Die Frankfurter Rundschau berichtet:
Im blog „My Heart’s in Accra“ meint der Autor, dass der Kairo-Virus sich auch südlich der Sahara ausgebreitet hat: In Gabun, Djibute und im Sudan „demonstrierten Tausende gegen die Regierung“ und an der Elfenbeinküste eskaliert die Auseinandersetzung, es ist schon fast ein Bürgerkrieg.Nur nimmt kaum jemand diese Aufstände zur Kenntnis, weil die Beteiligten sich nicht wie in der arabischen Region derart umfassend des Internets, Facebook etc. bedienen.
„Die Zeit“ schreibt über Libyen:
„Der Aufstand verwandelt sich gerade in einen langen Bürgerkrieg.“
In der taz veröffentlichte Martin Lejeune gestern ein Gespräch mit Rida Benfayed, dem Sprecher des oppositionellen Nationalrats im Osten Libyens. Über die Ziele der „Rebellen“ sagte dieser:
Wir wollen einen gerechten demokratischen Vielvölkerstaat, in dem nicht ein Stamm, eine Sippe über das Schicksal des ganzen Landes entscheidet. Wir wollen Wahlen, Parteien, ein Parlament, freie Presse, all das, was ihr auch in Deutschland habt.
Und wenn Gaddafi tatsächlich siegt?
Dann werden wir alle sterben. Ich, meine Familie und alle meine Kinder.
Für die taz von morgen hat Martin Lejeune nun einen Hintergrund-Bericht über die Situation in Libyen geschrieben:
Geheimdiplomatie in Libyen: Wie aus einer kleinen Führungsriege der Aufständischen über Nacht eine veritable libysche Übergangsregierung wurde.
Wer genau sind die Führer der Aufständischen in Libyen, die sich seit Dienstag (22.03.) recht ambitioniert als Übergangsregierung bezeichnen? Es ist später Montagabend (21.03.); an einem geheimen Ort in Tobruk trifft sich Mustafa Abdul Jalil, Vorsitzender des Nationalrats, der sich als das legislative Organ der Rebellen versteht, mit Abdul Ilah Chatib, dem Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen für Libyen. Mit dabei weitere hochrangige Vertreter der Rebellen. Nach „intensiven Konsultationen“ rät Chatib in der Nacht zum Dienstag der kleinen Führungsriege des Nationalrats, eine Übergangsregierung zu bilden und signalisiert damit die Unterstützung durch weitere Mitglieder des UN-Weltsicherheitsrates.
Bereits am nächsten Morgen (22.03.) präsentiert der Legislativrats-Vorsitzende Mustafa Abdul Jalil der Weltöffentlichkeit den Politologen Mahmoud Jebril als Premierminister der Übergangsregierung. Jebril sei von den 30 Mitgliedern des Legislativrates, unter ihnen Repräsentanten aller Regionen und Gesellschaftlichen Kräfte Libyens, zum Regierungschef gewählt worden, weil er über das größte internationale Renommee verfüge. Mahmoud Jebril, der 1952 in Bengasi geboren wurde und in Kairo sowie in Pittsburg Politikwissenschaft studierte, war bis Februar 2011 Leiter der Wirtschaftlichen Entwicklungsbehörde in Tripolis und arbeitete in dieser Funktion nicht nur mit der Arabischen Liga, sondern auch mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, dem dritthöchsten Amt innerhalb der Hierarchie der UN, das über ein Budget von mehreren Milliarden Euro verfügt.
Während der Politologe Jebril sich also immer mehr als Politikchef des neuen Libyens etabliert, präsentiert sich der Ex-Justizminister Mustafa Abdul Jalil, geboren 1952 in al-Baida, sozusagen als die „Präsidentenfigur“ des neuen Staates. Außenminister im Überganskabinett wurde Ali Abdulaziz al-Isawi, geboren 1966 in Bengasi, wo er 1989 an der Garyounes-Universität sein Studium mit einem Diplom in Nationalökonomie abschloss. Anschließend trat al-Isawi in den diplomatischen Dienst ein und war zuletzt Libyens Botschafter in Indien bis er nach dem 17. Februar aus Protest gegen die blutige Niederschlagung der Proteste von seinem Posten zurücktrat. Der Übergangsregierung gehören weiterhin an Mu’ammar al-Qaddafis Cousin Gaddaf ad-Dam, der frühere Sicherheitschef für die Cyrenaika, der ehemalige Innenminister Abdul Fatah Junis, der frühere Armee-Brigadier Abdulhadi Arafa und Abdul Hakim Ghoga, Vorsitzender der Anwaltskammer von Bengasi, der als höchst integrer Menschenrechtsanwalt gilt.
Besonders hervorzuheben, meinen internationale Beobachter, sei der neue Verteidigungsminister Omar Mokhtar al-Hariri, der 1975 einen Putschversuch gegen al-Qaddafi unternahm und mit 20 seiner Mitstreiter zum Tode verurteilt wurde. Nach 15 Jahren in der Todeszelle, darunter viereinhalb Jahre in Isolationshaft, wurde er 1990 für weitere 21 Jahre unter Hausarrest gestellt, bis er sich im Zuge der Ereignisse nach den 17. Februar in das Rückzugsgebiet der Rebellen floh. Al-Hariri wird von seinen Anhängern der „Nelson Mandela Libyens“ genannt und bildet mit Jebril, Jalil und al-Isawi die Führungsquadriga der Rebellen. Dass diese auf internationalen Parkett langsam ernst genommen werden, wie das Geheimtreffen mit dem UN-Gesandten Abdul Ilah Chatib beweist, ist vor allem dem Engagement Frankreichs zuzurechnen.
