavierbauers Abdallah Kamanja erzählt, der von einer Vision getrieben ist: Das Konstruktionsprinzip des europäischen, ›wohltemperierten‹ Klaviers, in dem der Halbton das kleinstmögliche Intervall zweier gleichzeitig oder nacheinander erklingender Töne darstellt, soll von ihm so verändert werden, dass man damit auch den in der arabischen Musik vorkommenden Viertelton zu spielen in der Lage ist. Sein schlichter wie genialer Einfall besteht schließlich darin, das Dämpferpedal des Klaviers so umzufunktionieren, dass dieses bei Betätigung die angeschlagenen Saiten im Inneren des Instruments versetzt und es diesem so ermöglicht, den orientalisch klingenden Viertelton wiederzugeben. Darüber hinaus ist es durch diese Konstruktionsleistung erstmals problemlos möglich, während des Spielens zwischen den beiden Tonintervallen der europäischen und der arabischen Musik hin und her zu wechseln.

Das orientalische Klavier wird bei Zeina Abirached als Metapher für die Möglichkeit verwandt, Grenzen zwischen sozialen und kulturellen Ordnungssystemen absichtsvoll zum Verschwinden zu bringen und zwei scheinbar unvereinbare Prinzipien miteinander zu versöhnen.

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Das Erscheinungsdatum des Buches (2015 im französischen Original, 2016 in deutscher Übersetzung) war zugleich exakt jener Zeitraum, der bis heute als unter der umstrittenen Bezeichnung „Flüchtlingskrise“ firmiert; faktisch ein kurzzeitiger starker Zustrom von Schutzsuchenden, der einerseits auf eine große Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung traf, andererseits aber auch starke Abwehrreflexe hervorrief. In den Jahren 2022/23 gab es einen vergleichbaren starken Zuzug nach Deutschland, mittlerweile allerdings unter veränderten Vorzeichen: Nur noch eine gesellschaftliche Minderheit sieht anscheinend in der Zuwanderung eine Bereicherung für die Gesellschaft und setzt sich für die Rechte und sonstigen Belange für Migrant*innen ein. Es dominiert hingegen ein migrationsskeptischer Diskurs, der in den angekommenen Fremden fast ausschließlich eine Bedrohung sieht. Brückenbauer zwischen den Kulturen werden also heute nötiger denn je gebraucht.

Ein solcher war wiederum zweifellos Khalil Gibran, jener US-amerikanischer Dichter und Philosoph, der als Kind mit der Mutter und den Geschwistern Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Libanon emigrierte und die folgenden zwei Jahrzehnte zwischen Nahem Osten, Europa und den USA pendelte, bis er sich schließlich in New York niederließ. Vor etwas mehr als einhundert Jahren erschien mit Der Prophet sein bekanntestes Werk. Es handelt vom Propheten Almustafa, der Jahre auf ein Schiff wartete, das ihn zurück in seine alte Heimat zurückbringen soll. Als das ersehnte Schiff endlich eintrifft, erwarten ihn die Bewohner seines bisherigen Wohnortes Orfalis und bitten ihn, mit ihnen ein letztes Mal seine Einsichten und Weisheiten zu teilen: Im Folgenden geht es anthropologische Grundthemen wie Freundschaft, Liebe und Ehe, Kinder und Erziehung, vom Arbeiten, Kaufen und Verkaufen, von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Verbrechen und Strafen, Religion und den Gesetzen und (fast) zuletzt schließlich um den Tod.

Damals seiner Zeit weit voraus, heute eher zeitgeistig: Khalil Gibrans „Rede über die Kinder“ leitet so manchen modernen Erziehungsratgeber ein. © avant, 2024

 

 

Zeina Abirached hat den schmalen Band voller spiritueller Weisheiten, die zwischen sufistischer Mystik und okzidentaler Philosophie changieren, in einen opulenten, mehr als dreihundertseitigen Bildband übersetzt, der im Frühjahr beim Comicverlag AVANT erschienen ist. Anders als in der filmischen Adaption des Buches durch den Animationsfilmer Roger Allers im Jahr 2014 erliegt die Autorin nicht der Versuchung, die 26 Reden des Propheten in stimmungsvolle und überwältigende Bilder zu tauchen. Stattdessen halten ihre – wie schon in ihren anderen grafischen Erzählungen – schwarz-weiß gehaltenen Illustrationen aufgrund ihrer Abstraktheit, der betonten Zweidimensionalität und beinahe geometrischen Nüchternheit die Betrachter*innen eher auf kritischer Distanz. Das passt zu Gibrans mystischer Auffassung der Poesie, die bei ihm mehr eine Sache der Reflexion als eine der Einfühlung zu sein scheint. Nicht zuletzt vielleicht auch ein Heilmittel gegen das alles andere als „wohltemperierte“ Klima der derzeitigen politischen Debattenlandschaft.

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