Solidaritäts-Demonstration in Tokio. Photo: flickr user: jetalone
Auf Youtube wird auf dem „Egyptian Revolution Theme Song“ eingeblendet:
„Share with others now Worldwide Revolution 2011“
Denn es ist noch lange nicht zu Ende:
„Bis zur Weltrevolution, die diese ganzen Obamas, Putins und wie sie alle heißen, hinwegfegen wird, ist es noch ein weiter Weg,“ meint mein ägyptischer Gewährsmann in der Wrangelstrasse.
Als wir 1990 mit einem riesigen Pfeifkonzert auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus das Singen der Deutschlandhymne von Kohl, Brandt und Momper stoppten, freute ich mich: Dass ich das noch erleben durfte! (Ich meine das natürlich als Schlußpfiff des ganzen Drumherums 1989 bis zum sogenannten „Mauerfall“.) Ähnliches hatte ich zuvor schon in Bremen 1967, in Berlin 1969f, in Lissabon 1974 und in Djakarta 1999 gedacht, gefühlt. Aber jetzt ist dieses Gefühl noch viel größer. Diese Revolution ist auch viel größer!
Es geht dabei aber gar nicht um „die Revolution“ – um ihre Einschätzung, worauf sie hinausläuft, was daraus wird etc., es geht um das Revolutionär-Werden, um das Erfaßt-/Berührt-Werden jedes Einzelnen von diesem losgetretenen Ereignis!
Die Süddeutsche Zeitung hat etwas sehr Schönes getan: Nachdem sie das Buch des ägyptischen Schriftstellers Khalid al-Khamissi, das aus 58 Interviews mit Kairoer Taxifahrern besteht, gelobt hatte, bat sie den Autor, diese Interview-Reihe für die SZ fortzusetzen. Seine erste Kolumne erschien heute. Darin heißt es:
In Manama versuchten Sicherheitskräfte, die Demonstranten, die „Nieder mit Hamad“ und „das Volk will den Sturz des Regimes“ riefen, auf ihrem Marsch unter Kontrolle zu halten. Ein Vertreter der schiitischen Oppositionspartei Wefak kritisierte, dass der von der Regierung versprochene „nationale Dialog“ noch nicht begonnen habe. Die Regierung habe keinerlei Schritte zu politischen Reformen unternommen, sagte der Abgeordnete Matar Matar. Unterdessen kehrte der exilierte Oppositionsführer Hassan Maschaima nach Manama zurück.
In der tunesischen Hauptstadt Tunis setzte die Polizei Tränengas ein, um eine Kundgebung von rund 300 Menschen vor dem Innenministerium zu zerstreuen. Am Freitag waren nach Angaben des Ministeriums auf der größten Demonstration seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali 21 Polizisten verletzt worden. Zudem seien drei Polizeiwachen angesteckt worden, als die meist jugendlichen Demonstranten das Innenministerium zu stürmen versuchten. Mehr als 100.000 Menschen waren einem Aufruf zu Protesten gegen die Übergangsregierung gefolgt.
In Ägypten riefen Oppositionsanhänger für Samstag zu erneuten Protesten auf, nachdem es in der Nacht auf dem Kairoer Tahrir-Platz zu Zusammenstößen zwischen Militärpolizisten und Demonstranten gekommen war, die den politischen Wandel in Ägypten feierten. Kurz nach Mitternacht umstellten die Militärpolizisten einige hundert Demonstranten und setzten Schlagstöcke und Elektroschocker ein, um die Menge zu zerstreuen. Die Armeeführung entschuldigte sich am Samstagmorgen für den harten Einsatz.
In der algerischen Hauptstadt Algier verhinderten Sicherheitskräfte Proteste von Regierungsgegnern. Wie ein AFP-Journalist berichtete, wurden die Demonstranten nicht zum Märtyrer-Platz durchgelassen, auf dem sie sich zu einer Kundgebung versammeln wollten. Hunderte Polizisten versperrten die Zugänge zum Platz und drängten die Demonstranten ab. Als rund 20 Anhänger von Präsident Abdelaziz Bouteflika auftauchten, stellte sich die Polizei zwischen die gegnerischen Gruppen.