Als sich die Herrenrunde, die sich bis dahin noch „Revolutionäre vom 17. Februar“ nannten, am 2. März im „befreiten Libyen“ per „Dekret“ konstituierte (der Hauptsitz des Rates ist offiziell Tripolis, Ausweichort Bengasi) und sich in ihrer ersten „Deklaration“ mit dem Titel „Lang lebe ein freies und vereintes Libyen“ sogleich „zur legitimen Vertretung des Landes“ erklärte, geschah dies beinahe in Anwesenheit des französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy, der gerade in Bengasi Fotos schoss. Eine Delegation des Nationalrates kontaktierte Lévy und gewann ihn für ihre Sache. Lévy rief von Bengasi aus in Paris an bei Nicolas Sarkozy. Der kann Lévy zwar nicht mehr besonders leiden, seit dem der Intellektuelle es 2007 ablehnte, Sarkozys Wahlkampf zu unterstützen und nennt ihn seither nur noch abfällig „den Menschenrechtler aus dem Café Flore“ (dabei haben Sarkozy und Lévy viel gemeinsam: beide kommen aus Neuilly, beide machten Karriere, beide sind reich), aber sein sicherer politischer Instinkt sagte Sarkozy, wenn er sich als Avantgarde einer internationalen Koalition gegen al-Qaddafi präsentiere, kann er sich im Inneren und Äußeren profilieren. Afrika ist traditionell französisches Einflussgebiet.
Lévys und Sarkozys Initiative von einer schnellen Anerkennung des Nationalrates als „einzige legitime Regierung Libyens“ durch Frankreich überraschte sogar den französischen Außenminister Alain Juppé, der davon am Bahnhof in Brüssel durch die Frage eines Journalisten erfuhr und aus Protest gegen Sarkozys Alleingang von seinem Amt zurücktreten wollte. In Brüssel forderten einige EU-Parlamentarier am Tag vor der Anerkennung Frankreichs die „schnelle Anerkennung“ des Nationalrates, darunter die FDP-Abgeordnete Alexandra Thein, Mitglied der Fraktion l’Alliance des Démocrates et des Libéraux pour l’Europe au Parlement Européen. Thein zog daraufhin den Zorn ihres Parteichefs, Außenminister Guido Westerwelle, auf sich, der bis heute kein Interesse am Nationalrat zeigt.
Doch welcher Teil des Volkes ist die Basis des Nationalrates? Was treibt diejenigen an, die seit Wochen jeden Tag ihr Leben im Gefecht für die Übergangsregierung aufs Spiel setzen? Was war und was ist letztendlich die entscheidende Ursache dafür, welche die Rebellen in den Städten Bengasi, Tobruk, al-Baida und anderswo im Osten Libyens so sehr gegen das Regime Mu’ammar al-Qaddafis aufgebracht hat? Sind es tief verwurzelte Stammesrivalitäten oder wirtschaftliche Benachteiligungen? In der Folge des 17. Februars seien es vor allem arbeitslose oder unterbeschäftigte junge Männer gewesen, die „Polizeistationen und Amtsstuben in Brand steckten und so für die Eskalation der Unruhen sorgten“, sagt Wolfram Lacher von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“. Diese Leute stellten sozusagen das „Fußvolk“ in der ersten Phase der Revolte dar, als das wichtigste Fahrzeug der Rebellen der Pick-up war.
Dass die Bevölkerung Libyens extrem jung ist und unter ihnen viele Arbeitslose, bestätigt auch die Politologin Yehudit Ronen vom Mosche-Dayan-Zentrum an der Universität Tel Aviv. Nur 2,9 Prozent der schätzungsweise sechs Millionen Einwohner seien über 65 Jahre, 53 Prozent der Libyer sogar unter 20. Unter ihnen grassiert das arabische No-Future-Syndrom. Sie sind gefangen im Teufelskreises der politischen und wirtschaftlichen Missständen der Spätphase des Regimes. Die durchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit ist circa doppelt so hoch wie im Weltdurchschnitt, so die „Arab Labour Organisation“. Und das hat die Übergangsregierung in Punkt 1 ihrer ersten Erklärung festgestellt: „Der Rat bekräftigt, dass die Jugend die wichtigste Rolle spielt. Sie ist die Basis der Revolution.“
Nichts wie weg über das Meer, auf dessen anderer Seite sie sich ein besseres Leben erhoffen, wollten viele Jugendliche vor dem 17. Februar. Das hört der Autor dieser Zeilen immer wieder persönlich in herzzerreißenden Telefonaten mit jungen Libyern in Bengasi, die fragen, ob man sie nicht nach Deutschland einladen könne. Diese Jugendlichen sahen nichts von den Erdöl- und Erdgaseinnahmen des Regimes. „Wo bleibt dieses ganze Geld?“, fragt etwa der 27-jährige Ayman aus Bengasi, um die Antwort ohne zu zögern gleich von selber nachzuschieben: „Auf den Auslandskonten der al-Qaddafi-Sippe. Libyen ist für uns ein armes reiches Land.“ Der Durchschnittslohn eines Arbeiters in Libyen beträgt gerade einmal 510 Euro pro Monat. Die Libyer wünschen sich mehr Möglichkeiten und eine höhere Lebensqualität.
