Am Anfang der grafischen Erzählung steht ein unerhörtes, kaum zu begreifendes Ereignis: Während irgendeines Linienfluges verlieren alle Passagiere der Maschine ihre vollständigen Erinnerungen. Nicht einmal die Crewmitglieder wissen noch, wie man ein Flugzeug zu fliegen geschweige denn zu landen hat. Selbst als die Katastrophe schließlich noch abgewendet wird, erlangt keiner der Fluggäste sein Gedächtnis je wieder zurück. Die Sachbuchautorin Meru entschließt sich, das Rätsel zu lösen, weiß aber augenscheinlich noch nicht, wie sehr sie bereits in diese Geschichte verwickelt ist und dass sie, die Jägerin (nach der Wahrheit) längst selbst im Begriff ist, eine Gejagte zu werden.
Es gibt gute Gründe Matt Kindts Serie MIND MGMT, beim Comiclabel Dark Horse ab 2012 in 36 Comicbooks erschienen und seit Kurzem auch beim Schweizer Verlag Skinless Crow als dreiteilige Omnibus Edition in deutscher Übersetzung erhältlich, mit der Reihe THE DEPARTEMENT OF TRUTH (Image, 2020-2024) von James Tynion IV zu vergleichen. In beiden Serien ist es die jeweils namensgebende geheimdienstliche Behörde, die den Dreh- und Angelpunkt bildet, um die der Plot herum angelegt wird. Während die Aufgabe des „Departements“ und dessen Mitarbeiter*innen darin besteht, mit allen Mitteln solche Ereignisse zu verhindern bzw. zu vertuschen, die mit der zunehmenden Verbreitung und Akzeptanz von Verschwörungserzählungen einhergehen, nutzt das „MGMT“ die Fähigkeiten seiner Agent*innen zur Gedankenkontrolle und psychischen Manipulation der Bevölkerung, mal im Auftrag der Regierung, mal im eigenen Interesse. Im Zentrum steht dabei das Löschen oder „Umprogrammieren“ von Erinnerungsinhalten. Etwas salopp könnte man sagen, erstere Institution handelt eher aus der Defensive heraus, um die Kontrolle über die Realität wiederzuerlangen, während zweitere eher offensiv agiert und selbst fleißig „alternative Fakten“ produziert, die sich dann in der Wirklichkeit niederschlagen.
Der „Zweifel an der Realität der Realität“ (Luc Boltanski) – gemeinsame Schnittmenge von Verschwörungstheorien und Spionageromanen – ist somit das, was die jeweils Handelnden der beiden grafischen Erzählungen antreibt und zugleich blockiert. Damit wird jenes Problem angesprochen, das (insbesondere) die westlichen Gesellschaften in Zeiten von Corona-Pandemie, Klimawandel, Ukraine-Krieg und dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus so erschüttert. Denn anstatt sich im Umgang mit jenen Herausforderungen zumindest im Grundsatz einig zu sein, werden bei Vorhandensein entsprechender Absichten, Möglichkeiten und Mittel eigene Narrative erdichtet, Lügen verbreitet und Wahrheiten verzerrt – und nicht zuletzt die Wirklichkeit auf kaum noch zu bearbeitende Weise verformt. (Außerdem geht es in der Serie MID MGMT noch ganz wesentlich um die gesellschaftlichen Formen und Funktionen des Vergessens sowie um den Stellenwert von Gewalt im kollektiven Gedächtnis.)
Während aber THE DEPARTEMENT OF TRUTH zuweilen einem Parforceritt durch die Geschichte bekannter Verschwörungserzählungen gleicht, von dem man als Leser*in nie so richtig weiß, wohin als nächstes galoppiert wird, scheint die Geschichte um das MIND MGMT wesentlich stringenter erzählt und außerdem ungleich origineller.
Immerhin entfaltet der Autor Matt Kindt hier die Geschichte eines Komplotts suis generis, die bis in das Jahr 1914 zurückreicht und die Verhinderung des Attentats auf den österreichischen Erzherzog Ferdinand in Sarajevo – bekanntermaßen der Auslöser des Ersten Weltkrieges – zum Ziel hatte. Trotz des offenkundigen Misserfolges wuchsen Einfluss und Macht der im Verborgenen agierenden Organisation, nicht zuletzt im Zeichen des Kalten Krieges. Nach dessen Ende wurde die Geheimorganisation stillgelegt, doch gibt es in ihren Reihen Kräfte, die es dabei nicht belassen wollen, während sich andere ehemalige Agenten aus ethischen Gründen einer Neugründung der klandestinen Gruppierung mit aller Macht entgegenstellen. Ziemlich bald gerät die Protagonistin der Serie, Meru, zwischen die Fronten und muss sich für eine Seite entscheiden.
Was MIND MGMT so unterhaltsam macht, sind vor allem Fabulierlust und lakonischer Humor des Autors, der z.B. über in die Erzählung eingestreuten so genannten „Fallakten“ zahlreiche Biografien von MGMT-Agenten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten entwirft: So etwa die von einem Mann, der in seinem Umfeld jedes zukünftige Ereignis vorhersehen kann – zwei Schriftsteller-Schwestern, deren Texte eine ungeheuer suggestive Wirkung entfalten, der sich kaum jemand entziehen kann; vorausgesetzt, sie haben beide daran geschrieben – ein junges Mädchen, die gegenüber Tieren ein derartiges Einfühlungsvermögen entwickelt, dass sie förmlich deren Gedanken lesen kann uswusf. Dabei sind meist nicht nur die Fähigkeiten der Personen überdurchschnittlich – eigentlich nahe am Superheldentum – entwickelt, sondern auch deren Eigensinn, was sie zu widerborstigen und schwer berechenbaren Charakteren macht. Das ist wiederum nicht unerheblich für die Irrungen und Wirrungen, die die Geschichte immer wieder nimmt. Ein grandioser Zeichner scheint Kindt dagegen auf den ersten Blick zwar nicht zu sein, doch sein skizzenhafter, etwas naiver Strich stört höchstens noch auf den ersten Seiten, dann ist man auch schon in den Sog der Erzählung geraten.