Von Jonas Weyrosta
Baden-Württemberg wurde gleichgeschaltet: Mit dieser brisanten These startet das süddeutsche Quartett aus Medienvertretern zur Bestandsaufnahme des Journalismus im Ländle auf dem Medienkongress von taz und der Freitag am frühen Morgen. Thema der Diskussion: Machtkampf gegen die Medien? Ist Stuttgart 21 ein Beispiel für die Abkehr von der etablierten Presse?
Jakob Augstein, das einzige Nordlicht in der Runde moderiert das Gespräch mit Hans-Jürgen Bucher, Professor für Medienwissenschaft, Peter Unfried, Chefreporter der taz, Josef-Otto Freudenreich, Mitbegründer der neuen Wochenzeitung kontext, Peter Weibel, Medien- und Kulturtheoretiker und Wolfgang Molitor, Interims-Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten. Augstein bekundet im Nebensatz seine Zuneigung zum Spätzle- und Maultaschenstaat schiebt seiner Respektbekundung aber eine elementare Frage hinterher: Wieso kann ein Bahnhofsbau zur nationalen Angelegenheit werden und welche Rolle spielten die Medien in diesem Konflikt? Während der Proteste um Stuttgart 21 rückten die Medien in den Fokus der kritischen Öffentlichkeit. Der Anspruch an die unparteiischen Berichterstattung wurde von den etablierten Medien in Baden-Württemberg nicht ausreichend reflektiert. Durch 59 Jahre Vorherrschaft der Christdemokraten sei der gesamte Medienapparat von konservativen und konformen Bahnhofsgegener unterwandert. Kritische und professionelle journalistische Distanz wurde nicht gewahrt. Seinen Höhepunkt fand die Abkehr der Wutbürger von der etablierten Presse in den Protesten vor dem Funkhaus des Südwestrundfunk in Stuttgart. Molitor bestätigt die Vermutung des Moderators, die Berichterstattung der SN sei tendenziös für die Verwirklichung dieses Bahnhofsprojektes gewesen, erklärt aber dies liege in der Natur der Sache: Man verstehe sich nunmal als Meinungsmedium. Die SN habe nicht aus Nähe zur heimischen Wirtschaft gehandelt, sondern aus persönlicher Position. Aus beruflicher Intention greift Augstein an diesem Punkt ein: „Ein Medium sollte doch an der Spitze einer bürgerlichen Bewegung stehen und nicht zum Feinbild der kritischen Öffentlichkeit werden.“ Molitor hingegen rechtfertigt seine tendenziöse Arbeit mit dem Dialog der beiden Streitparteien auf öffentlichen Veranstaltungen der SN. Dass die Berichterstattung über die Proteste in Stuttgart jedoch gefärbt und journalistisch unrein sei, wie eine Stimme aus dem Saal propagiert, sieht Molitor nicht. Zahlen über die tatsächliche Größe von Demonstrationen seien oftmals verfälscht. Das eigentliche Problem liegt also nicht in der Stellungnahme der Zeitung zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen, sondern in der nicht gewährten Informationsvielfalt der Stuttgarter Nachrichten. Wer gegnerische Stimmen nicht oder unzureichend zu Wort kommen lässt, verfehle seine Aufgabe als Medium der Bevölkerung. Die Rechnung kam per Wahlentscheid: Die aktuellen politischen Entwicklungen zeigten, dass die Leserschaft der Stuttgarter Nachrichten in die parlamentarische Opposition gewählt wurden.
Hans-Jürgen Bucher sieht die Zukunft der Demonstrations-Berichterstattung in den Internetmedien. Wer heute noch dem Glauben an die Distributions-Öffentlichkeit anhänge, die Meinung der Bevölkerung werde im wesentlichen vom journalistischen Input der Zeitungsredaktionen geformt, folge einem veralteten Medien-Modell. Im 21. Jahrhundert sei die partizipatorische Öffentlichkeit der Kern der journalistischen Praxis. Die Zeitungen müssten nun den Äußerungen aus der Bevölkerung in social media und blogging folgen und nicht länger in einem redaktionellen Elfenbeinturm verharren. Die Schlichtung durch Heiner Geissler sei als Paradebeispiel für die Medienarbeit zu bewerten, nur die konsequente Offenlegung der Fakten werde dem Anspruch des Konsumenten gerecht, so Bucher.
Aus Österreich lernen wir von einem abstrusen Geflecht aus Politik und Wirtschaft und werden von Peter Weibel für den „hohen Grad an Demokratie in Deutschland“ gelobt. Weibel verweist auf eine anstehende Re-Feudalisierung durch den bewussteren Umgang mit Medien. Wer, wie die journalistische und politische Klasse in Baden-Württemberg „besoffen von dem Bahnhofsbau“ agiert, verfehle seinen Beruf.
Das innenpolitische Großereignis des vergangenen Jahres fand kontroversen Eingang in den Medienkongress von taz und der Freitag, die zukünftige Rolle der Medien blieb jedoch ungeklärt. Auch der Freitag hänge einer veralteten Form von journalistischem Selbstverständnis an, so Bucher. Die Aufgabe eines Mediums sei überschätzt, wenn man es in die Führungsrolle bürgerlicher Proteste drängen möchte, es kann lediglich Ventil gesellschaftlicher Strömungen sein und als Projektionsfläche gleichgesinnter Bürger dienen. Die Reaktionen auf die abschließende Frage des Moderators, ob das Bauprojekt nun realisiert werde, spiegelt die verpasste Chance der Medien in Baden-Württemberg wieder: Es gibt verschiedene Einschätzungen zu diesem Projekt. Einseitige Berichterstattung verfehle die Meinungsvielfalt. Es gelte diverse Standpunkte zu Wort kommen zu lassen und diese zu porträtieren. Neben dieser journalistischen Grundschule, können einseitige Stellungnahmen Eingang finden, dürfen jedoch nicht zur Ausrichtung eines Mediums werden. An diesem Punkt werde es gefährlich sind sich alle einig. Dass auch taz und der Freitag als Gegenentwurf zur etablierten Presse mit klarer politischer Intention entstanden, wurde in dieser Runde nicht diskutiert. Es war auch einfacher, das ausgemachte Opferlamm der konservativen und bürgerlichen Presse anzugreifen, als das eigene Format bezüglich dieser Thematik zu hinterfragen.
Die Sorgenfalten auf der Stirn Jakob Augsteins verschwanden, als Josef-Otto Freudenreich das angetragene linke Selbstverständnis von kontext revidiert und darauf hinweist, man mache nun, was man mal gelernt habe: Kritischen und unabhängigen Journalismus für Baden-Württemberg.