Schon der militärische Staatsstreich gegen König Idris im Jahre 1969 durch den nasseristisch ausgerichteten „Bund der Freien Unionistischen Offiziere“ unter der Führung von Oberst Mu’ammar al-Qaddafi war erst möglich geworden durch massive sozioökonomischen Missstände, welche die große Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung schürten. Dass das Zentrum des Widerstands in der Cyrenaika liegt, hat gewissermaßen Tradition. Libyen besteht aus drei verschiedenen Landesteilen, der Westprovinz Tripolitanien, die etwa zwei Drittel der Bevölkerung beherbergt; die Wüstengebiete in der Provinz Fezzan mit zehn Prozent Bevölkerungsanteil, vorwiegend Tuareg; und die Ostprovinz Cyrenaika, wo die Stammeszugehörigkeit viel stärker ausgeprägt als in den anderen Landesteilen. Aus der Cyrenaika kommt auch der von al-Qaddafi 1969 abgesetzte König, dessen tribalistische Machtbasis die dortigen Stämme waren, so Hanspeter Mattes vom Giga-Institut.
So läßt sich auch erklären, weshalb die dreifarbige libysche Königsfahne bei den Rebellen im Osten wieder im Einsatz ist. „Wir sind jedoch keine Monarchisten“, beteuert Rida Benfayed, Sprecher der Übergangsregierung in Tobruk. Die Flagge symbolisiere vielmehr ihr Selbstverständnis der territorialen Einheit: Der schwarze Teil mit Halbmond und Stern sei zwar ein Überbleibsel vom Banner des Königs, aber das rote Feld symbolisiere die Region Fezzan und das grüne die Tripolitania. Auch eine rot-schwarz-grüne Flagge ohne Halbmond und Stern kommt bei den jetzigen Protesten vor – hier ist das Monarchie-Symbol mit Absicht herausgenommen.
Libyen ist eine Volksdemokratie mit Einflüssen aus der Berbertradition, der Beteiligung von Dorfräten und Elementen direkter Demokratie. Das nationale Parlament ist der Allgemeine Volkskongress (AVK) mit 468 Mitgliedern, der alle drei Jahre von regionalen Basisvolkskongressen gewählt wird. Der AVK tagt jährlich und setzt das nationale exekutive Allgemeine Volkskomitee, die Regierung, ein. Der AVK wird von einem siebenköpfigen Generalsekretariat mit einem Generalsekretär an der Spitze geführt, der das Amt des Staatsoberhauptes ausübt. Al-Qaddafi selber hat offiziell kein Amt inne und inszeniert sich gerne als normaler einfacher Staatsbürger, der vor laufenden Kameras die libysche Regierung hart angeht. So kritisierte er nach dem 17. Februar die De-Facto-Regierung dafür, dass es zu wenig billige Wohnungen gebe und dass die Regierung zu wenig für das Bildungsangebot tue.“ Doch bei der Jugend zieht al-Gaddafis Propaganda nicht mehr: „Wir wissen ganz genau, wer für die Misere in unserem Lande verantwortlich ist“, so Ayman.
Der Spiegel meldet auf seinem „Live-Ticker Libyen“:
„Den Rebellen mangelt es offenbar nicht an finanziellen Mitteln. „Im Moment brauchen wir kein Geld“, sagte der Finanzminister der Übergangsregierung, Ali Tarhouni, der „New York Times“. „Wir verfügen über einige Mittel für grundlegende Dinge wie beispielsweise Gehälter.“ Außerdem hätten verschiedene Staaten bereits signalisiert, dass sie den Aufständischen bei Bedarf Kredite gewähren würden. Die britische Regierung habe zudem die Zahlung von rund 1,1 Milliarden Dollar aus beschlagnahmten libyschen Vermögenswerten zugesagt, erklärte Tarhouni.“
Außerdem hat das Kommando der West-Allierten beschlossen: „Kampfjets sollen tiefer fliegen“ (also bodennäher operieren), beklagt wird, dass die arabischen Staaten sich bisher noch nicht dem Kampfverbund gegen Gaddafi angeschlossen haben, trotz einiger Zusagen.
Die FAZ fragte den syrischen Menschenrechtler Radwan Ziadeh, ob die Proteste in seinem Land zu einer umfassenden Bewegung sich ausweiten?:
„Ja, der Funke für die Revolution wurde gezündet, als die syrischen Sicherheitskräfte Gewalt gegen die Demonstranten anwendeten und es die ersten Toten gab.“
AP meldet heute Mittag:
„Die syrische Polizei hat nach Zeugenangaben am Mittwoch mindestens 15 protestierende Regierungsgegner in der Stadt Daraa erschossen. Mindestens sechs Opfer gab es demnach bei einem Angriff auf eine Moschee, in der sich Demonstranten aufhielten, die für politische Reformen protestierten. Drei weitere Demonstranten seien nach Einbruch der Dämmerung im Zentrum der Stadt getötet worden, berichtete ein Aktivist. Zudem seien sechs Leichen gefunden worden.“
AFP tickert:
„Beim gewaltsamen Vorgehen von Sicherheitskräften gegen regierungskritische Demonstranten in Syrien sind nach Angaben der Opposition mindestens hundert Menschen getötet worden. Augenzeugen und Bürgerrechtler nannten am Donnerstag diese Opferzahl, nachdem die Sicherheitskräfte am Vortag die Proteste in der südsyrischen Staat Daraa gegen die Staatsführung niedergeschlagen hatten. Rund 20.000 Menschen hätten sich nunmehr in Daraa zur Beisetzung der Opfer versammelt.“
Al Dschasira schreibt heute über Syrien:
The revolution that was sparked in Tunisia has given birth to a new pan Arab-movement, a „neo-Arabism“, which privileges freedom and democratic participation of the people over ideology, sectarianism and the interest of dictators.
As we witness a rebirth of a revolutionary neo-Arabism that has infected millions from Morocco to Bahrain, we cannot ignore the birth-place of the original pan Arab movement of the past century – Syria.
