vonHelmut Höge 11.05.2010

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Mit Londoner Lottogeldern finanzierte Kunst/Poller-Reihe. Photo: Peter Grosse

Mit Berliner Lottogeldern finanzierte Kunst/Poller-Reihe (auf dem Flughafen Tempelhof). Photo: Antonia Herrscher

Tamara Ernst, die nicht weit vom Heinrichplatz wohnt, hatte eines Tages sechs Richtige im Lotto, auf der Lotto-Quittung, die allein zählt, standen jedoch andere Zahlen als die auf ihrem Schein. Statt eines dicken Geldgewinns wurde daraus schließlich eine Verurteilung wegen Betrugs.

Tamara Ernst ging ebenso erbost wie entsetzt in Berufung – durch alle Instanzen. Sie bestätigten jedoch bloß das erste amtsgerichtliche Urteil. Tamara Ernst legte dagegen beim Verfassungsgericht „Beschwerde“ ein, das ein Rechtsanwalt ihr für 2000 Euro schrieb, sie kam auch pünktlich in Karlsruhe an, leider vergaß er in der Eile die Unterlagen – so dass der Verfassungsrichter Udo di Fabio die Annahme der  Beschwerde leichten Herzens verweigern konnte.

Inzwischen hatte sich die Moskauerin Tamara Ernst derart in die (juristische und technische) Materie eingearbeitet, dass sie ihre Schriftsätze selbst schrieb – auf einem von der taz geschenkten Computer, den man dafür aus dem „Kuba-Kontingent“ ausgelöst hatte, das aber nur nebenbei.

Sie wandte sich mit ihrer in Karlsruhe abgelehnten „Beschwerde“ an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg – und dieser nahm den Fall auch auf (jedenfalls bekam Tamara Ernst ein Aktenzeichen dafür), bestand dann jedoch darauf, seine Korrespondenz mit der Beschwerdeführerin auf Russisch zu führen. Und die Korrespondenz wurde immer umfangreicher, denn die Straßburger Richter brauchten alle möglichen Unterlagen. Zuletzt fehlte nur noch ein Urteil eines Moabiter Richters in einem Nebenprozeß gegen Tamara Ernst, in dem es um ihre angebliche „Beleidigung“ eines für die Lotto-Terminals in den Annahmestellen verantwortlich leitenden Lottomitarbeiters gegangen war. Dieser Prozeß war eingestellt worden, nicht zuletzt wegen eines Gutachtens von Wladimir Kaminer, das Tamara Ernst beigebracht hatte, in dem nachgewiesen wurde, dass es sich bei dem russischen Sprichwort, mit dem sie den Lottomitarbeiter während einer Gerichtsverhandlung gegen sie bedacht hatte, um „keine Beleidigung“ handelte. Dieses Urteil fehlt ihr derzeit noch immer, damit sich die Straßburger Richter über ihren „Fall“ hermachen können. Es liegt bei der Berliner Staatsanwaltschaft und nur ihr Anwalt könnte es abholen für sie, aber der ist verschwunden. Tamara Ernst will versuchen, es selbst zu besorgen.

Bis der Europäische Gerichtshof  für Menschenrechte zu einem Urteil kommt dauert es also noch. Bis dahin, genauer gesagt: bis Mitte 2012 muß Tamara Ernst monatlich 220 Euro Strafe zahlen – dafür, dass die Zahlen auf ihrem Lottoschein im August 2003 nicht mit denen auf der (allein gültigen) Lotto-Quittung identisch waren.

Der Berechnung ihrer monatlichen Strafrate hatte Richter Groß vom Berliner Landgericht ihre Rente in Netto und ihren Arbeitslohn in Brutto zugrundegelegt. Tamara Ernst arbeitet in einem Sozialprojekt als „Ausländerberaterin“ – ihre BeZ-Stelle (Hartz VI plus Beschäftigungszuschuß, insgesamt etwas über 1000 Euro im Monat) ist befristet und läuft am 12.10.2010 aus.  Wie sie danach die 220 Euro Strafe allmonatlich zahlen soll, weiß sie noch nicht. Als Ausländerberaterin hat sie es nebenbeibemerkt nicht selten mit Deutschen zu tun, für die sie Briefe schreibt, die sie zu den Behörden begleitet sowie ggf. zur Polizei und ins Krankenhaus.

