vonSchröder & Kalender 09.06.2009

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
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In den letzten März-Zitaten haben wir Jules Vallès, ›Jacques Vingtras. Das Kind / Die Bildung / Die Revolte‹ vorgestellt, da uns wegen der Fülle der Informationen die Auswahl schwer fiel, folgt hier ein zweiter Teil:

Jules Vallès widmete das erste Buch des ›Jacques Vingtras‹ mit dem Titel ›Das Kind‹: »Allen, die in der Schule vor Langeweile umkamen oder zu Haus weinten, die in der Kindheit von ihren Lehrern tyrannisiert oder von ihren Eltern verprügelt wurden.«
Der zweite Teil, ›Die Bildung‹, trägt folgende Widmung: »Denen, die mit Griechisch und Latein genährt, Hungers gestorben sind, widme ich dieses Buch.«
Den dritten Teil, ›Die Revolte‹, widmete Jules Vallès: »Den Toten von 1871. Allen, die als Opfer der sozialen Ungerechtigkeit gegen eine schlecht eingerichtete Welt zu den Waffen griffen und unter der Fahne der Kommune die große Förderation der Schmerzen bildeten, widme ich dieses Buch.«

Jacques Tardi, der fabelhafte Zeichner des Nestor Burma, von Adeles ungewöhnlichen Abenteuern und anderen Meisterwerken, schuf nach dem Roman von Jean Vautrin das dreibändige Werk ›Die Macht des Volkes‹, in dem Jules Vallès eine der Hauptpersonen ist. Wir bringen  zwei weitere Seite aus dem wunderbaren Werk, das wir dringend empfehlen.


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Aus ›Die Macht des Volkes‹, Band 1: ›Die Kanonen des 18. März‹, 80 Seiten, s/w, Hardcover, Querformat. Edition Moderne

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Jörg Schröder: Über die Ausgabe des ›Jacques Vingtras‹ bei März und ein Zitat von Victor Klemperer:

Ende der Siebziger besuchte mich öfter Christa Hunscha und Klaus Roth übers Wochenende im Vogelsberg. Er hatte über Barockliteratur promoviert, machte aber gerade für die Friedrich-Ebert-Stiftung Evaluationen von Entwicklunghilfeprogrammen. Seine Lebensgefährtin Christa Hunscha war Psychologin, die für Lothar Mennes Pädagogikreihe beim Fischer Taschenbuchverlag schrieb. Bei einem ihrer Besuche in Jossa erzählten die beiden, daß ihnen in Frankreich jemand den Tip gab, Jules Vallès zu lesen, und berichteten mir nun begeistert von diesem Autor. Ihnen verdanke ich also den Hinweis auf eines der wichtigsten März-Bücher.

Ich besorgte mir Vallès’ Werke, die bei den Éditeurs Français Réunis und in der Pléiade erschienen waren, und stellte fest, daß es die drei Bände des ›Jacques Vingtras‹ – ›Das Kind‹, ›Die Bildung‹, ›Die Revolte‹ – in Deutschland vollständig noch nie gegeben hatte. Weil ich 1966 im Melzer Verlag Victor Klemperers ›LTI‹ verlegte, stand auch dessen ›Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert‹, die 1956 im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften in Berlin veröffentlicht wurde, in meinem Bücherschrank. Bezeichnenderweise kam dieses Buch im Elogen-Überbietungswettbewerb zu Klemperers ›Tagebüchern‹ nie vor – sei es nun wegen seiner Stalinverehrung oder aus schierer Unkenntnis. Im Schlußkapitel dieses Werkes weist Klemperer Jules Vallès einen ersten Rang zu und versucht zu erklären, warum ›Jacques Vingtras‹ in Deutschland unbekannt blieb: »Der Grund für die so lange mangelnde Anerkennung wird (sicherlich mit Recht) in Vallès’ politischer Haltung gesucht: Er war vom Anfang bis zum Ende der erbittertste Feind der bürgerlichen Gesellschaft, im Zentrum seines Lebens und Schaffens stehen die zweiundsiebzig Tage der Pariser Kommune, er ist schlechthin le communard Vallès. Neben dem politischen Faktum aber wirkt sicherlich auch ein ihm engverflochtenes ästhetisches Moment an diesem Totschweigen mit. Eine Bonner Doktordissertation [Gottfried Flink] von 1931 weist darauf hin. Für den Literaturhistoriker, heißt es dort, sei es schwierig, den Mann ›in einer Rubrik unterzubringen‹, seine ›Einzigartigkeit‹ füge sich nicht ›dem starren Zwang eines literarischen Systems‹. Gerade um diese Einzigartigkeit ist es mir hier zu tun. Denn sie ist entwicklungsgeschichtlich bedeutsam geworden, indem sie für Frankreich den Ausgangspunkt oder das Vorspiel einer spezifisch sozialistischen Kunstsparte bildet, der Reportage und des operativen Genres. … Jacques Vingtras ist Jules Vallès selber, und das ganze Werk steht einer Autobiographie oder einer Memoirensammlung näher als einem Roman. … Er gehört durchaus und ebenbürtig in die Reihe, die von Flaubert über die Goncourts zu Zola läuft. … Nein, ein klarer Theoretiker ist Vallès ebensowenig wie ein ganz an sein Metier hingegebener Romanautor oder ein ruhig formender Memoirenschreiber. Aber ein Dichter ist er immer wieder und ein Maler. Man sieht die Menschen, die er schildert, vor sich mit ihren charakteristischen Gesichtszügen und Bewegungen, man hört den Ton ihrer Stimme, und für jede Nuance ihrer Erscheinung und ihres Wesens verfügt er unbekümmert über einen sprachlichen Reichtum sondergleichen, über das klassische Pathos, über die Worte des Alltags, über die Wendungen der verschiedenen Gesellschaftsschichten. Seine Bilder sind ebenso überraschend wie treffend. Meist denkt man an den Stil der Goncourts; aber wie er Zolas Leidenschaft für die Partei der Misérables teilt, so findet er auch Zolas Kraft des Symbols.«

(JT / VK / BK / JS)

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