Much has been written about Syria and why it cannot be next in line of the modern day Grand Arab Revolution. Very few have asked the question: „Why not?“
The revolutionary rumbles that can be heard in Syria today, indicate that revolution is not only possible, but is inevitable because Syrians have learned from neighboring uprisings that freedom is attained through exercising one’s inalienable human right to self-determination and self-dignity.
Like their Arab counterparts, Syrian youth have similar grievances: unemployment, lack of government accountability and rampant corruption that forecast a bleak future. Like other Arab revolutionaries, they are neither dominated by an Islamist ideology nor a foreign agenda. They are Syrians who comprise the rich diversity of Syria – whether Christian or Muslim, Druz or Alawi, Kurd or Assyrian. The recent protests in the country have shown that these young protesters are united in purpose, and peaceful in their means.
Syrians have embarked on an irreversible path of collective political self-awareness. The slogans of March 15th, „God, Freedom and Syria, period!“ cannot be unuttered. They have challenged a culture of complacency, fear and silence.
No one will be able to tell with any degree of certainty what will happen in the next few days or weeks in Syria. Will the momentum continue to snowball and bring more Syrians to the streets? Will the regime make an example of Dara’a and show the populace the price one pays for dissent? Or will a critical mass of Syrians decide the time is now for Syria to join its free brethren in Egypt, and Tunisia?
One thing, however, is for certain: If Syria does not see a full-blown uprising soon, a culture of dissent has nonetheless commenced. The fear barrier has been broken irreversibly.
People are finally realising that they are entitled to what is fundamentally theirs, and like their Tunisian and Egyptian sisters and brothers, they will know what do with it. They will organise and come together and they will learn to build a revolution and a more prosperous Syria.
Genauso verlogen wie die Gaza-Regierung, der bahrainische Herrscher und der König von Saudi-Arabien argumentiert jetzt auch das syrische Regime:
„Der syrische Präsident Baschar al-Assad und seine Regierung haben den Regimegegnern den Krieg erklärt. Die regierungsnahe syrische Tageszeitung „Al-Watan“ schrieb am Donnerstag: „Was momentan hier im Land geschieht, das ist eine Schlacht gegen eine ausländische Macht, die Millionen von Dollar ausgibt, mit dem Ziel, die Sicherheit und Stabilität Syriens zu erschüttern.“ Alle Syrer müssten deshalb jetzt bereit sein, das Vaterland zu verteidigen. Vor allem die Prediger seien aufgerufen, den Gläubigen zu erklären, dass sie nicht auf die von ausländischen Medien fabrizierten Lügen hereinfallen dürften.“ (dpa)
Aus Bahrain meldete AP zuletzt:
„Die Regierung in Bahrain hat den Demonstranten vorgeworfen, das wichtigste Krankenhaus in der Hauptstadt Manama als Planungszentrale für ihre Proteste zu nutzen. Sicherheitskräfte hätten daher die Kontrolle über die Klinik übernommen, teilte eine Regierungssprecherin mit.
Ärzte hätten böswillige Propaganda verbreitet, hieß es am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Seit der Ausrufung des Notstands in Bahrain vergangene Woche wurden mindestens vier Mediziner des Krankenhauses Salmanija festgenommen. Mehrere Demonstranten, die bei Protesten gegen die Regierung verletzt und in der Klinik behandelt wurden, haben erklärt, sie seien dort von der Polizei verhört und geschlagen worden.“
Das Regime in Bahrain versucht angestrengt den Klassenkampf in einen Religionskampf zu verwandeln, während das Regime in Gaza den Unmut gegen sich in einen Kampf gegen Israel zurückverwandeln will.
Aus Algerien meldete dpa:
„Ein sieben Jahre altes Mädchen ist bei Unruhen in Algerien ums Leben gekommen. Sie habe zu viel Tränengas abbekommen, berichtete die Website elwatan.com am Mittwoch. Sicherheitskräfte hatten seit dem frühen Morgen versucht, eine illegale Siedlung am Stadtrand von Algier zu räumen. Dabei kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und aufgebrachten jungen Leuten. Mehrere Dutzend Menschen wurden verletzt, mindestens ein Polizeiauto ging in Flammen auf. Die Bewohner der illegalen Siedlung fordern seit langem den Bau von Sozialwohnungen.“
Die Junge Welt schreibt über die Situation im Jemen:
„Im Jemen wird es einsam um Präsident Ali Abdullah Saleh. Nach 30 Jahren wenden sich selbst langjährige Weggefährten von ihm ab und stellen sich demonstrativ auf die Seite der Protestbewegung. Saleh verschanzte sich derweil in seinem Präsidentenpalast, der von Soldaten der Republikanischen Präsidentengarde abgeschirmt wird.
Dutzende Mitglieder sind aus der herrschenden Allgemeinen Volkskongreßpartei (GPC) im Jemen ausgetreten, darunter Minister, Botschafter und Militärs. Allein am vergangenen Wochenende waren es 20 Personen, darunter auch die Ministerin für Menschenrechte, Huda Al-Ban. Damit haben bisher sechs Minister Saleh den Rücken gekehrt, darunter die für Bildung, Tourismus und Umwelt.
Auch die jemenitischen Botschafter bei den Vereinten Nationen (New York) und im Libanon sind zurückgetreten, ebenso der Leiter der staatlichen Nachrichtenagentur SABA und der Zuständige für die Außenbeziehungen der Allgemeinen Volkskongreßpartei. Auch Chefredakteure staatlich kontrollierter Tageszeitungen und der Leiter der staatlichen Organisation für Presse und Journalismus, Al-Jumhurriya, reichten ihren Rücktritt ein.
