vonHelmut Höge 10.11.2009

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Siehst Du, einen Kudamm gibts hier auch schon.

Ab 2008 zeigte mir Antonia Herrscher über fast zwei Jahre hinweg immer mal wieder „ihre“ Rhön. Wir machten Photos und Interviews. Das erste führten wir mit zwei Kurden, die den „Apollo-Grill“ in Wildflecken betrieben und wo es den einzigen öffentlichen Internetanschluß weit und breit gab.

1.

Enver Umur und Mehmet Ayan kamen im Sommer 2006 in die Rhön. Genaugenommen war es ihr Onkel, der dort – in Wildflecken – einen leeren Laden für sie fand, den Suzanna, ihre Cousine dann anmietete. Er stand leer. Zuletzt hatte darin ein in Wildflecken ansässig gewordener Russlanddeutscher aus Kasachstan einen Alkoholausschank betrieben, sein Geschäft lief jedoch nicht gut. Einen großen Teil seiner russisch-orientalisch anmutenden Kneipendekoration, zu der auch das in der DDR millionenfach reproduzierte Bild von Walter Womacka „Am Strand“ gehörte, das als Briefmarkenmotiv auch „Liebespaar am Strand“ heißt, hinterließ er im Laden. Enver Umur und Mehmet Ayan integrierten alles in ihren Döner-Imbiß, den sie dann Apollo-Grill nannten. Sie dachten dabei weniger an die griechische Gottheit kleinasiatischen Ursprungs, als vielmehr an das amerikanische Raketenprogramm Apollo 1, 2, 3 usw. Denn auch ihrem ersten Imbiß am Fuße des Kreuzbergs sollen später weitere folgen. Außerdem spielten sie mit dem Namen Apollo noch diskret auf den 1999 in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilten PKK-Führer Abdullah Öcalan an, den man auch Apo nennt. Enver Umur und Mehmet Ayan sind Kurden aus Sirnar bzw. Cizre in der Nähe von Dyabakir. Enver Umur studierte dort Finanzwissenschaft. Er wollte eigentlich Banker werden, aber der Kampf der türkischen Armee gegen die kurdische Guerilla verhinderte das. 1997 kam er nach Fulda, wo schon Verwandte von ihm wohnten – auch Mehmet Ayan, mit dem zusammen er dann neun Jahre später den Apollo-Grill in Wildflecken eröffnete. In Fulda, wo sie inzwischen verheiratet sind und Kinder haben, fanden sie keine Arbeit, d.h. keine Anstellung in einem deutschen Betrieb – „immer nur bei Ausländern, die dort leben und ein Restaurant betreiben“.

Nun fahren sie jeden Morgen von Fulda nach Wildflecken und abends wieder zurück – jeweils eine halbe Stunde auf der Autobahn A7. Manchmal, wenn es zu spät wird oder bei starkem Schneefall übernachten sie in der Wohnung über dem Laden, die sie mit anmieteten. Der Hausbesitzer hatte sie gewarnt: „Döner läuft hier nicht.“ Aber sie ließen sich nicht entmutigen: „Wir machten alles zwei Euro billiger als die Konkurrenz, auch Schnitzel. Im Gegensatz zu Fulda ist Wildflecken arm – viele Leute sind arbeitslos: Wenn es die Bundeswehr nicht gäbe, würde hier gar nichts laufen“. Dazu kommen manchmal noch kleine Kontingente von Natooffizieren – aus Holland, Frankreich, Amerika, Norwegen und anderen Ländern – zur Fortbildung. Die Bundeswehr hat heute in der „Rhönkaserne“ nur noch 250 Soldaten stationiert. Es ist mehr als ruhig im Ort. Fast alle Kneipen haben dicht gemacht, zuletzt ein italienisches Restaurant mit Hotel am Marktplatz vor dem Rathaus. Enver Umur und Mehmet Ayan kennen inzwischen die meisten Leute in Wildflecken: „Sind alle Kunden von uns“. Sie liefern auch außer Haus – und dabei nicht selten in die „Rhönkaserne“ oben auf dem Berg. Außerdem besitzen sie den einzigen öffentlichen Internet-Anschluß weit und breit.

Beim letzten Gammelfleischskandal hatten sie, wie auch die anderen türkisch-kurdischen Restaurantbetreiber in der Rhön, einen Umsatzrückgang von 20-30%. Die in Ostdeutschland sogar bis zu 60 %. Mit den türkischen Medien sind sie sich einig, dass man dafür neben den Fleischgroßhändlern jedesmal auch gleich noch die Dönerimbißbesitzer mitverantwortlich machte, sei von der deutschen Politik beabsichtigt, die damit das von Arbeitslosigkeit gebeutelte Land entlasten wolle, indem sie massenhaft Türken quasi zwinge, in die Türkei zurück zu gehen, weil man hier ihre Existenzgrundlage zerstöre – und gleichzeitig den Islam dabei bekämpfe. „Jedes Jahr gibt es einen neuen Fleischskandal!“ An eine ähnliche Verschwörung dachten wenig später auch die in Deutschland lebenden Aleviten. Dabei ging es um einen Tatort-Krimi, in dem ein türkischer Alevit der Täter, ein Kinderschänder, war, was die strengen Moslems den Aleviten schon immer unterstellt hatten.

Der kurdische Apollo-Grill liegt verkehrsgünstig an der Hauptstraße von Wildflecken. Gelegentlich kommen Wanderer vorbei. Vor einiger Zeit fragte Enver Umur den Bürgermeister, ob er an den Ortseingängen zwei Hinweisschilder auf seinen Imbiß anbringen dürfe. Dieser verwies ihn an ein Amt in Bad Brückenau, was Enver Umur als abschlägigen Bescheid auffasste: „Hat er nicht erlaubt.“ Wenn keine Kunden im Laden sind, machen Mehmet Ayan und Enver Umur sich einen türkischen Tee – „den kennen die Leute hier nicht, bestellen sie auch nicht“ – und wechseln im Fernseher, der auf dem Getränkekühlschrank steht, das Programm: vom Sportsender schalten sie um auf einen kurdischen Sender.

Allein aus dem Nordirak können sie sechs Programme empfangen, einen direkt von der Guerilla in den Bergen an der Grenze zur Türkei, dazu noch den sozusagen offiziellen Kurden-Sender aus Dänemark. Ihre Anteilnahme am Befreiungskampf des kurdischen Volkes äußert sich daneben auch noch darin, dass sie ihre Speisekarten, Flyer und Visitenkarten usw. mit den Farben der kurdischen Fahne – Rot und Grün – versahen, „aber die kennen die Leute hier gar nicht. Es hat uns jedenfalls noch keiner drauf angesprochen.“

Das da ist der Kreuzberg!

2.

Am Rande des 4. Nordic Walking Tages in Bischofsheim verkaufen Kleinhändler und ganz kleine Händler Getränke und Produkte aus dem eigenen Garten. Ein Junge bot daneben seltsamerweise Muscheln – in verschiedenen Größen und Preisklassen – an. Es handelt sich dabei um Meeresmuscheln. Wenn man jedoch weiß, dass a) der Tourismus der Freizeitbereich ist, der am stärksten einen Warencharakter hat und b) der Strand, wo man diese Muscheln findet, der durch Werbeanzeigen am häufigsten verbreitetste Schauplatz von „romantischem Urlaub“ sowie von „Natur“ und „Verliebtheit“ ist, dann kann man den Jungen nur als cleveren Geschäftsmann bezeichnen.