In Libyen dauerten die Kämpfe zwischen Aufständischen und regierungstreuen Sicherheitskräften an. Der Machthaber Muammar el Gaddafi war am Freitag vor Anhängern in der Hauptstadt Tripolis aufgetreten und hatte sie zum bewaffneten Kampf aufgerufen. In der Nacht waren dort erneut Schüsse zu hören, in einigen Vierteln fiel der Strom aus. Wie ein Sprecher des oppositionellen „Revolutionskoalition des 17. Februar“ sagte, zögen täglich Freiwillige aus dem Osten des Landes nach Tripolis zum Kampf gegen Gaddafi.
Im Jemen wurden bei heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei in der Stadt Aden mindestens vier Menschen getötet. Ein Augenzeuge sprach von „wahren Kriegsszenen“. Mehrere wichtige Stammesführer sagten sich mit zehntausenden ihrer Anhänger von Präsident Ali Abdallah Saleh los. Bei einer Stammesversammlung in Amran nördlich der Hauptstadt Sanaa schlossen sich Führer der Hasched und der Bakil, zwei der bedeutendsten Stämme des Landes, der Opposition an, wie aus Stammeskreisen verlautete.“
Dpa ergänzte um 18 Uhr 55:
„Der Gegenwind für den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi wird immer größer. Die renommierte islamische Al-Azhar-Universität in Kairo rief am Samstag regierungstreue Soldaten in Libyen auf, alle Befehle zum weiteren Blutvergießen zu verweigern. Das Regime habe seine Legitimität verloren, sagte das geistliche Oberhaupt, Ahmed al-Tajeb. Der Großscheich rief alle Araber weltweit auf, dem libyschen Volk medizinische und humanitäre Hilfe zu leisten.
Die al-Azhar gilt im sunnitischen Islam bei Rechtsfragen als die höchste Instanz. Angesichts der anhaltenden Gewalt und des fortwährenden Blutvergießens werden in Libyen die Rufe aus der Bevölkerung immer lauter, Medikamente sowie Mobiltelefone ins Land zu bringen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind bislang mindestens 1000 Menschen getötet worden.“/ Und: „Saudi-Arabien springt für libysche Ölausfälle ein.“
Aus Ägypten meldet der Spiegel heute:
„Kairo – Auf dem Tahrir-Platz in Kairo kam es am frühen Samstag zu Zusammenstößen zwischen Soldaten und Demonstranten. Die Armeeführung veröffentlichte daraufhin eine Entschuldigung und versprach, ein derartiges Vorgehen werde sich nicht wiederholen. Der Militärrat sprach von „unbeabsichtigten Spannungen“ zwischen der Militärpolizei und den „Söhnen der Revolution“. Es habe keinen Befehl gegeben, die Demonstranten anzugreifen.
Etwa 300 Demonstranten hatten sich nach Beginn der Ausgangssperre um Mitternacht geweigert, den Platz zu verlassen, auf dem am Freitag wieder Zehntausende protestiert hatten. Dutzende Personen, die vor einem Regierungsgebäude in der Nähe des Tahrir-Platzes ausharrten, seien von der Militärpolizei verprügelt worden, berichtete ein Augenzeuge. Mehrere Demonstranten hätten Widerstand geleistet und ein Mann habe im Gesicht geblutet, sagte der Aktivist Schadi Ghasali.In der Nacht seien mindestens vier Menschen festgenommen und in ein Gefängnis gebracht worden, in dem weitere offenbar am Freitag aufgegriffene Demonstranten festgehalten wurden.
Augenzeugen sagten, als Militärpolizisten begannen, die Demonstranten mit Gewalt zu vertreiben, hätten diese gerufen „Volk und Armee arbeiten Hand in Hand“. Daraufhin habe sich die Lage wieder beruhigt. Einige Aktivisten riefen jedoch am Samstag zu einem Protest „gegen die Angriffe der Armee auf Demonstranten“ auf.
