vonMario Zehe 30.12.2024

[ˈkɒmik_blɔg]

Der Comic – einst das Schreckgespenst des Bildungsbürgers, heute dagegen der (heimliche) Liebling des Föjetong.

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Schauspielerin und Model Gwyneth Paltrow tut es ebenso wie einst der Promi-Astrologe Carroll Righter; auch der „Manosphere“-Blogger Rollo Tomassi, Meghan Markle („Herzogin von Sussex“) oder die Psychologin Nicole LePera können und werden es nicht lassen. Das Erteilen von Ratschlägen – ob in papierner Form als Ratgeberliteratur oder in den unendlichen virtuellen Spielwiesen der Blogger*innen und Influencer*innen – ist heutzutage ein weitverbreitet zu beobachtendes Verhalten; und nicht zuletzt ist es auch ein solides Geschäftsmodell. Beschlagen mit Versatzstücken aus kritischer Theorie, Kultursoziologie, Psychoanalyse und Dekonstruktion rückt die Sachcomicautorin Liv Strömquist dem umstrittenen Zeitgeistphänomen zu Leibe. In sieben Lektionen legt sie in DAS ORAKEL SPRICHT dessen innere Paradoxien offen und dabei en passant die affirmativen ideologischen Grundlagen des Ratgebertums frei. Und zwar, dass …

(1.) das in spätkapitalistischen Gesellschaften zum Imperativ erhobene Streben nach einem glücklichen und erfüllenden Leben (Habe Spaß! Genieße dein Leben! Halte dich fit und gesund!) unerfüllbar ist, weil es letztlich ein permanentes, nie zu löschendes Gefühl der eigenen Mangelhaftigkeit wachhält und so ins private Unglück führt;

(2.) die in säkularisierten Gesellschaften grassierende Mode des Self Care eine Folge unserer unbewältigten Todesangst ist. Unbewältigt, weil über diese narzisstische Kränkung der eigenen Vergänglichkeit von keiner Religion mehr recht hinweg getröstet werden kann und wir stattdessen über die Optimierung von Fitness und Ernährung versuchen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und das eigentlich Unvermeidliche soweit wie möglich hinauszuschieben. Allerdings ist der Erfolg dieser mit höchsten Anstrengungen und großen Entbehrungen verbundene Erfolg der Verlängerung des eigenen Lebens eher spekulativ und zweifelhaft und damit reine Zeitverschwendung;

(3.) die vorherrschende rationalistische Weltauffassung, einhergehend mit einem eher manipulativen Verhältnis zu den Dingen, dafür sorgt, dass man anstatt sich die Welt verfügbar zu machen ganz im Gegenteil sich der Welt und ihrer Erfahrung tendenziell entzieht. Das gilt übrigens auch für die gesellschaftliche Tabuisierung negativer Gefühle, weil z.B. Wut, Enttäuschung und Schmerz immer Teil des Lebens sein werden und deren Nichtakzeptanz damit auch einen Teil der Lebenserfahrung leugnen muss;

(4.) das Geben von Ratschlägen weniger Empfänger*innen nützt als vielmehr den Ratgeber*innen. Denn abgesehen davon, dass der Rat meist trivial ausfällt und von zweifelhaften Nutzen ist, ist das Rat-geben eher förderlich für das eigene Ego, während das Rat-nehmen tendenziell negativ auf das Selbstbewusstsein wirkt;

(5.) psychotherapeutische Narrative in ihrer Obsession für traumatische Lebenserfahrungen psychisches Leiden oft überhaupt erst hervorbringen, um es dann endlich „heilen“ zu können;

(6.) die Ratgeberkultur die individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung maßlos überhöht, während die äußeren Einflussvariablen (Gesellschaft, Biologie, Zufall) so weit wie möglich heruntergespielt werden;

(7.) als Folge gesellschaftlicher Individualisierungs- und Beschleunigungsprozesse der einzelne Mensch zunehmend in die äußerst unkomfortable Situation gebracht wird, Nichtplanbares einplanen und Unentscheidbares entscheiden zu müssen. Tut er es (also das Unmögliche) nicht, so weit so neoliberal, ist er für sein Scheitern selbst verantwortlich.

Mit viel Humor, zahlreichen didaktisch motivierten Visualisierungen und dem geschicktem Einsatz comicaler Darstellungsmöglichkeiten (z.B. indem die Autorin die stumpfsinnigen Wiederholungsformeln der Influencer*innen in redundanten Panelfolgen bloßstellt) bereichert die gelernte Politologin Liv Strömquist das auch nicht mehr so ganz taufrische Genre der „Antiratgeberliteratur“ um einen Comic, der zugänglicher und verständlicher daherkommen dürfte als die klassischen ratgeberkritischen Schriften akademischer Koryphäen wie Eva Illouz, Slavoj Zizek oder Zygmunt Baumann. Meiner Meinung nach das bislang beste Buch der Autorin.

 

 

 

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