Alle verurteilten die Gewalt, mit der am vergangenen Freitag Sicherheitskräfte gegen die Protestbewegung in der Nähe der Universität vorgegangen waren. Dabei waren 52 Personen erschossen und mehr als 600 verletzt worden. Saleh hatte daraufhin den Ausnahmezustand verhängt. Am Mittwoch soll das jemenitische Parlament diesen gebilligt haben. An der Abstimmung nahmen laut Parlamentsangaben nur 164 der insgesamt 301 Abgeordneten teil. Oppositionelle und unabhängige Abgeordnete boykottierten die Abstimmung. Ein Abgeordneter der Opposition sagte hingegen, der Beschluß des Parlaments sei nicht gültig. An der Abstimmung hätten sich nur 133 und nicht 164 Abgeordnete beteiligt, sagte Abdel Rasak Al-Hedschri von der islamistischen Partei Al-Islah. Damit sei das nötige Quorum nicht erreicht worden.
»Die Verletzungen der Menschenrechte werden sowohl von der Scharia als auch dem (weltlichen) Gesetz verboten und haben uns in eine schwierige Situation gebracht«, hieß es in dem Rücktrittsschreiben der Ministerin für Menschenrechte, Al-Ban. Es sei nicht möglich, in einem System weiterzuarbeiten, das »die Rechte und die Freiheit seines Volkes nicht respektiert«.
Den schwersten Schlag dürfte Präsident Saleh aber von hochrangigen Militärs erhalten haben, die ihre Solidarität mit den Demonstranten und der »Revolution« bekundeten. General Ali Mohsen Al-Ahmar sagte, die Krise im Jemen werde immer komplizierter, das Land werde »in Gewalt und Bürgerkrieg« gedrängt. Darum hätten er und andere Kommandeure und Soldaten beschlossen, »die Jugendrevolution friedlich zu unterstützen«. Sadik Al-Ahmar, Führer der Föderation der Hashid-Stämme, sagte ebenfalls, er und sein Stamm würden sich »der Revolution anschließen«. Der Präsident solle Blutvergießen vermeiden und »einen ruhigen Abgang« machen.
Nach 32 Jahren Herrschaft Salehs ist die Zukunft des völlig verarmten Landes unklar. Die Konflikte mit vielen bewaffneten Gruppen seien eine große Herausforderung, meinte der Politikwissenschaftler Abdulghani Al-Iryani. Fraglich sei, wie die vielschichtige Opposition das Vakuum ausfüllen könne, das Präsident Saleh hinterlassen werde. Die meisten Probleme des Landes seien »selbst verursacht«, so Al-Iryani. Ausländische Einmischung habe Korruption und Vetternwirtschaft gefördert. Die politische, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung großer Teile der überwiegend jungen Gesellschaft habe die soziale Struktur des Landes zerstört.
Am Montag berichtete die Yemen Times, Saleh habe sich mit einem der Generäle über einen nicht genannten Vermittler in der Nacht auf den Rücktritt geeinigt, um Jemen vor einem Bürgerkrieg zu bewahren. Sobald er wüßte, wer seine Nachfolge antrete, sei Saleh bereit, seinen Stuhl zu räumen. Im Norden des Landes gehen derweil seit Sonntag Truppen, die sich weiterhin loyal zu Präsident Saleh verhalten, gegen die Huthi-Rebellen vor. Auch die Luftwaffe wurde eingesetzt. Die Kämpfe in der Region Al-Jawf, die an Saudi-Arabien grenzt, halten an. Bisher wurden bis zu 40 Menschen getötet, berichtet das UN-Informationsnetzwerk IRIN.“
Reuters meldete heute Mittag aus dem Jemen:
„Vor weiteren geplanten Massenprotesten im Jemen haben sich Mitglieder der Präsidentengarde und zur Opposition übergelaufene Soldaten heftige Kämpfe geliefert. Bei den Gefechten am Donnerstag in Mukalla im Osten des ärmsten Landes auf der arabischen Halbinsel wurde mindestens ein Mensch verwundet. Unter dem Druck der seit rund sechs Wochen anhaltenden Proteste hatte Präsident Ali Abdullah Saleh zuletzt Zugeständnisse in Aussicht gestellt, den von der Opposition geforderten sofortigen Rücktritt aber abgelehnt. Westliche Staaten und das benachbarte Saudi Arabien äußerten sich besorgt, dass bei einem Rückzug Salehs ein Machtvakuum entstehen könnte, das die im Land aktive Extremisten-Gruppe Al-Kaida weiter stärken könnte.
In Mukalla war es bereits vor einigen Tagen zu Zusammenstößen zwischen der von Salehs Sohn Ahmed befehligten Präsidentengarde und Armee-Einheiten gekommen, die sich auf die Seite der Protestbewegung geschlagen hatten. Zu Beginn der Woche hatten sich führende Generäle, Diplomaten und Stammesanführer von der Regierung losgesagt. Unter ihnen war auch der für den Nordwesten des Landes zuständige Militär-Kommandeur Ali Mohsen. Dieser erklärte in einem Interview der Nachrichtenagentur Reuters, er habe keine Ambitionen auf ein politisches Amt.
Für Freitag waren nach den Gebeten erneute Proteste geplant. Die Opposition rief zu einem „Tag des Abgangs“ auf, zu dem Hunderttausende Menschen erwartet wurden. Am Donnerstag versammelten sich in der Hauptstadt Sanaa rund 10.000 Menschen, die Salehs Rücktritt forderten. Sie riefen: ‚Geh, Du Feigling, Du bist ein amerikanischer Agent‘.“
Aus Tunesien und Ägypten melden die Nachrichtenagenturen ausschließlich, dass die Reaktion sich festigt – und die Aktivisten des Aufstands derzeit erst einmal nur mit den Zähnen knirschen können. Die Übergangsregierungen verhalten sich nicht viel besser als die davongejagten Regime zuvor. Sie festigen ihre Macht, igeln sich ein und nehmen Errungenschaften wie Streik- und Demonstrationsrechte zurück.