Die Demonstranten hatten am Freitag ein Gerichtsverfahren gegen Mubarak gefordert. Außerdem verlangten sie den Rücktritt der Übergangsregierung des noch von Mubarak eingesetzten Ministerpräsidenten Ahmed Schafik und die Aufhebung des Ausnahmezustandes.
Die Soldaten und Offiziere der Armee hatten sich während des Volksaufstandes gegen Mubarak stets herausgehalten, was ihnen die Regierungsgegner hoch angerechnet hatten. Inzwischen wird in Oppositionskreisen jedoch über eine mögliche „Konterrevolution mit Unterstützung der Armee“ spekuliert.“
Aus Algerien und dem Jemen meldet das Nachrichtenmagazin:
„In anderen Staaten des Nahen Ostens gingen die Menschen ebenfalls auf die Straße. Zwei Tage nach Aufhebung des Ausnahmezustands in Algerien gab es in Libyens Nachbarstaat eine pro-demokratische Kundgebung. Trotz eines geltenden Demonstrationsverbots in der Hauptstadt Algier versammelten sich gegen Mittag Hunderte Menschen im Zentrum.
Die Sicherheitskräfte waren nach Berichten von Augenzeugen mit einem Großaufgebot vor Ort. In der Vergangenheit hatten sie immer wieder derartige Kundgebungen gewaltsam aufgelöst. Auf dem zentralen Platz skandierten auch Anhänger von Präsident Abdelaziz Bouteflika Parolen.
Der am 9. Februar 1992 verhängte Ausnahmezustand war erst am Donnerstag offiziell beendet worden. Er hatte dem Staat weitgehende Eingriffe in politische Rechte erlaubt. Seine Abschaffung war eine der Hauptforderungen der Regierungsgegner, die unter dem Eindruck der Ereignisse in Tunesien, Ägypten oder Libyen gegen das herrschende System und die sozialen Missstände im Lande protestiert hatten.
Im Jemen kam es ebenfalls zu Protesten, hier eskalierte die Gewalt. Die Zahl der Toten nach Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern in der südjemenitischen Stadt Aden stieg auf vier. Über Nacht seien zwei weitere Menschen gestorben, sagte ein Arzt am Samstag. Dutzende waren Augenzeugen zufolge zudem verletzt worden, als am Freitag auf Teilnehmer einer Großkundgebung gegen Präsident Ali Abdullah Saleh scharf geschossen wurde.“
Auf Al Dschasira fragt ein ägyptischer Autor, der anonym bleiben möchte:
„Haben wir es mit einer Revolution gegen den Neoliberalismus zu tun?
If the January 25th revolution results in no more than a retrenchment of neoliberalism, or even its intensification, those millions will have been cheated. The rest of the world could be cheated as well. Egypt and Tunisia are the first nations to carry out successful revolutions against neoliberal regimes. Americans could learn from Egypt. Indeed, there are signs that they already are doing so. Wisconsin teachers protesting against their governor’s attempts to remove the right to collective bargaining have carried signs equating Mubarak with their governor. Egyptians might well say to America ‚uqbalak (may you be the next).“
BBC News meldet aus Tunesien:
„Police and masked men in civilian clothes, armed with sticks, moved through streets looking for protesters. The renewed protest comes a day after police cleared huge crowds from the streets demanding the resignation of the interim prime minister. That was the biggest rally since the president fled after weeks of unrest. On Friday police fired tear gas and warning shots to disperse demonstrators. The BBC’s Paul Moss in Tunis says the stench of tear gas is again filling the main shopping street in Tunis. The trouble flared very suddenly – people out shopping found themselves caught up in the confrontation, women carrying heavy bags running for cover with handkerchiefs clutched to their mouths, our correspondent says. Several members of the security forces ran into the lobby of a hotel, yelling at startled customers drinking coffee to return to their rooms or leave the hotel immediately, he said.“
In der Jungen Welt berichtet Karin Leukefeld über den Irak:
„Der »Tag des Zorns« im Irak am gestrigen Freitag war von tödlichen Angriffen auf die Demonstranten und politischen Drohungen der Regierung von Nuri Al-Maliki überschattet.