In ihrer Freizeit geht Tamara Ernst am Kreuzberger Engelbecken spazieren, früher hat sie dort immer die Schwäne gefüttert, die dort auch brüteten, aber dann ließ eine Pseudo-Bürgerinitiative mit Lottogeldern eine aufwendige Fontänen-Anlage im See installieren – und seitdem gibt es dort keine Schwäne mehr, nur noch einige Wasserschildkröten. Die Schwäne würden sich beim Landeanflug auf den See an den unter die Wasseroberfläche  verlegten 18 Fontänenrohren aufspießen, deswegen meiden sie dieses obendrein noch komplett entschilfte Gewässer.

Mit Lottogeldern bemalte Poller

Derzeit macht Tamara Ernst Urlaub in Moskau – bei ihrem Sohn. Hier noch ihre komplette Leidensgeschichte – ausführlich und von Anfang an (in zwei Teilen):

1.

Der Kreuzberger Elektronikhelfer Günter Ernst spielte 36 Jahre lang jeden Samstag Lotto – ohne jemals eine größere Summe zu gewinnen. Aber dann hatte er Glück: Er heiratete am 17. November 1995 die Philosophiedozentin der Moskauer Ingenieur-Militärflugzeugakademie von Schukowski Tamara Melnichuk.

Seine Frau war auch Mathematikerin, irgendwann begann sie, sich ebenfalls für das Zahlenlottospiel zu interessieren. Sie schrieb sich zuerst ein Jahr lang alle Gewinnzahlen der Mittwochs- und Samstagsziehungen auf, dann errechnete sie sich daraus mit Hilfe einiger Formeln eine Reihe von Glückszahlen für die Mittwochsziehungen. Am 12. August 2003 gab sie, wie auch schon zuvor, ihren Lottoschein mit drei ausgefüllten Feldern (für 2 Euro 45) bei der Lottoannahmestelle von Mustafa Demirkiran in der Oranienstraße 30 ab. Der Lottocomputer dort funktionierte nicht richtig, er scannte ihren Schein erst beim vierten Versuch ein. Am nächsten Tag schaute Tamara Ernst sich die Ziehung zu Hause im Fernsehen an. Plötzlich schrie sie: „Ich habe gewonnen, ich habe gewonnen!“ Ihr Spielschein zeigte 6 Richtige aus 49. Die Spielquittung zeigte dann jedoch ganz andere Zahlen, obwohl die Losnummer mit der auf dem Lottoschein identisch war. Aufgeregt rief die Gewinnerin am nächsten Tag die Deutsche Klassenlotterie Berlin (DKLB) in der Brandenburgischen Straße an. Die Frau in der Telefonzentrale sagte ihr: „Bei zwei oder drei Zahlen kann das sein, aber nicht bei sechs.“ – „Ich habe aber sechs Richtige auf meinem Schein“, erwiderte Frau Ernst. Das tue nichts zur Sache, meinte die Lottofee, „entscheidend ist die Spielquittung“.

Tamara Ernst rief daraufhin ihre Rechtsschutzversicherung an. Der dortige Anwalt riet ihr: Gehen Sie zur Annahmestelle und zur DKLB – und klären Sie das. Der Besitzer der Lottoannahmestelle, den sie am 14. 8. aufsuchte, sagte ihr: „Ich kann leider nichts machen, die DKLB hat mir den Computer abgeholt, bereits am 12. 8. kurz nach Annahmeschluss.“ Wie Frau Ernst später vom technischen Leiter der DKLB, Herr Trabalski, erfuhr, bekam er erst zwei Wochen später ein neues Terminal – und das nicht auf seinen Namen, sondern auf den der Tochter seiner Aushilfskraft. Er hätte ein eigenes Programm in den Lotto-Computer installiert, deswegen sei ihm fristlos gekündigt und das Terminal zur Werkstatt geschickt worden, erklärte Herr Trabalski. Das plötzlich abgeholte Terminal in der Lottoannahmestelle hatte Frau Ernst so misstrauisch gemacht, dass sie am 14. 8. die Polizei rief und mit den Beamten zur Annahmestelle ging. Diese unternahmen dort jedoch nichts, sondern rieten ihr nur, zur DKLB zu gehen: „Wir drücken Ihnen die Daumen!“ Tamara Ernst telefonierte daraufhin erst einmal mit dem Berliner Boulevardblatt B.Z. und bat die Redaktion um Rat. Eine Reporterin bekundete Interesse an ihrem Lotto-Problem und schickte ihr am 15. 8. einen Fotografen, Andreas Klug, der den Lottoschein und die Quittung fotografierte. Anschließend wollte er auch noch in der Annahmestelle ein Foto machen, aber dort arbeitete gerade die Aushilfskraft, die ihm das nach telefonischer Rücksprache mit dem Besitzer Demirkiran verwehrte. Die B.Z. wollte daraufhin Frau Ernst auch noch bei der DKLB fotografieren, dazu schickte sie einen anderen Fotografen, Dirk Lessing, mit ihr los. Die beiden gerieten dort zunächst an Herrn Trabalski vom „Technischen Zentrum“, der sich Kopien vom Lottoschein und von der Quittung machte. Dann kam der EDV-Abteilungsleiter Herr Runge dazu. „Wie sieht es aus?“, wurde er gefragt. „Sauberer kann es nicht sein“, meinte er, behielt jedoch den Original-Lottoschein ein und gab Frau Ernst dafür eine Quittung. Der B.Z.-Fotograf wollte wissen: „Wie oft haben Sie solche technischen Fehler?“ Woraufhin Herr Trabalski ihm antwortete: „Wir kennen solche Leute, mit denen werden wir fertig!“ Zu Frau Ernst sagte er nur: „Wir melden uns!“

Zwölf Leute hatten bei der Ziehung sechs Richtige gehabt – und je 92.202 Euro und 50 Cent bekommen. Tamara Ernst wäre die 13. Gewinnerin gewesen. Die DKLB nannte ihr dann die Summe: 85.110 Euro – also den 13. Teil des Gesamtgewinns.

Tamara Ernst wandte sich an die Verbraucherzentrale, wo ein Jurist ihr riet: „Klagen Sie!“ Ihre Rechtsschutzversicherung meinte jedoch: Im Zusammenhang mit Glücksspielen bieten wir keinen Rechtsschutz. Frau Ernst nahm sich daraufhin einen Anwalt, der nach einer Anzahlung von 467 Euro begann, ihre Klage vorzubereiten. So weit kam es aber nicht. Zunächst rief Tamara Ernst erst einmal wieder bei der DKLB an – bei der juristischen Abteilung diesmal, wo ein Herr Mayer ihr mitteilte, dass der Fall jetzt bei dem Anwalt Heidemann liege, der die DKLB vertrete. Dieser sagte Frau Ernst dann, er habe den Lottoschein der Staatsanwaltschaft übergeben: „Wenn die den geprüft und nichts zu beanstanden haben, dann bekommen Sie Ihr Geld!“ In den darauf folgenden Wochen rief Frau Ernst noch mehrmals beim Anwalt Heidemann und auch bei der Staatsanwaltschaft an, jedoch ohne Näheres zu erfahren. Man müsse unbedingt das Terminal der Annahmestelle prüfen, riet sie – ohne Erfolg. Auch ihr Vorschlag, einen unabhängigen Sachverständigen heranzuziehen, wurde abgelehnt. Stattdessen schickte die DKLB Tamara Ernst eine dicke Broschüre mit den Lotto-Spielregeln.

Von Lottogeldern angeschaffte Spielfläche mit figurativen Keramikpollern

Am 22. Januar 2004 klingelte es morgens an der Tür. Günter Ernst öffnete. Vor ihm standen zwei Männer, der eine trat vor und schubste Herrn Ernst gegen die Wand. „Sie waren in Zivil und sagten, sie wären Polizisten“, berichtet Tamara Ernst. „Ich glaubte ihnen aber nicht. Als ich den Ausweis sehen wollte, zeigte der eine auf seine Pistole unter der Jacke. Da habe ich noch mehr Angst gekriegt. Mein Mann war leichenblass. Er hat einen geklemmten Rückennerv und Osteoporose, also manchmal Schmerzen im Rücken und Gefühllosigkeit in den Füßen. Nach diesem Polizeiüberfall bekam er permanente Rückenschmerzen und seine Sehkraft ließ stetig nach. Nach einem Jahr, am 28. Februar 2005, starb er.“ Die beiden Polizisten nahmen auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin eine Hausdurchsuchung wegen Verdachts auf Betrug vor. Tamara Ernst: „Sie sollten den Originalspielschein suchen. ,Der ist aber doch bei der Staatsanwaltschaft‘, sagte ich. ,Nein, wir suchen den, der mit den Zahlen auf der Spielquittung identisch ist‘, erwiderten sie. ,So etwas existiert aber nicht,‘ antwortete ich, woraufhin Herr Oys, einer der beiden Polizisten, meinte: ,Das müssen Sie beweisen!‘ “ Die beiden Kripobeamten steckten dann die Original-Spielquittung von Tamara Ernst ein sowie auch zum Vergleich einen Spielschein nebst Quittung von ihrem Mann. Frau Ernst musste dann noch in einem Protokoll genau aufschreiben, wie sie den Lottoschein ausgefüllt und was sie danach alles unternommen hatte – 12 Seiten brauchte sie dafür. Weil die beiden Polizisten sich die ganze Zeit wie Ganoven benommen hatten, rief Frau Ernst nach ihrem Abzug bei der Polizei an und fragte, ob es bei ihnen einen Kripobeamten namens Oys gäbe. Dies wurde ihr bestätigt.

Rechtsanwalt Heidemann hatte am 4. September 2003 im Namen der DKLB Strafanzeige wegen versuchten Betrugs gegen das Ehepaar Ernst und etwaige Dritte gestellt. In seinem Schreiben an die Staatsanwaltschaft behauptete er, dass die Zahlen beim Einscannen online in die Zentrale gegeben werden und dass sie dort alles kontrolliert hätten. Ein Fehler beim Einscannen sei ausgeschlossen, zwar könne mal bei der Wiedergabe einer 3 oder 4 ein Fehler auftauchen, aber nicht bei sechs Zahlen zugleich. Den Betrugsvorwurf begründete Heidemann damit, dass das Ehepaar wahrscheinlich mit einem „kopierten oder sonstwie gedoppelten Spielschein“ operiert hätte. Es müsse also eine Überlistung des Terminals mittels Kopien vorliegen, sodass auch noch Urkundenfälschung hinzukäme.

Am 2. April 2004 schrieb die Staatsanwältin Baer-Mcllvaney dem Ehepaar Ernst, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. Am 22. April teilte Frau Baer-Mcllvaney ihnen das Aktenzeichen mit – im Ermittlungsverfahren gegen sie wegen Betrugs und Urkundenfälschung. „Ich bin daraufhin zum russischen Konsulat gegangen und habe denen gesagt: ,Man will mir übel mitspielen!‘ Der Attaché Herr Nowikow sagte mir, ich hätte in Deutschland ein Recht auf einen Dolmetscher und einen Anwalt, auch und gerade wenn ich kein Geld dafür habe. Das sei zwischen Russland und Deutschland vertraglich geregelt. Dies teilte ich der Staatsanwaltschaft mit, die mir daraufhin schrieb: Auf Staatskosten würde ich keinen Rechtsanwalt bekommen. Ich beschwerte mich darüber schriftlich bei der Generalstaatsanwaltschaft, die wies meine Beschwerde jedoch zurück.“

Am 5. Oktober 2004 bekamen Herr und Frau Ernst einen Strafbefehl zugeschickt – mit Datum vom 26. August: Sie sollten 150 Tagessätze zu je 30 Euro zahlen, außerdem hätten sie die Kosten des Verfahrens zu tragen, dagegen könnten sie jedoch Einspruch erheben. „Wir hatten kein Geld für einen Anwalt, mein Mann brauchte teure Medikamente, deswegen schrieb ich den Einspruch selber – und argumentierte, dass die DKLB ihren Fehler nur vertuschen wolle, außerdem sollten sie meinen Mann dabei aus dem Spiel lassen, er habe damit nichts zu tun. Sowohl Herr Runge als auch Herr Trabalski hätten mir gesagt, dass der Computer aus der Annahmestelle in Reparatur sei. Was wurde dort gemacht? Das müsse sich doch feststellen lassen.“

Am 3. November 2004 wurde das Ehepaar Ernst zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten geladen. Der Richter hatte zwar einen Dolmetscher bestellt, wegen des Pflichtverteidigers wartete er jedoch noch auf einen diesbezüglichen Beschluss des Landgerichts. Frau Ernst erinnert sich: „Der Staatsanwalt bedrängte mich, ich solle mich allein der Verhandlung stellen: ,Wir verurteilen und dann können Sie in Revision gehen‘, meinte er, aber ich weigerte mich, ohne Anwalt in das Verfahren zu gehen. Der Richter verweigerte mir einen Übersetzer für die Akteneinsicht, auch mein deutscher Ehemann sollte mir dabei nicht helfen dürfen, ich könnte mir doch mit einem Wörterbuch selbst helfen, meinte er. Als ich sagte, in Russland gäbe man aber deutschen Bürgern immer einen Pflichtverteidiger und einen Dolmetscher, da haben sie alle laut gelacht – der Staatsanwalt Herr Dimter, der Richter Rische und die Dolmetscherin. Als Zeuge hatten sie übrigens nicht den Lottoannahmestellenbesitzer Herr Demirkiran geladen, sondern seine Aushilfskraft, die von nichts wusste und bloß den B.Z.-Fotografen abgewimmelt hatte. Auch das bedrückte mich. Als der Zeuge zusammen mit Herrn Runge von der DKLB und dem Rechtsanwalt Heidemann im Gerichtssaal erschien, sagte ich zu Herrn Runge, der mich so enttäuscht hatte, weil er erst sehr freundlich gewesen war, ein russisches Sprichwort – im Sinne von ,Immer ehrlich bleiben‘. Der Richter ließ daraufhin sofort protokollieren, dass ich den Zeugen Runge als Lügner beschimpft hätte. Rechtsanwalt Heidemann stellte daraufhin Strafanzeige wegen Beleidigung.“ Am 1. April 2005 teilte das Landgericht Tamara Ernst mit, dass sie keinen Pflichtverteidiger bekomme, weil „die Sach- und Rechtslage objektiv nicht kompliziert“ sei. Dem widersprach jedoch schon allein ein „Untersuchungsbericht“ des Diplomingenieurs für Drucktechnik, Herrn Ewert, den dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft und mit Hilfe eines Stereomikroskops sowie des Dokumenten-Prüfsystems Kappa erstellt hatte. Darin heißt es, „dass es sich bei den Lottoscheinen und den Spielquittungen um authentische Exemplare handelt, die nicht manipuliert worden sind“.

Am 25. Mai schrieb ihr das Amtsgericht, dass am 23. August 2005 erst einmal die Klage der DKLB gegen sie wegen Beleidigung verhandelt werde. Frau Ernst nahm sich daraufhin einen Anwalt in ihrer Nachbarschaft: Lüko Becker, der als Erstes Akteneinsicht verlangte. Seine eigenen Recherchen zum Vorwurf des Betrugs und der Urkundenfälschung gegenüber seiner Mandantin ergaben dann, dass es seit 1996, also seit Einführung des Online-Verfahrens für das Zahlenlotto 6 aus 49, immer wieder zu Fehlern in den Annahmestellen beim Einscannen der Lottozahlen kommt. Die Lottogesellschaften tauschen sich darüber auch aus, verschweigen diese „Pannen“ jedoch nach außen – und verklagen stattdessen die Betroffenen lieber wegen Betrugs und Urkundenfälschung. Und es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle.

Am 4. 2. 1996 berichtete die Welt am Sonntag über mehrere Fälle in Hessen. Am 5. 2. 1996 berichtete die Bild-Zeitung über ein Ehepaar aus Kassel, das sechs Richtige hatte, die aber vom Lotto-Online-Computer falsch abgelesen worden waren. Am 16. 2. 1996 schrieb die Stuttgarter Zeitung über einen Spieler aus Baunatal mit sechs Richtigen. Hierzu ergänzten am 2. 5. 1996 das Hamburger Abendblatt und die Stuttgarter Zeitung, dass das Wiesbadener Landgericht seine Klage abgewiesen habe. Am 9. 10. 1997 machte die Neue Revue das „Sicherheits-Risiko“ bei dem in den Lottoterminals verwendeten „Thermopapier“ aus, mit dem die Scheine „viel zu leicht ungültig werden“. Zwischen dem 23. 3. und dem 1. 4. 2004 berichteten der Kölner Express, die Kölnische Rundschau und der Stern, Erstere sogar mehrmals hintereinander, über das „Lotto-Pech“ des Ehepaars Broich aus Brühl, das sechs Richtige getippt hatte, auf deren Quittung jedoch ebenfalls andere Zahlen standen. Ihr Rechtsanwalt Markus Bollig meinte: „Die Rechtslage ist ungeklärt.“ Bei West-Lotto häuften sich dann derartige Fälle. Ende 2004 wechselte diese Lottogesellschaft die Computer-Terminals in den Annahmestellen aus: Es stehen dort jetzt welche von Wincor Nixdorf. Ein Sprecher von West-Lotto meinte in einem Interview, die „Fehllesung“ beim Ehepaar aus Brühl sei darauf zurückzuführen, dass sie über zwei Jahre lang immer den selben – abgenutzten, womöglich zerknitterten und beschmutzten – Schein benutzt hätten. Dies betrifft aber Tamara Ernst nicht, denn sie füllte jede Woche einen neuen Schein mit neuen Nummern aus. Am 10. April berichtete der Stern und am 11. April 2005 Focus über einen Spieler aus Güglingen bei Heilbronn, der sechs Richtige hatte, seine Quittung wies jedoch „andere Ziffern“ auf. Auch dieser Spieler verklagte daraufhin die Lottozentrale Stuttgart. „Shortnews stern“ richtete dazu sogleich eine Internet-Diskussionsplattform ein. Zuletzt fand Rechtsanwalt Becker auch noch ein kurzes Fernsehfeature des WDR, das sich im März 2004 ebenfalls mit den Einlesefehlern der Terminals in Lottoannahmestellen beschäftigte. Mit diesem Material versehen, sieht der Anwalt den kommenden Prozessen von Tamara Ernst halbwegs optimistisch entgegen. Sie klagt jedoch: „Zwei Jahre meines Lebens hat mich diese Geschichte gekostet.“ Becker fügt hinzu: „Mit Berufungsverfahren und allem können gut und gerne noch mal zwei Jahre dazu kommen. Damit ist Frau Ernst der Auszahlung ihres Lottogewinns aber noch keinen Schritt näher gekommen.“

Mit Hamburger und Schleswig-Holsteiner Lottogeldern finanziertes Seedrama auf dem Theaterschiff „MS Ahoi“

2.

„Entweder hat man Macht oder Recht. Beides kann man nicht haben.“ (Martin van Crefeld, Jerusalemer Konfliktforscher)

Am 17. März endete die Berufungsverhandlung gegen Tamara Ernst, der die Staatsanwaltschaft vorgeworfen hatte, in betrügerischer Absicht ihren Lottoschein gefälscht zu haben, um schnell reich zu werden. Die ehemalige Philosophiedozentin der Moskauer Militärflugzeugakademie kam mit einer Geldstrafe davon, wird aber in Revision gehen.

Sie hatte sich ab 2002 ein Jahr lang alle Gewinnzahlen aufgeschrieben, und dann daraus mit Hilfe einiger Formeln 24 Glückszahlen ermittelt. 2003 gab sie ihren Lottoschein bei einer Annahmestelle in Kreuzberg ab, aber der Terminal funktionierte nicht richtig: Er scannte ihren Schein erst beim vierten Versuch ein. Und wie fast jeder Spieler verglich sie anschließend nicht die Zahlen auf der Quittung mit ihren auf dem Schein. Das tat sie erst, als sie im Fernsehen sah, dass sie sechs Richtige hatte: Auf der allein gültigen Spielquittung standen ganz andere Zahlen, obwohl die Losnummer mit der auf dem Lottoschein identisch war.

Damit nahm das Unglück seinen Lauf! Sie ging zur Annahmestelle. Dort sagte man ihr, dass die Lotteriegesellschaft den Terminal abgeholt habe. Sie rief bei der Lotteriegesellschaft an. Dort meinte man: „Bei zwei oder drei Zahlen kann das passieren, aber nicht bei sechs.“ Sie rief bei der BZ an: Die Redakteurin schickte einen Fotografen und der fuhr mit ihr zur Lottogesellschaft. Dort fragte er den technischen Leiter Trabalski: „Wie oft haben Sie derartige technische Fehler?“ Der antwortete ihm: „Wir kennen solche Leute, mit denen werden wir fertig!“

Trabalski erklärte Frau Ernst: Wir haben den Terminal abgeholt, weil der Annahmestellenbesitzer ein eigenes Programm in den Computer installiert hat, deswegen sei ihm fristlos gekündigt und das Terminal zur Werkstatt geschickt worden. Später gab es eine andere Begründung. Noch bevor Tamara Ernst eine Zivilklage einreichen konnte, verklagte ein Rechtsanwalt der Lottogesellschaft sie schon wegen versuchten Betrugs.

Nun gibt es überall in Deutschland solche Fälle, wo Lottoscheine falsch eingescannt wurden – und manchmal klagen die dadurch um ihre Gewinne betrogenen Spieler auch (siehe die o.e. Fälle). Aber all das berücksichtigten die Moabiter Richter in der ersten und zweiten Instanz nicht: Sie folgten der fadenscheinigen Begründung der Lottogesellschaft, den Hypothesen eines verstockten Kriminalhauptkommissars und der Springerstiefelpresse. Diese waren davon überzeugt, dass es sich bei der russischen Witwe um eine abgefeimte Verbrecherin handelt, die mittels Copyshop, Kleber und Stift die Lottogesellschaft um einen „hohen Gewinn“, so der Richter des Landgerichts, betrügen wollte. Er konnte deswegen, gestützt auf die Empathiefähigkeit der jungen gelangweilten Staatsanwältin in Bezug auf ausländische Kriminelle, ein auf dem gesunden deutschen Menschenverstand basierendes reines Psychourteil fällen.

Zur Angeklagten gewandt, endete es mit dem höhnischen Satz: „Sie denken wahrscheinlich: Ich bleibe dabei und ziehe das durch, irgendeine Kammer wird mir vielleicht glauben … Aber wir tun es nicht!“ Zwar zitierte der Psycho-Richter die BZ-Journalistin, der „die Sache“ schon 2003 „nicht ganz koscher“ gewesen war (so war dann später auch ihr Bericht), aber weder ging er auf die vielen dokumentierten Scannfehler in anderen Bundesländern ein, die im Prozess vorgelesen wurden, noch auf die „persönliche Erklärung“ des BKA-Experten, die dieser im Anschluss an den Vortrag seines Gutachtens geäußert hatte: Die Lottogesellschaft hatte ihm bei der Untersuchung des Terminals nicht gestattet, das Gerät zu öffnen, weswegen er nur dessen Funktionen kurz getestet hatte. Dem mageren Prüfungsergebnis hatte er jedoch vor Gericht hinzugefügt, dass es durchaus vorstellbar sei, dass ein oder mehrere „Staubkörner“ an der richtigen Stelle im Terminal diese Reihe falscher Zahlen produzieren könnte.

Aber von der Lottogesellschaft lebt die halbe Kulturhauptstadt, da muss man schon mal zur Not ein Russenopfer bringen. Und der Richter kann sich sogar noch großzügig wähnen, indem er die alte Frau nicht zu den von der Staatsanwältin geforderten 100 Tagessätzen à 40 Euro verdonnerte, sondern nur zu 90 à 44 Euro (damit ist sie nicht vorbestraft).

Wir erwarten von deutschen Gerichten schon lange keine Wahrheitsfindung mehr – aber das war ein absolut schändliches Moabiter Doppelurteil. Bleibt die winzige Hoffnung, dass das Kammergericht es „kassiert“.

Mit Berliner Lottogeldern restaurierte Brunnenanlage in Pollerform. Alle Photos: Peter Grosse

P.S.:

Das tat das Kammergericht dann wie bereits erwähnt mitnichten, und auch das Bundesverfassungsgericht wenig später nicht. Alle  Hoffnungen von Tamara Ernst und Millionen Lottospielern liegen nun also beim Europäischen Gerichtshof für das Menschenrecht (auf Glück).

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