Nachdem alle in hektischer Aufregung ihre Jahrzehntcharts zusammenstellten, zog sich das Popblog in ein einsames Programmkino zurück und tüftelte einige Monate an seiner definitiven “Die besten 50 Filme der letzten zehn Jahre” – Liste. Ausgiebiges Debattieren und Abstimmen später ist die „besten Filme des Jahrzehnt“- Liste nun vollständig.
(Die bisherigen Folgen Platz 50 – 35, Platz 34 – 21 und Platz 20-11 verbergen sich hinter den jeweiligen Links)
Der Countdown kann beginnen:
10. Oldboy (Regie: Chan-Wook Park, Südkorea, 2003)
„Oldboy“ war ein Ungetüm. Auf den ersten Blick war der koreanische Cannes-Sieger nur ein Genrefilm, ein Vengeancemovie, ein Rachestreifen. Doch als uns Chan-Wook Park nach 40 Minuten mit der Auflösung des „wer?“ zum ersten Mal den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, dämmerte uns, dass wir hier keinem Film, sondern einem Ereignis beiwohnen – in dem (selten genug!) nach einem „warum?“ gefragt wird. Und der koreanische Meisterregisseur, vielleicht der talentierteste Bilder-Arrangeur seiner Generation, hat auch in den kommenden eineinhalb Stunden seiner Geschichte von shakespear’schen Ausmaßen nicht nachgelassen, uns zu überraschen, zu überwältigen und – wie die Hauptfigur selbst – sprachlos zurückzulassen, weil uns das offene Ende, nach allen möglichen Brutalitäten zuvor, aus dem Kino hinauslächelte und wir nicht wussten, ob wir gerade tatsächlich das letzte verbliebene Tabu gut heißen sollten.
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Dass Park dazu zweimal eine Neudefinition von Poetik in Kampfszenen lieferte, ist dabei nur eine Randnotiz im Vergleich zur Größe der Geschichte. (CI)
9. 28 Days Later… (Regie: Danny Boyle, UK 2002)
Das letzte Jahrzehnt läutete in mehrfacher Hinsicht das furiose Comeback des britischen Regisseurs Danny Boyle ein, der mit „The Beach“ nach Hollywood ausgezogen war, nur um dann mit der gescheiterten Literaturverfilmung bei seinen Fans und Kritikern baden zu gehen. Vielleicht waren seine nachfolgenden Filme deshalb alle meilenweit von der Traumfabrik entfernt angesiedelt. Das Bollywood-Märchen „Slumdog Millionaire“ spielt in Indien, der Sci-Fi-Horrorfilm „Sunshine“ sogar im Weltall und der Endzeit-Horrorthriller „28 Days Later“ erneut in England. Und ein schöneres filmisches Denkmal hätte Boyle seiner alten Heimat auch gar nicht setzen können, als in der grandiosen Anfangssequenz London komplett in Schutt und Asche zu legen! Ähnlich ästhetisch brillant auch der Rest der Apokalypse-Odyssee (übrigens einer der ersten digital gefilmten Kinofilme), mit dem der Filmemacher nicht nur das Zombiegenre entstaubte, sondern nebenbei auch noch ein regelrechtes Revival der Untoten einläutete. Wie gesagt, das letzte Jahrzehnt läutete gleich in mehrfacher Hinsicht das furiose Comeback von Danny Boyle ein. (KP)
8. Lost In Translation (Regie: Sofia Coppola, USA 2003)
Die letzte Dekade war für Sofia Coppola von Aufstieg („The Virgin Suicides“) und Fall („Marie Antoinette“) geprägt. Ein Film, auf den sich aber noch alle einigen konnten, war die von ihr geschriebene, zweite Regiearbeit „Lost in Translation“. Der oscarprämierte Überraschungshit aus dem Jahr 2003 erzählt die außergewöhnliche Liebesgeschichte zwischen Bill Murray (in seiner Lieblingsrolle) und Scarlett Johansson (in pinken Unterhosen), die – untermalt von langen Kamerafahrten und dem Soundtrack von My Bloody Valentine – durchs nächtliche Tokyo und einsame Hotellobbies streifen.