»Laßt die Stimme der Freiheit in allen Straßen Bagdads erklingen und laßt uns von Ägypten, Tunesien und Libyen lernen«, hieß es in einem Aufruf, den junge Leute per Internet verbreitet hatten. Anders als in den genannten Ländern wurde im Irak nicht der Rücktritt der Regierung gefordert, lediglich Provinzgouverneure und lokale Politiker sollen ihr Amt wegen Unfähigkeit und Korruption räumen. Im Mittelpunkt standen Forderungen nach dem Ende von Korruption, nach Arbeit, besserer sozialer Versorgung, Strom, funktionierenden Wasser- und Abwasserleitungen sowie einer Verbesserung der Lebensmittelverteilung.
Die blutigsten Auseinandersetzungen wurden aus Salahadin und Kirkuk gemeldet, wo mindestens drei Menschen von Sicherheitskräften erschossen worden sein sollen. Die Nachrichtenagentur AFP berichtete zudem von fünf Toten in Mosul. Sicherheitskräfte in Ninive rechtfertigten den Einsatz von Schußwaffen damit, daß Demonstranten ein Regierungsfahrzeug in Brand gesetzt und Steine gegen ein Gebäude der Exekutive geworfen haben sollen.
Trotz einer Ausgangssperre und eines Fahrverbots, die das Kabinett Maliki für den gesamten Freitag in Bagdad verhängt hatte, trafen sich bereits am Morgen Hunderte Iraker auf dem Tahrir-Platz im Zentrum der Stadt, dem Platz der Befreiung. Dort hatten zur Unterstützung der ägyptischen Rebellion auf dem Tahrir-Platz in Kairo Aktivisten seit dem 25. Januar ein Zeltlager aufgeschlagen, wo sie auch die mangelhafte Versorgung der Iraker acht Jahre nach dem Sturz von Saddam Hussein anprangerten.
Am Freitag mittag hatten etwa 3000 Menschen den Tahrir-Platz erreicht. Dort waren Polizei- und Sicherheitskräfte zusammengezogen, Hubschrauber kreisten über dem Platz. An verschiedenen Zugängen soll es nach Angaben von Korrespondenten zu Auseinandersetzungen gekommen sein, weil Demonstranten sich nicht zurückweisen ließen.
Am Donnerstag hatte Maliki die Iraker aufgefordert, sich nicht an den Protesten zu beteiligen. Es gebe »Beweise«, daß die »gerechten Forderungen der Iraker« von Al-Qaida, »Aufständischen, Saddam-Anhängern« und Mitgliedern der (im Irak verbotenen) Baath-Partei »mißbraucht« werden sollten.
Sunnitische und schiitische Kleriker hatten die Proteste zunächst begrüßt. Auch verschiedene irakische Nichtregierungsorganisationen riefen zur Teilnahme auf. Nach den Drohungen Malikis allerdings machten die schiitischen Prediger Muqtada Al-Sadr und Großajatollah Ali Al-Sistani kurzfristig einen Rückzieher. Gleichzeitig betonte Sistani erneut die Legitimität der Forderungen, die von der Regierung erfüllt werden müßten. Sadr kündigte an, statt der Proteste landesweit eine Befragung durchführen zu wollen, bei der die Bevölkerung ihre Bedürfnisse nach Grundversorgung mitteilen sollte. Sollte die Regierung nicht innerhalb von sechs Monaten die Forderungen der Iraker erfüllen, würden sie friedlich demonstrieren.
Der Gouverneur von Basra, Scheltag Abboud, trat am Freitag zurück und folgte damit der Aufforderung von mehr als 4000 Demonstranten, die sich vor seinem Amtssitz versammelt hatten. Seit Wochen gibt es in Basra Demonstrationen für die Verteilung von Lebensmittelkarten und die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Der amtierende irakische Minister für Öl und Elektrizität, Hussein Al-Schahristani versprach derweil, daß der Strommangel bis zum Sommer 2013 weitgehend beseitigt sein solle. Anfang der Woche hatte die Regierung erklärt, die eigenen Gehälter von monatlich etwa 23000 US-Dollar zu halbieren, auch die Parlamentsabgeordneten wollen einer Kürzung ihrer Gehälter zustimmen, um Solidarität mit den Forderungen der Demonstranten zu zeigen.“
Außerdem findet sich in der Jungen Welt von heute ein Beitrag von Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1913 über die wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens im 19. Jahrhundert – „ein Musterfall kapitalistischer Akkumulation“:
„Eine dritte Art Maschinen, die Ägypten plötzlich in Massen benötigte, waren die Apparate zum Entkörnen und die Pressen zum Packen von Baumwolle. Diese Ginanlagen wurden zu Dutzenden in den Städten des Deltas eingerichtet. Sagasik, Tanta, Samanud und andere begannen zu rauchen wie englische Fabrikstädte. Große Vermögen rollten durch die Banken von Alexandrien und Kairo.
Der Zusammenbruch der Baumwollspekulation kam schon im nächsten Jahr, als nach dem Friedensschluß in der amerikanischen Union (1865 – d. Red.) der Preis der Baumwolle in wenigen Tagen von 27 Pence das Pfund auf 15, zwölf und schließlich auf sechs Pence fiel. – Im nächsten Jahre warf sich Ismail Pascha (1830–1895, von 1863 bis 1879 osmanischer Vizekönig – Khedive – von Ägypten – d. Red.) auf eine neue Spekulation: die Rohrzuckerproduktion. Es galt jetzt den Südstaaten der Union, die ihre Sklaven verloren hatten, mit der Fronarbeit des ägyptischen Fellahs Konkurrenz zu machen. Die ägyptische Landwirtschaft wurde zum zweitenmal auf den Kopf gestellt. Französische und englische Kapitalisten fanden ein neues Feld der raschesten Akkumulation. (…) Während hundert alte Dampfpflüge aus der Baumwollperiode zerbrochen umherlagen, wurden hundert neue für Zuckerrohrbau bestellt. Fellachen wurden zu Tausenden auf die Plantagen getrieben, während andere Tausende an dem Bau des Ibrahimiyehkanals fronten. Stock und Nilpferdpeitsche sausten in voller Tätigkeit. (…)
Wer lieferte das Kapital zu diesen Unternehmungen? Die internationalen Anleihen. (…) Auf den ersten Blick stellen diese Kapitaloperationen den Gipfel des Wahnwitzes dar. Eine Anleihe jagte die andere, die Zinsen alter Anleihen wurden mit neuen Anleihen gedeckt, und riesige Industriebestellungen bei dem englischen und französischen Industriekapital wurden mit englischem und französischem geborgten Kapital bezahlt.
In Wirklichkeit machte das europäische Kapital, unter allgemeinem Kopfschütteln und Stöhnen Europas über die tolle Wirtschaft Ismails, beispiellose, märchenhafte Geschäfte in Ägypten, Geschäfte, die dem Kapital in seiner weltgeschichtlichen Laufbahn nur einmal als eine phantastische, modernisierte Auflage der biblischen fetten ägyptischen Kühe gelingen sollten. Vor allem bedeutete jede Anleihe eine wucherische Operation, bei der ein Fünftel bis ein Drittel und darüber hinaus der angeblich geliehenen Summe an den Fingern der europäischen Bankiers kleben blieb. Die wucherischen Zinsen mußten aber so oder anders schließlich bezahlt werden. Wo flossen die Mittel dazu her? Sie mußten in Ägypten selbst ihre Quelle haben, und diese Quelle war der ägyptische Fellah, die Bauernwirtschaft. Diese lieferte in letzter Linie alle wichtigsten Elemente der grandiosen Kapitalunternehmungen. Sie lieferte den Grund und Boden, da die in kürzester Zeit zu Riesendimensionen angewachsenen sogenannten Privatbesitzungen des Khediven, die die Grundlage der Bewässerungspläne, der Baumwoll- wie der Zuckerspekulation bildeten, durch Raub und Erpressung aus zahllosen Dörfern zusammengeschlagen wurden. Die Bauernwirtschaft lieferte auch die Arbeitskraft, und zwar umsonst, wobei die Erhaltung dieser Arbeitskraft während ihrer Ausbeutung ihre eigene Sorge war. Die Fronarbeit der Fellachen war die Grundlage der technischen Wunder, die europäische Ingenieure und europäische Maschinen in Bewässerungsanlagen, Verkehrsmitteln, in Landbau und Industrie Ägyptens schufen. Am Nilstauwerk bei Kaliub wie am Suezkanal, beim Eisenbahnbau wie bei der Errichtung der Dämme, auf den Baumwollplantagen wie in den Zuckerfabriken arbeiteten unübersehbare Scharen von Fronbauern, sie wurden nach Bedarf von einer Arbeit zur anderen geworfen und maßlos ausgebeutet. Mußte sich auch auf Schritt und Tritt die technische Schranke der fronenden Arbeitskraft in ihrer Verwendbarkeit für moderne Kapitalzwecke zeigen, so war dies auf der anderen Seite reichlich wettgemacht durch das unbegrenzte Kommando über Masse, Dauer der Ausbeutung, Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskraft, das hier dem Kapital in die Hand gegeben war.“
Werner Pirker schreibt heute in der Jungen Welt über linke und andere Kriegstreiber, die nur allzu gerne in der „Krisenregion“ intervenieren würden:
Die Medienmeute trommelt zum Krieg. In der Springer-Postille Die Welt meint Dietrich Alexander gar, daß »wir« den Libyern eine Militärintervention schuldig seien. Zu lange nämlich hätte der Westen des Öls und der Rolle Libyens als Puffer zwischen Europa und den anstürmenden afrikanischen Migrantenmassen wegen über Ghaddafis blutige Gewaltherrschaft hinweggesehen. »Kein Blut für Öl« scheint neuerdings zu einer Kriegslosung geworden zu sein.
Wo es um die angebliche Priorität von Menschenrechten gegenüber schnöden Geschäftsinteressen geht, präsentiert eine in der Wertegemeinschaft angekommene Linke ganz besonders schneidig das Gewehr. »Wer schützt nun die Libyer?« fragt Dominic Johnson in der tageszeitung. »Während sich in Tripolis Straßen die Leichen stapeln«, beklagt er westliche Ignoranz gegenüber fremdem Elend, »holen deutsche und internationale Großkonzerne ihre Mitarbeiter zurück, europäische Staaten bringen Flugzeuge in Bereitschaft für eine mögliche Evakuierungsaktion.« Verärgert konstatiert er, daß »das Glaubwürdigkeitsproblem Europas beim Umgang mit der arabischen Revolution (…) jeden Tag größer« werde. Das ist zu hoffen. Denn eine arabische Revolution, die im Westen einen glaubwürdigen Verbündeten sähe, wäre keine arabische Revolution.
Zwischen der arabischen Revolution und westlicher Glaubwürdigkeit steht eine 150jährige Geschichte kolonialer und neokolonialer Ausbeutung, stehen zionistische Aggressionen und amerikanische Weltordnungskriege, stehen von den Hegemonialmächten zum Schutz vor arabischen Aufständen geförderte Diktaturen. Der in bewegten Worten die auf ökonomischen Eigennutz und Machterhalt gerichtete Politik des Westens anklagende taz-Mann, ruft indes nicht zum Kampf gegen den Imperialismus auf. Er ruft den Imperialismus zum Kampf auf.
Der richtige westliche Umgang mit der arabischen Revolution wäre nach Johnsons Ansicht eine Militärintervention. Johnson beruft sich auf das von den Westmächten in das Völkerrecht hineinreklamierte Konzept der »Schutzverantwortung« (responsibility to protect). Damit hat sich das Machtkartell ein nahezu unbegrenztes Interventionsrecht zugesichert. Diesen Vorteil will ein wackerer taz-Schreiber natürlich nicht aus der Hand geben. »Die Revolutionäre werden sich daran erinnern, wer an ihrer Seite stand und wer sich abwandte«, wähnt Johnson die arabischen Aufständischen vorerst noch auf der Seite des Westens. »Sie werden daran ihre zukünftige Politik ausrichten, so wie man es bereits von Israel, Südafrika oder Ruanda kennt«, meint er. Auf die Idee, in der zionistischen Staatsgründung ein Vorbild für die arabische Revolution zu sehen, mußte erst einmal jemand kommen.
Noch nicht auf imperialistischen Kriegspfaden wandelt die Linkspartei. Doch erfolgt die westliche Einmischungspolitik auch nach Meinung ihrer Führung viel zu zaghaft und inkonsequent. In einer Aussendung des außenpolitischen Sprechers der Linksfraktion im Bundestag, Wolfgang Gehrcke, wird das Ghaddafi-Regime in einer dem Meinungsdiktat voll angepaßten Diktion – »Diktatur bleibt Diktatur, menschenverachtend, brutal und offensichtlich reformunfähig« – in Bausch und Bogen verdammt und das dem libyschen Modell ursprünglich innewohnende emanzipatorische Element als »Tünche eines sogenannten ›arabischen Fortschritts‹« niedergemacht.
Wie der taz-Bellizist begründet auch Gehrcke seinen Ruf nach imperialistischer Einmischung scheinbar systemkritisch. Europa habe sich mit den arabischen Diktaturen arrangiert, weil es sich daraus ökonomische und geopolitische Vorteile versprochen habe. Daß diese Diktaturen zumeist in einem Funktionszusammenhang mit der westlichen Vorherrschaft über die Region stehen, das heißt zur Niederhaltung der antiimperialistischen arabischen Straße benötigt wurden, reflektiert der Linkspolitiker besser nicht, weil anders seine Forderung nach westlicher Demokratiehilfe zumindest etwas naiv erschiene. Er ignoriert auch den gravierenden Unterschied im Umgang des Hegemonialkartells mit der arabischen Revolution in Ägypten und Libyen. Während man in Ägypten einen gewaltsamen Umsturz zu verhindern suchte und die Aussetzung der Revolution durch das Militär mit Genugtuung zur Kenntnis nahm, hat sich die Wertegemeinschaft in Libyen, das sich unter Ghaddafi nie völlig vom Westen abhängig gemacht hat, von Beginn an in die (vorerst noch mediale und diplomatische) Schlacht um Tripolis geworfen. Und mitten im Getümmel Wolfgang Gehrcke und Genossen.
Zwischen der arabischen Revolution und westlicher Glaubwürdigkeit steht eine 150jährige Geschichte kolonialer und neokolonialer Ausbeutung, stehen zionistische Aggressionen und amerikanische Weltordnungskriege, stehen von den Hegemonialmächten zum Schutz vor arabischen Aufständen geförderte Diktaturen.
Die FAZ sorgt sich heute auf drei Seiten (!) über die Christen im arabischen Raum, die angeblich nur eine Wahl haben „sterben oder fliehen“. Ich weiß nur, dass die arabischen Christen, die ich kenne in Berlin, zu den schlimmsten Antisemiten, Antiarabern, gehören, die man sich vorstellen kann. In der FAZ-Samstzagsbeilage geht es dann auf zwei Seiten (!) weiter mit einem Artikel über den Muslim Mikail Allahwerdi, der nach der Revolution von Russland nach Deutschland flüchtete – und in dem sich „das Drama der Integration spiegelt“.
Aus der Schweiz kommt die Meldung:
„Mehr als 500 Personen haben am Samstagnachmittag in Genf, Lausanne und Zürich friedlich gegen den libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi demonstriert. Sie verurteilten die blutige Repression des Regimes und forderten Gaddafi auf, die Macht abzugeben. Die Schweiz schickte Humanitäre-Hilfe-Teams nach Libyen.“
Der Fernsehsender Al Dschasira zitiert Augenzeugen,
wonach die Aufständischen die Kontrolle über einzelne Stadtteile der Hauptstadt Tripolis übernommen haben. Weiter meldet der Fernsehsender, dass bei den Schüssen auf Demonstranten am Freitag laut Augenzeugen mindestens sieben Menschen getötet worden seien.