Eine Meldung von AP aus Marokko bestätigt diesen Befund:
„Der marokkanische Außenminister Taieb Fassi-Fihri hat vor einem raschen Ende des „arabischen Frühlings“ gewarnt, sollte der politische Wandel in Ägypten und Tunesien nicht zu echter Demokratie führen. Bei einem für (den heutigen) Mittwoch geplanten Treffen mit US-Außenministerin Hillary Clinton werde er vorschlagen, dass die Gruppe der acht wichtigsten Industriestaaten (G-8) eine Initiative starten sollten um sicherzustellen, dass demokratische Prinzipien und Institutionen in den beiden Staaten Fuß fassten, erklärte er.
In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP sagte Fassi-Fihri am Dienstagabend, Marokko sei begeistert von dem „arabischen Frühling“. Dieser beweise, dass es auch in der arabischen Welt Demokratien gebe. Zugleich verwies er darauf, dass es in der arabischen Welt eine ganze Reihe von politischen Systemen gebe, von Monarchien über Diktaturen hin zu Ein-Parteien-Herrschaften. Dies stelle ein Risiko dar. Nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten dürfe nicht zugelassen werden, dass sich autokratische Herrscher etablierten, wie es 1979 im Iran geschehen sei.“
Al Dschasira schreibt:
„Western air and naval strikes against Libya are threatening the Arab Spring.
Ironically, one of the reasons many people supported the call for a no-fly zone was the fear that if Gaddafi managed to crush the Libyan people’s uprising and remain in power, it would send a devastating message to other Arab dictators: Use enough military force and you will keep your job.
Instead, it turns out that just the opposite may be the result: It was after the UN passed its no-fly zone and use-of-force resolution, and just as US, British, French and other warplanes and warships launched their attacks against Libya, that other Arab regimes escalated their crack-down on their own democratic movements.“
Aus Libyen meldet dpa am Mittag:
„Auch nach dem Ausschalten der libyschen Luftwaffe durch die internationale Militärallianz fügen die Gaddafi-treuen Truppen den Aufständischen weiter schwere Verluste zu. In Misurata beschossen Einheiten des Machthabers Muammar al-Gaddafi das Viertel um das Zentralkrankenhaus, wie der Sender Al-Arabija am Donnerstag unter Berufung auf einen Krankenhausarzt berichtete. Die internationalen Luftschläge der vergangenen Tage hätten die Panzer-Einheiten der Gaddafi-Truppen in der drittgrößten Stadt des Landes nicht ausreichend geschwächt.“
Aus Japan meldet dpa heute Mittag:
„Im Problemreaktor 3 in Fukushima sind einige Arbeiter abgezogen worden. Zuvor hatten dort drei Männer eine sehr hohe Strahlendosis abbekommen. Die Betreiberfirma Tepco habe Arbeiter im Erdgeschoss und Untergeschoss des Reaktors angewiesen, sich in Sicherheit zu bringen. Das meldete die japanische Nachrichtenagentur Kyodo am Donnerstag.“
„Die Zeit“ spricht von einer „Generation Fukushima“ und veröffentlichte heute u.a. Auszüge aus dem Tagebuch der Buchhalterin Sonoko Higaya aus Sapporo:
„Ich fühle mich leicht abgestumpft von den vielen Berichten über technische Details der Nukleartechnologie, die ich nicht verstehe. Das Land funktioniert nicht mehr normal.“
„Ich muß unbedingt etwas in meinem Leben ändern. Also gehe ich zum Friseur.“
In einem anderen Zeiut-Artikel heißt es über die an den havarierten Reaktoren eingesetzten Spezialeinheiten:
„Seit Hunderten von Jahren ist die Feuerwehr die Avantgarde der Zivilgesellschaft.“
Der „Freitag“ veröffentlichte ebenfalls ein Tagebuch – von der japanischen Journalistin Chikayo Morijiri:
„Ich kann der Regierung nicht vertrauen. Sie haben sich alle in Sicherheit gebracht, also habe auch ich mich entschlossen, nicht nach Tokio zurückzukehren.“
„Pfad verloren/Hoffnung verloren/Wahrheit verloren/Ich muß eine wiederfinden.“
In einer Kleinstadt 200 Kilometer nördlich des Reaktors wird sie Zeuge, wie ein LKW-Fahrer, der Lebensmittel, Wasser und Decken nach Fukushima bringen soll, mit einer „Kamikaze-Zeremonie“ verabschiedet wird. „Die Atmosphäre war heilig. Und sie belastet mich. Müssen wir für so etwas sterben?“
„Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir auf westliche Weise gelebt und nach westlichen Regeln gelebt. Ich bezweifle, ob das gut für uns ist. Es hat zu Spannungen in unserem Geist geführt. Es mag seltsam klingen, aber ich glaube, wir haben etwas von unserem Menschsein verloren. All das ist eine Tragödie, aber sie könnte eine Chance für uns sein, um wieder zur Vernunft zu kommen.“
„Ein Land, zum Wandel imstande,“ so ist dann auch ein weiterer Freitag-Artikel – von Reinhard Zöllner – überschrieben, in dem behauptet wird: „Nach dem Desaster bilden ausgerechnet die Beamten die Basis für einen solidarischen Aufbruch.“
Die Junge Welt beschäftigt sich heute mit den „technischen Details der Nukleartechnologie bzw. -katastrophe“:
„Noch immer hat Tepco, der weltgrößte AKW-Betreiber, keinen seiner havarierten Reaktoren im japanischen Kraftwerkskomplex Fukushima Daiichi so richtig unter Kontrolle. Mal heißt es, die Temperaturen hätten abgesenkt werden können, dann wieder wird von aufsteigendem Rauch oder Wasserdampf über dem einen oder anderen der Reaktoren berichtet. Die Informationen sind spärlich und widersprüchlich. Meist treffen sie verspätet ein.