Außergewöhnlich deshalb, weil Coppola eben nicht in Woody Allen-Manier (alter Mann trifft auf junges Mädchen und erlebt durch dieses seinen zweiten Frühling) die vollkommen unprätentiöse Love Story zwischen zwei Fremden erzählt, sondern endlich ein Filmpaar geschaffen hat, bei dem man sich nicht unwohl fühlen muss, sobald diese sich auf der Leinwand annähern. Wobei das Tolle an „Lost In Translation“ ist, dass sie das streng genommen noch nicht einmal tun. Selbst der Kuss am Ende stand nicht im Drehbuch! (KP)
7. The Diving Bell & Butterfly (Regie: Julian Schnabel, Frankreich 2007, dt. Titel: Schmetterling & Taucherglocke, OT: Le scaphandre et le papillon)
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Der Maler Julian Schnabel ist auch Filmregisseur – so herum muss man es wohl erzählen, weil erst dann klar wird, was der Film „Schmetterling und Taucherglocke“ eigentlich erzählt. Nach einem Schlaganfall leidet der Chefredakteur der französischen Zeitschrift Elle, Jean-Dominique Bauby, am sogenannten Locked-in-Syndrom und kann nur noch ein Auge bewegen. Der Rest des Körper ist starre, bleierne Unbeweglichkeit. Aus Bauby’s kleinem Guckloch heraus erzählt Schnabel von der Herrlichkeit des Lebens, den Farben, der Natur – und vor allem von den Frauen, die in diesem Film so leidenschaftlich geliebt werden wie bei Francois Ozon. Das traurigste und gleichzeitig mutigste an diesem Film ist die Tatsache, dass alles ganz real ist: der echte Bauby starb 1997 in Garches. (RH)
6. No Country For Old Men (Regie: Ethan & Joel Coen, USA 2007)
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2007 war das Jahr, in dem das amerikanische Autorenkino eine Renaissance erlebte. Mit „There Will Be Blood“ und „No Country For Old Men“ räumten gleich zwei sperrige, abseits vom Hollywood-Mainstream gedrehte Filmproduktionen bei den angestaubten Academy Awards ab. Im Gegensatz zum Ölgräberdrama von Paul Thomas Anderson war „No Country For Old Men“ ein blutrünstiger Spätwestern der Coen-Brüder. Blut gab es in der düsteren Literaturverfilmung nach Cormac McCarthy nämlich reichlich.
Noch präsenter als die Unausweichlichkeit des Schicksals war vielleicht nur noch die Helmfrisur von Javier Bardem, der sich als das ultimative personifizierte Böse (Bardem spielt einen mit einem Bolzenschussgerät ausgestatteten psychopatischer Killer) in die Filmgeschichte eingeschrieben hat. Ein Film wie ein Hieb in die Magengrube. Radikaleres hat man in der letzten Dekade nicht auf der großen Leinwand gesehen. (KP)
5. Das weisse Band – Eine deutsche Kindergeschichte (Regie: Michael Haneke, Deutschland 2009)
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ein Satz, der auf „Das Weisse Band“ nicht zutrifft. Ein bisschen Frieden sucht man in dem protestantischen Dorf in Norddeutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges vergeblich. Eine schauerliche Mordserie durchzieht das nur scheinbar friedliche Dorfleben, in dem die Kinder ihre Eltern noch mit „Herr Vater“ ansprechen und jedes kleinste Vergehen sofort sanktioniert wird. Gegen
Hanekes (wunderbar fotografierte) Schwarz/Weiß-Welt würde selbst noch der Katholizismus wie ein farbenfroher Kindergeburtstag wirken. Denn ähnlich wie Lars von Trier zuvor in „Dogville“, benutzt auch Haneke die Dorfgemeinschaft als Mikrokosmos für seine (durchaus auch universal lesbare) beklemmende Gesellschaftsstudie, an der sich retrospektiv die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges ablesen lassen. Und ähnlich wie Lars von Trier sieht auch Haneke im Menschen nicht das Schlimmste, sondern das allerschlimmste. Ein faszinierender Film über den Kreislauf von Gewalt und Ursache. Auch ohne Oscarauszeichnung, Hanekes großer Wurf. (KP)
4. The Wrestler (Regie: Darren Aronofsky, USA 2008)