In der taz schreibt Alke Wierth heute: Die arabische Revolution verändert auch unsere Gesellschaft: Plötzlich liefern die Medien ein anderes Bild arabischstämmiger Einwanderer:
Bislang sieht es so aus, als sei der revolutionäre Aufbruch in vielen arabischen Ländern einer hin zu mehr Demokratie und Menschenrechten. Bestätigt sich das, wäre das eine wunderbare Veränderung für die Gesellschaften und die Menschen, die dort leben. Und wenn wir ein bisschen Glück haben, bringt es auch unsere Gesellschaft etwas weiter in diese Richtung auf den Weg.
Wer jetzt die hiesigen Medien verfolgt, kann schon Anzeichen solcher Veränderung bemerken: Plötzlich sieht man im Fernsehen hier lebende Menschen arabischer Herkunft, die selbstbewusst und sogar schlau über Politik, über Freiheit und Demokratie reden, die politisch denken und dies in ausgezeichnetem Deutsch artikulieren können. Statt der im Zweifelsfall kriminellen arabischen Großfamilie, die sich um Integration nicht die Bohne bemüht und sich um ihre immer viel zu vielen Kinder immer viel zu wenig kümmert, so dass diese erst Schulversager und dann Drogendealer, Intensivtäter oder S-Bahn-Schläger werden, zeigen die Fernsehbilder uns plötzlich selbstbewusste junge Männer und Frauen, die ihr Haar offen tragen und politische Ansichten haben. Im Frühstücksfernsehen darf gar ein offensichtlich frommer Muslim in traditionell arabischer Kleidung, flankiert von zwei verschleierten Frauen, seine Sicht auf die Vorgänge in Libyen und den Nachbarländern darlegen – und tut dies mit klaren Argumenten und in bestem Deutsch.
Arabischstämmige Deutsche, deutsche Araber zeigt uns das Fernsehen neuerdings, Menschen, die hier leben, mitreden und gehört werden wollen, die hier ganz offenbar gut angekommen sind und sich dennoch für die Vorgänge in ihren Herkunftsländern (oder denen ihrer Eltern) interessieren. Nicht mehr als verstockte, religiös verbohrte Integrationsverweigerer werden sie derzeit präsentiert, sondern als Sympathieträger: Heldinnen und Helden eines unterstützenswerten Ziels.
Selbst der kurz von manchen Medien gestartete Versuch, aus dem Freiheitskampf in arabischen Ländern ein Flüchtlingsproblem für die Europäische Union zu konstruieren, ist ungewöhnlich schnell verebbt: 4.000 tunesische Flüchtlinge mögen auf der kleinen Insel Lampedusa mit kaum mehr EinwohnerInnen ein logistisches und damit je nach politischer Einstellung entweder ein humanitäres oder ein „Überfremdungs“-Problem darstellen: Dass diese Flüchtlinge aber, über deren Fluchtgründe man anders als sonst gut informiert war, eine Bedrohung für die EU mit ihrer Bevölkerung von über 500 Millionen Menschen sein sollen, war der deutschen Öffentlichkeit offenbar nicht überzeugend zu vermitteln.
Gut so! Besteht nun die Chance, dass sich etwas verändert an dem Bild, das in unserer Gesellschaft, in der islamophobe Einstellungen weit verbreitet sind, insbesondere von Einwanderern aus muslimischen Ländern besteht? Sie sind momentan im Bild der Medien keine amorphe gesichtslose Masse hoffungslos integrations- und deutschenfeindlicher und demokratische Werte kulturell bedingt ablehnender Fremdlinge mehr, sondern Menschen, engagierte Individuen mit politischen Einstellungen und Wünschen – und persönlichen Gründen und historischen Hintergründen dafür, die es sich anzuhören und kennenzulernen lohnt. Sie sind ernstzunehmende und ernst genommene Gesprächpartner.
Sollte sich solcher Blick auf die Einwanderer in Deutschland festigen, sollte diese der Kommunikation geöffnete Tür auch künftig offen bleiben, hätte die Revolution der AraberInnen auch in diesem Land etwas für mehr Demokratie und Menschenrechte getan.
„Die Demonstrationen haben etwas Festliches, Bleibendes,“ schreibt „welt.de“ zu diesem Photo aus der „arabischen Region“.