Am Montag sollte die Öffentlichkeit mit Temperaturmessungen beruhigt werden. Sie wurden von Helikoptern aus mittels Infrarotsensoren durchgeführt. Was heißt das? Zum einen haben die Betreiber offensichtlich weder im Reaktordruckbehälter noch im umgebenden Sicherheitsbehälter noch im Betriebsgebäude die Möglichkeit, kontinuierlich zu messen. Es gilt also immer noch, was eine ehemaliger Tepco-Ingenieur vor anderthalb Wochen auf einer Pressekonferenz japanischer AKW-Gegner sagte: »Keiner weiß, wie es in den Druckbehältern aussieht.«
Angeblich waren die Temperaturwerte sehr positiv. Vom Reaktor 3 wurden 128 Grad über dem Sicherheitsbehälter gemeldet. Um zu verstehen, was dieser Wert bedeutet, muß erläutert werden, wie die Reaktoren aufgebaut sind: Im Inneren befindet sich der Kessel, der Druckbehälter, in dem die Brennstäbe im Wasser hängen. Der Kessel befindet sich im Sicherheitsbehälter, dem sogenannten Containment. Der sollte eigentlich so ausgelegt sein, daß er allen Widrigkeiten standhält und selbst einem GAU, das heißt, dem größten anzunehmenden Unfall, standhält. Daß letzteres allerdings nur ein frommer Wunsch ist, zeigt sich zur Zeit mal wieder in Fukushima. Die hohen Werte an Radioaktivität, die dort inzwischen im weiteren Umfeld der Reaktoren gemessen wurden, deuten eher darauf hin, daß an einem der Havaristen der Sicherheitsbehälter beschädigt ist. Das könnte durch eine der Explosionen geschehen sein, die sich ereignet haben.
Aber zurück zu den Temperaturen. Wenn außerhalb des Containments eine Temperatur von 128 Grad gemessen wird, dann muß es im Inneren natürlich noch viel heißer sein. Derartige Temperaturen lassen darauf schließen, daß im Inneren des Druckbehälters das Wasser längst vollständig verdampft ist und die Brennstäbe zumindest teilweise aufgeschmolzen sind.
Wie kommt es dazu? In einem Atomreaktor sind Brennstäbe aus Uranoxid oder, wie im Falle des besonders heißen Reaktors 3 in Daiichi, Uran- und Plutoniumoxid, so angeordnet, daß eine Kettenreaktion in Gang kommt. Die Neutronen, die beim spontanen Zerfall des radioaktiven Urans freigesetzt werden, spalten weitere Atomkerne, wodurch wiederum Neutronen freigesetzt werden. Dafür dürfen sie nicht allzu schnell sein, weil sie sonst nicht von den Kernen eingefangen werden können. Ein Moderator, meist das Kühlwasser, bremst die Neutronen ab, damit die Kettenreaktion aufrechterhalten wird.
Weitere Bedingung für die Kettenreaktion ist, das genügend spaltbares Material, also Plutonium und Uran, vorhanden ist. Die Physiker sprechen auch von kritischer Masse. Das hört sich trivial an, ist aber für den Betrieb eines AKW sehr wichtig. Werden nämlich sogenannte Steuerstäbe zwischen die Brennstäbe gefahren, die den Neutronenfluß unterbrechen, dann bricht die Kettenreaktion ab, weil in den einzelnen Stäben nicht genug Brennstoff enthalten ist, um sie aufrechtzuerhalten. Hinweis am Rande: Nicht alles Uran ist als Brennstoff geeignet, sondern nur das Isotop U-235.
Woher kommt aber die Wärme? Die Energie in einem Atomkraftwerk wird von den Spaltprozessen geliefert. Jeder einzelne Atomkern setzt, wenn er zerfällt, erheblich mehr an Energie frei, als wenn er einfach nur mit einem anderen Atom oder Molekül chemisch reagieren würde. Dabei spalten sich nicht nur die Uran- und Plutoniumkerne, sondern auch viele der Spaltprodukte. Wenn also nun die Kettenreaktion abgebrochen wird, dann sind in den Brennstäben immer noch jede Menge instabile Spaltprodukte vorhanden, die weiter zerfallen und dabei Energie freisetzen.
Die Brennstäbe liefern nach dem Abschalten zunächst noch fünf bis zehn Prozent der Volleistung des Reaktors, weshalb diese Energie unbedingt aus dem Reaktor abgeführt werden muß. In deutschen Atomkraftwerken gibt es in der Regel vier voneinander unabhängige Notkühlsysteme, die diese Aufgabe übernehmen können, wenn das Kraftwerk keinen eigenen Strom mehr erzeugt und auch von außen keinen beziehen kann. In den japanischen Reaktoren in Fukushima waren das wohl nur je zwei oder drei, die aber nach dem Erdbeben an drei Reaktoren vollständig ausfielen.
Fällt die Kühlung aus, so verdampft das Wasser im Reaktordruckbehälter, was zwei Probleme mit sich bringt. Zum einen steigt der Druck im Kessel derart stark, daß dieser explodieren kann. In Fukushima wurde daher aus allen havarierten Reaktoren Dampf abgelassen. Zum anderen zerlegt die starke radioaktive Strahlung einen Teil der Wassermoleküle im Dampf zu Wasserstoff und Sauerstoff. Dieses Problem haben die japanischen Techniker offenbar nicht in den Griff bekommen. Zumindest einige der Explosionen, von denen berichtet wurde, sind Wasserstoffexplosionen gewesen.