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Was für ein großes Glück, dass nicht wie geplant Nicolas Cage für die Rolle des Wrestler-Losers engagiert wurde. Sein zur Leidensmiene verzerrtes Gesicht hätte diese Geschichte zum vor Kitsch triefendem Melodram gemacht. Bei Mickey Rourke ist es anders. Dieser Mann zeigt als abgehalfterter Star gerade soviel Restwürde, dass klar wird, wie viel Ruhm ihm selbst eigentlich einmal zuteil geworden war. Und sieht man ihn als Randy „The Ram“ Robinson im Ring stehen, müde und gezeichnet vom schnellen, exzessiven Leben, das hinter ihm liegt, kommt man trotz allem Bemühen, Schauspieler nicht mit ihren Rollen zu verwechseln, nicht dagegen an, Parallelen zu ziehen. Vielleicht ist es sogar das, was diesen Film so herzergreifend macht. (SW)
3. 24 Hour Party People (Regie: Michael Winterbottom, UK 2002)
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Auf den ersten Blick mag es der Musiklastigkeit eines Popblogs geschuldet sein, dass sich ein Film über die Musikszene Manchesters so weit oben auf Rang 3 platzieren kann. Doch dem wollen und müssen wir entschieden entgegentreten: „24 Hour Party People“ steht auf diesem Platz, weil es kaum einen Film gab, der so scharf geschriebene Dialoge hatte. Weil er es verstand, Figuren wie Tony Wilson (Factory Plattenlabelchef) oder Ian Curtis (Joy Division – Sänger) ihrem Mythos entsprechend zu überhöhen und gleichzeitig die Mythenbildung der Dekonstruktion freigab. Weil „24 Hour Party People“ das Glück hatte, mit der Entwicklung von Factory Records eine Geschichte erzählen zu können, die besser war, als man sie sich je hätte ausdenken können. Weil Regisseur Michael Winterbottom den Punkspirit nicht abbilden wollte, sondern einfangen konnte. (CI)
2. Gegen Die Wand (Regie: Fatih Akin, Deutschland 2004)
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Mit dem Auto gegen die Wand, mit der Rasierklinge ins Handgelenk, mit der flachen Hand ins Gesicht, mit dem Messer in die Brust. Mit diesem Film hat Fatih Akin Emotionen ins deutsche Kino gebracht, die so vorher nicht existiert hatten. Alles an diesem Film ist extrem: die Liebe zwischen Sibel (Sibel Kekilli) und Cahit (Birol Ünel), das Leben in Hamburg-Altona, die hybride Existenz zwischen nichtrichtigtürkisch und nichtrichtigdeutsch, der Gegensatz zwischen Elternliebe und Freiheitsdrang.
Auf Betroffenheitsgeschichten hat Fatih Akin allerdings keinen Bock – er haut uns das komplizierte Leben der zweiten Generation von Deutschtürken lieber in Form einer kompromisslosen, körperlich spürbaren und knallharten Liebesgeschichte um die Ohren. Es ist ein positiver Schmerz. (SW)
1. Mulholland Drive (Regie: David Lynch, USA 2001)
„Mulholland Drive“ war der Schwesterfilm zu dem von Lynch Ende der 90er gedrehten „Lost Highway“. Doch im Gegensatz zu diesem brillanten, ebenso verwirrenden, aber weitgehend ignoriertem Vexierspiel wurde „Mulholland Drive“ zu Lynchs größtem Triumph seit „Blue Velvet“, seine dritte Oscar-Nominierung inklusive (gewonnen hat er, blame it on the establishment!, natürlich nie!).
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Das größte Wunder dabei: eigentlich hätte „Mulholland Drive“ eine Fernsehserie werden sollen – und nur weil der US-Sender ABC Lynch nach ersten Mustern die Finanzierung verweigerte, schnitt er seine gedrehten Szenen zu diesem Jahrzehntfilm um. Dadurch erklären sich auch die vielen offenen Handlungsstränge, die aber die Bebilderung der Traumwelt Hollywood nur noch dringlicher machten.
Dank „Mulholland Drive“ war David Lynch auf einmal nicht nur der König von Nerdland, sondern hatte wieder (eine gewisse) Breitenwirkung wie damals, Ende der 80er, Anfang der 90er, als er mit „Blue Velvet“, „Twin Peaks“ und „Wild At Heart“ einer ganzen Generation die Tür zu einer Welt öffnete, die sie bis dahin nie betreten hatte: einer Welt, in der Hässliches neben Schönem koexistierte, in der unter der Oberfläche das Eigentliche geschah. Lynch erteilte Lehren für das Leben und bebilderte gleich noch unsere Träume mit. (CI)
Texte & Jury: Robert Heldner, Christian Ihle, Katja Peglow, Silvia Weber
Die bisherigen Folgen:
Plätze 11-20
Plätze 21-34
Plätze 35-50: