vonBlogwart 26.11.2009

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Nachdem die gestrige Mitarbeiterversammlung nach zweistündiger Debatte die Entscheidung über den weiteren Umgang mit dem Kunstwerk in  die Auschüsse verwiesen hat – wobei ein Meinungsbild der Anwesenden eine  Mehrheit für den Erhalt des Reliefs erbrachte –  hat sich die erste Aufregung nach dem “Penis-Schock” wieder etwas gelegt. Auch wenn die taz-Taliban, die das Ding am liebsten sofort gesprengt hätten, damit zum Rückzug gezwungen sind, gehen die ideologischen Grabenkämpfe um die Deutungshoheit  weiter, wobei sich eine Frontlinie abzeichnet  zwischen einer hermetischen  “phallokratischen” Interpretation, die allein auf die Peniscobra fixiert ist, sowie einer  erweiterten  “buddhadaistischen” , die eher der Gesamtkomposition Rechnung trägt.

Nachdem wir hier vor einigen Tagen eine erste  “Kunstbetrachtung” veröffentlichten, die bei LeserInnen auf viel Interesse stieß, erreichte uns heute (von einem anonymen Einsender) eine weitere Interpretation, die auf einen wichtigen Aspekt des Werks aufmerksam macht: je länger man den Monsterpimmel betrachtet, desto kleiner wird: “Das zentrale Element des Reliefs ist eine Scheinriese.”

Der Scheinriese

Das zentrale Element des Reliefs ist eine Scheinriese. Je näher man kommt, desto kleiner wird seine Bedeutung. Das gilt auch und gerade auf einer Zeitachse. Die ist der wirksamste Agent des gesamten Lenkschen Oevres. Der erste Affekt ist Brüskierung, ausgelöst durch eine brachial häßlich wuchernde Geschlechtlichkeit. Einige Betrachter fixieren an dieser Stelle ihre Wahrnehmung und lehnen eine weitere Auseinandersetzung  ab oder reduzieren sie auf diesen Aspekt. Verborgen bleibt dabei die Rezeption der den Installationen inne wohnenden Ästhetik der zeitgenössischen Aktionskunst. Sie glänzt mit einem frappierend gering subtilen Interventionsanspruch. In einer Art reziproker Konvergenz hat sich dabei ganz klandestin aber auch ein Scheinzwerg eingeschlichen. Je länger die Zeitachse die scheinbar peripheren Elemente zu tragenden Säulen des Diskurses des auf Interpretation sinnenden Publikums werden lässt, desto penetranter gehen die pädagogischen Inhalte in diese über: die Imperia ist dadurch ganz selbstverständlich zu einem Mahnmal der nicht nur kirchlichen Bigotterie geworden. Die Chance von Friede sei mir Dir besteht hier analog in der nachhaltig bohrenden Beschuldigung derjenigen, die sich im Kontakt mit oder ihrem Einsatz für die “Bild” instrumentalisieren lassen. Das ist die zeitgenössische Intervention gegen die erklecklichen Bemühungen der größten europäischen Boulevardzeitung, ihr durch bildblog, Penisprozess und Rudi-Dutschke-Str. empfindlich beschädigtes Image zu korrigieren. Das Ziel, die auf Werbeplakaten für Bild posierenden Prominenten mit ihrer Verantwortung für die auf dem Kunstwerk aus der Vergessenheit geholten Opfer zu assozziieren und wie Friede selbst zu besudeln, wird den Preis für deren Einkauf ins Unkalkulierbare steigern. Von dem Kunstwerk die Verbesserung der Welt von heute nachmittag oder morgen früh tatsächlich zu erreichen, hieße, es wahrscheinlich zu überfordern. Aber dafür bleiben ja die Spalten der Zeitung. Die kann man lesen, das Kunstwerk dagegen braucht seine Zeit, um zu wirken.”

Unterdessen hat unser bloggender Scheinreise von schräg gegenüber das Angebot, als Belohnung für die Fake-taz ein bißchen auf taz.de zu bloggen angenommen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile über den digitalen Flurfunk des Hauses, Chefredakteure, Ressortleiter und Mitarbeiterinnen vieler Abteilungen stümten begeistert die kleine Blogzentrale im 4. Stock. Die Werbeabteilung hatte sogar Sekt mitgebracht. Sie beglückwünschten den Blogwart und bestürmten ihn, sofort Login und Password an den Neu-Blogger zu senden, damit es gleich morgen losgehen könne. Dies wurde allerdings durch ein  Machtwort des CDDO  – Chief Digital Development Officers – gestoppt: “Solange jemand noch woanders bloggt, läuft hier nichts. Selbst wenn es Che Guevara oder der Papst persönlich wären: exklusiv oder gar nicht.” Mit einem strengen Blick auf den Blogwart setzte er hinzu: “Und wir bestimmen die Spielregeln, keine Kompromisse!”

Da im Zeitalter von Pageimpresssions und Unique Visitors das Wort eines CDDO mindestens so schwer wiegt wie das von 15 Holzredakteuren gab es kaum Widerspruch, zumal dieser mit der aktuellen Tabelle der 1. Liga News-Websites wedelte: “Im Oktober 8,8 % Verlust bei bild.de und 9,8% Zuwachs für taz.de. Wir sind der dynamischste Club der Liga.  Ich würde mir noch gut überlegen, ob ich den Kapitän eines sinkenden Schiffs  hier an Bord lasse.”

Quelle: meedia.de

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