Es ist wieder einmal Zeit für eine aktuelle Literaturübersicht, bei der es diesmal einige Perlen zu empfehlen gibt.
Beginnen will ich mit der Neuausgabe des 1959 erstmals erschienen russischen SF Atomvulkan Golkonda von Arkadi & Boris Strugatzki – der im Stile sowjetsozialistischer Verherrlichung von Technologie und Pionierleistungen die überaus schwierige und nur durch viele Opfer verwirklichte ‚Zähmung’ eines ausgesprochen widerspenstigen Planten beschreibt. Und dies so detailliert, daß man selbst beim Lesen ins Schwitzen kommt und am Rande des Bewußtseins stets das Knattern von Geigerzählern zu hören vermeint. Verlegt wurde das liebevoll gestaltete, von Boris Strugatzki kommentierte und mit Anmerkungen versehene Buch im gleichnamigen (Berliner!) Golkonda-Verlag.
Ebenfalls aus dem Fundus früherer Jahrzehnte stammen das Epos Erde von David Brin, bei dem ein kleines, aber wachsendes Schwarzes Loch entdeckt wird – das im glutflüssigen Innern unserer Erde herumschwimmt. Ist es gezielt dorthin gebracht worden, um eine aufstrebende Zivilisation früh genug aus dem Rennen zu werfen? Ein fulminanter Roman von knapp 950 Seiten, der es im mehrfachen Sinne ‚in sich hat’. Von Stephen Lawhead stammt die Empyrion-Saga, deren erster Band Die Suche von 1985 sich mit einer verschollenen Kolonie beschäftigt, von der sich herausstellt, daß sie in einer zukünftigen Zeit gelandet ist, als der Held Orion Treet (auf so einen Namen muß man erst einmal kommen!) sie endlich findet. Etwas altbacken geschrieben, aber trotzdem nett zu lesen. Auf den bereits bestellten 2. Band Die Belagerung warte ich noch. Um Identität in Zeiten des Cyberspace (kennt noch jemand dieses Wort? LOL) geht es in dem Roman Träume aus Glas von Jean Mark Gawron aus dem Jahr 1993. Nicht ganz so eindringlich wie die damaligen Romane von Gibson und Sterling sollte es doch bei jedem im Buchregal stehen, der sich für die Vernetzung von Hirnen sowohl aus Zellen aus auch aus Silizium interessiert. Nur unwesentlich neuer sind die Romane von Ken MacLeod Die Mars-Stadt (1996) und Die Cassini-Division (1998), interessante und spannende Space Operas, die ich jedem empfehlen kann, der sich für dieses Genre interessiert. Ein ganz besonderer Tip bildet die Neuerscheinung des Romans Das Drachenei von Robert L. Forward (von 1980), bei dem das Leben auf einem Neutronenstern beschrieben wird, der an unserem Sonnensystem vorbeifliegt. Es gibt nur wenig SFs, bei denen die Annäherung zwischen zwei dermaßen unterschiedlichen Spezies, wie den Menschen und den Neutronenstern-Bewohnern, überraschender, begeisternder und lehrreicher beschrieben wird. Absolut empfehlenswert!
Inzwischen scheint die SF-Literatur auch wieder zu boomen, denn im Gegensatz zur Situation vor einigen Jahren, als man sich beim Warten auf eine neue Veröffentlichung die Fingernägel bis zur Wurzel abkauen konnte, kommt man heute kaum mehr mit dem lesen hinterher. Was natürlich nicht heißt, daß ich auch nur eine der vielen Neuerscheinungen auslasse! Wobei meine Grenzen allerdings sehr genau definiert sind: Keine Sword & Drangon-Fiberphantasien, weder Ketchup-triefenden Zombies noch Blutorange-Clubcola saufende Vampire. Denn die haben alle nichts mit Utopien (oder auch Dystopien) zu tun… Eine Ausnahme bildet Der Widerstand von David Weber (den ich sonst nicht so besonders schätze). Denn hier werden die Alien-Invasoren, die gleich bei ihrer Landung auf dem Planeten mehr als die Hälfte der Erdbewohner umbringen, nicht nur vom menschlichen Widerstand bekämpft – sondern auch von… nun, das verrate ich lieber nicht. Es ist aber spannend und sogar lustig!