Wenn das Wasser erst mal verdampft ist, erhitzen sich die Brennstäbe immer weiter. Ab einem bestimmten Zeitpunkt darf denn auch kein neues Kühlwasser mehr eingeführt werden, weil es sonst zu einer Wasserdampfexplosion käme. Das heißt, die Brennstäbe sind bereits so heiß, daß Wasser explosionsartig verdampft, wenn es mit ihnen in Berührung kommt. Eine solche Explosion könnte unter Umständen Druckbehälter und Containment zerfetzen.
In Fukushima wurde daher schon Anfang letzter Woche begonnen, einige der Containments, das heißt, den Bereich zwischen Druck- und Sicherheitsbehälter, mit Meerwasser zu fluten und sie von außen mit Wasser zu bespritzen. Das kann jedoch die Kernschmelze im Inneren der Druckbehälter nicht aufhalten. Dort sammelt sich irgendwann, vermutlich hat dieser Prozeß bereits in einem oder mehreren der havarierten Reaktoren eingesetzt, das flüssige Uran- und Plutoniumoxid – letzteres nur in Reaktor 3 – auf dem Boden des Druckbehälters. Uranoxid hat einen Schmelzpunkt von etwas über 2800 Grad Celsius, Plutoniumoxid verflüssigt sich schon bei 2400 Grad Celsius. Man kann sich vorstellen, daß der Stahl des Druckbehälters solchen Temperaturen nicht ewig standhält.
Zumal es auch noch heißer werden kann. Wenn die Brennstäbe nämlich weitgehend geschmolzen sind und das spaltbare Material miteinander verklumpt, dann kann durchaus die kritische Masse erreicht werden, die für das erneute Ingangsetzen der Kettenreaktion nötig ist. Es entsteht also wieder ein neuer Reaktor, allerdings keiner, der noch irgendwie steuerbar wäre. Diese Situation ist allerdings nicht mit einer Atombombe zu verwechseln: Zu einer nuklearen Explosion kann es in keinem Atomkraftwerk der Welt kommen. Dafür müßten die Brennstäbe mit großer Kraft aufeinander zuschießen.
Es sind allerdings Explosionen anderer Art möglich. Wenn die Kernschmelze sich durch den Boden des Reaktorbehälters brennt, dann fällt sie in das Containment. Dieses ist im Falle der drei Fukushima-Reaktoren derzeit zumindest teilweise mit Wasser gefüllt. Es würde also zu einer Wasserdampfexplosion kommen, die die Sicherheitsbehälter vermutlich sprengen würde. Das Ergebnis wäre die Freisetzung extrem großer Mengen an Radioaktivität, und zwar in der Größenordnung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.“
Die Nachrichtenagentur dpa meldet um 14 Uhr:
„Eigentlich wollten die Einsatzkräfte die überhitzten Reaktor-Ruinen zwei Stunden lang kühlen. An dem besonders gefährlichen Reaktor 3 sollte eine erste Pumpe getestet werden. Als jedoch erneut schwarzer Rauch aufstieg, wurden alle Arbeiter von den Blöcken 1 bis 4 abgezogen, wie die Agentur Kyodo berichtete. Auch alle Feuerwehrleute mussten demnach das Gelände verlassen. Sorgen bereiten auch steigende Temperaturen in den Reaktoren 1 und 3.“
Der Tagesspiegel schreibt:
„Deutsche Atomkraftwerke sind nicht haftpflichtversichert. Die Versicherungsgesellschaften lehnen es ab. Das Risiko ist ihnen zu hoch. Im Moment haften die Betreiber der Atomkraftwerke mit maximal 2,5 Milliarden Euro. Dieses Geld würde gegebenenfalls die Solidargemeinschaft der Kraftwerksbetreiber bezahlen. Wenn der Schaden höher ausfällt – im Falle eines GAU wären es vermutlich mindestens 1000 Milliarden Euro –, dann haftet theoretisch das Unternehmen mit seinem Vermögen, aber das kann man vergessen. Nach einem GAU ist das Unternehmen eh nix mehr wert.
Allein die Verlängerung der Laufzeiten durch Angela Merkel und Konsorten hat den Betreibern aber, nach einer Berechnung der Landesbank Baden-Württemberg, zusätzliche Gewinne von mindestens 119 Milliarden Euro beschert. Die Hälfte dieser Gewinne wollte die Regierung als Belohnung kassieren, bleiben noch rund 60 Milliarden für die Betreiber. Es ist also genau wie bei den Banken oder bei der Mafia, die einen kriegen das Geld, die anderen kriegen das Risiko. Atomstrom gibt es überhaupt nur deswegen, weil er nicht versichert ist und weil Sie und ich unsere Beerdigungskosten selber tragen.“
AFP meldet:
„Nach der Reaktorkatastrophe in Japan haben Atomkraftgegner und Umweltschützer für Samstag in mehreren deutschen Städten zu Großdemonstrationen aufgerufen. In Berlin, Hamburg, Köln und München will ein Bündnis aus verschiedenen Organisationen den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie und die Abschaltung aller Atomkraftwerke fordern. Unterstützt werden die Demonstrationen, zu denen die Veranstalter Zigtausende erwarten, von der evangelischen und katholischen Kirche, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und Künstlern wie der Band „Wir sind Helden“.“
Apropos: „Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen.“ (J.St.Lec) „Wirf den Helden in deiner Seele nicht weg! Halte heilig deine höchste Hoffnung!“ (F.Nietzsche) „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ (B.Brecht)
Heldendenkmal (Düsseldorf). Photo: panoramio.com