Womit wir auch schon bei den neueren Büchern angekommen sind. Stadt der Fremden von China Miéville ist anfänglich etwas schwer zu lesen, da der Autor eine Vielzahl neuer Begriffe und Wortschöpfungen verwendet, an die man sich erst einmal gewöhnen muß. Außerdem wird man den Verdacht nicht los, daß die Übersetzung nicht ganz adäquat ist – aber um dies korrekt beurteilen zu können, müßte ich ha auch das Original lesen. Das Buch erschlägt einem fast mit seiner schrägen Phantasie – und es ist fraglich, ob es einen zeitgenössischen Autor gibt, die Aliens fremder und unverständlicher beschreiben kann, als der wahrhaftig unvergleichliche Miéville. Deshalb: Ist man erst einmal in seiner Welt angekommen, bietet das Buch einen Genuß wie ein 5-Sterne-Menü. Nur, daß dieses von der Galaxis nebenan kommt… und sich möglicherweise auf dem Teller noch bewegt.
In dem Roman Firebird von Jack McDevitt erleben wir ein neues Abenteuer des Antiquitätenhändlers Alex Benedict und seiner Assistentin/Pilotin Chase Kolpath, wobei es diesmal um die Suche nach einem vor Jahrzehnten verschwundenen Wissenschaftler geht – in deren Zuge sich das Rätsel ebenso sand- und klanglos verschwundener Raumschiffe auflöst. Wie vom Autor gewohnt: Handfeste, exzellent geschriebene und immer wieder überraschende Science Fiction vom Feinsten. Ebenso begeistert hat mich Cyberabad, der neueste Roman von Ian McDonald, der uns in ein digitales Indien mitnimmt, in welchem sich der Duft von Räucherstäbchen mit dem Knistern von KI’s der soundsovielten Generation vermischt. Deren unbeugsamer Freiheitswille wird von dem Krishna-Cop begrenzt, der mit seiner EPM-Waffe gnadenlos alle künstlichen Intelligenzen ins Nirvana schickt, die es wagen, ihren Kopf über das erlaubte Niveau heraus zu heben. Ein herrlicher Roman, der einem den nächsten Urlaub auf Goa erspart! Oder dorthin mitgenommen werden will.
Gut zu lesen war auch Das silberne Schiff von Brenda Cooper, zweiter Teil der Fremont-Story, Earth Girl von Janet Edwards, eigentlich eher ein Jugendroman für pubertierende Mädchen, dessen Lektüre mir aber so großen Spaß bereitet hat, daß ich mich schon auf die beiden Folgebände freue, sowie Das Wörterbuch des Viktor Vau von Gerd Ruebenstrunk, das zurecht als das phantastische Highlight des Jahres gefeiert wird. Als Roman zur Neuen Weltordnung (die gerade in Syrien auf die Chinesische Mauer gestoßen ist!) empfiehlt sich Logoland von Max Barry – eine bissige, böse aber gleichzeitig brillante Utopie, die man eigentlich im Schulunterricht behandelt werden sollte – denn die Produkte und Labels, um welche die neuen Kriege ausgefochten werden, kennt jeder Teen!
Zum Abschluß noch eine laute Klage: Falls sich noch jemand darüber wundert, daß junge Menschen Amok laufen und ihre Lehrer und Mitschüler – oder auch andere unbeteiligte Menschen – gleich reihenweise massakrieren, die/der sollte sich einmal mit folgender Überlegung vertraut machen. Was anderes soll denn dabei herauskommen, wenn ein brutales und menschverachtendes Werk wie diese Panem-Sch*** einen Jugendbuchbuchpreis bekommt? Für eine Geschichte, in der sich Kinder und Jugendliche gegenseitig ermorden müssen, um den Massen Spaß und Spannung zu bereiten? Was ja zudem ein uraltes Thema ist, das mindestens bis zum römischen Reich zurückverfolgt werden kann (‚Brot & Spiele’). Wo die Akteure allerdings Erwachsene waren – und als Gladiatoren Vollprofis. Nun fiel mir das als SF-Jugendbuch verkaufte Die Flucht von Patrick Ness in die Hände, dessen Originalausgabe sogar mit dem Guardian Children’s Fiction Prize ausgezeichnet worden ist. Klar, eine Initiation zum Erwachsenen ist sehr wichtig und fehlt in unserer modernen Gesellschaft weitestgehend – weshalb sogar ein 60jähriger wie ich manchmal noch kindliches Verhalten zeigen kann. Aber – nun mal ehrlich – was soll bitteschön eine Initiation, bei der Halbwüchsige erst jemanden töten müssen, um ihre Unschuld zu verlieren? Ja, habt’s noch alle??!