Kommt noch hinzu: Das „Nordic Walking“ ist eine neue städtische Erfindung – für Spaziergäne und Wanderungen auf dem Land. Genauer gesagt: eine Idee von Skiherstellern, um auch außerhalb der Wintersaison wenigstens Skistöcke zu verkaufen. In Berlin gibt es flankierend dazu sogar eine „Nordic Walking Academy“ – am Rande des Grunewalds. Die Ausflügler nun wollen „die Natur“ so intensiv wie möglich erfahren – und dazu brauchen sie die stärksten Bilder von ihr. Der Semiologe Roland Barthes unterschied die Metasprache, die in der Stadt gesprochen wird, von der Objektsprache – auf dem Land. „Die erste Sprache verhält sich zur zweiten wie die Geste zum Akt: Die erste ist intransitiv und bevorzugter Ort für die Einnistung von Ideologien, während die zweite operativ und mit ihrem Objekt auf transitive Weise verbunden ist.“ Als Beispiel erwähnte er den Baum: Während der Städter über ihn spricht oder ihn sogar besingt, da er ein ihm zur Verfügung stehendes Bild ist, redet der Landbewohner von ihm – gegebenenfalls fällt er ihn auch. Und der Baum selbst? Wenn der Mensch mit einer Axt in den Wald kommt, sagen die Bäume: „Sieh mal! Der Stiel ist einer der Unsrigen.“ Dies behaupten jedenfalls die Waldarbeiter. Früher sagten die Bäume Ähnliches beim Näherkommen eines Menschen mit einem hölzernem Wanderstab in der Hand. Zu den Walking-Industrie-Stöcken der Aktivurlauber fällt ihnen jedoch nichts mehr ein. Das macht aber nichts, denn der Städter von heute weiß das Schweigen des Waldes um so mehr zu genießen.

Der Bus nach Bad Neustadt fährt da drüben ab.

3.

Wenn man in der Nähe von Bischoffsheim ein Pensionszimmer hat, dann geht oder fährt man als Tourist mindestens einmal am Tag auf den Kreuzberg.

Man nennt ihn auch  „Heiliger Berg der Franken“. Auf dem Kreuzberg zerschlugen im 7. Jahrhundert die als besonders fanatisch geltenden iroschottischen Mönche Kilian, Kolonat und Totnam eine heidnische Kultstätte der Buchonier (benannt nach der Buchonia, wie die Mittelgebirge Rhön, Spessart  und Vogelsberg ihrer vielen Buchen wegen von den Römern genannt wurden, die diese damals noch fast menschenleeren Regionen beim Bau des Limes weise außen vor ließen). Die drei Christianisierer wurden 688 wegen ihres Glaubenseifers erschlagen – und gelten seitdem als Märtyrer, wobei man ihre Ermordung jedoch als ein Auftragsverbrechen  des kurz zuvor bekehrten Würzburger Herzogs Gosbert darstellte, weil sie ihn davon abhalten wollten, die ungetaufte Frau seines verstorbenen Bruders zu heiraten. Bonifatius ließ dort dann drei Holzkreuze aufstellen. 1000 Jahre später errichteten die Franziskaner ein Kloster nebst Wallfahrtskirche und Brauerei auf dem 928 Meter hohen Kreuzberg. Noch mal einige hundert Jahre später wurden dort vier Skilifte gebaut und 70 Kilometer Loipen angelegt. Dazwischen befinden sich heute mehrere Ausflugslokale und jede Menge Souvenirshops, einen betreiben die Franziskaner selbst.

4.

In Fremdenverkehrsgebieten sind die Einheimischen quasi darauf gedrillt, mit Touristen in Kontakt zu treten, damit diese sich nicht einsam oder allein gelassen fühlen. Die Touristen halten das wiederum für Aufgeschlossenheit. Die Rhöner nehmen, so kommt es uns jedenfalls vor,  besonders gerne Kontakt mit Fremden auf. Weil ein solches Kollektivverhalten aber anscheinend nicht reicht, werden den Sommerfrischlern darüberhinaus noch jede Menge „Events“ geboten: Dorffeste, Erntefeste, Feuerwehrfeste, Trachtenumzüge etc. – auf denen man sich näher kommt, wie man so sagt. Darüberhinaus gibt es in der Rhön noch von den dortigen Geschichtsvereinen organisierte Symposien über bestimmte Adelsgeschlechter, über Renaissancetore, Barockbrunnen, keltische Siedlungen, Wehrtürme und kriegerische Ereignisse. Ferner diverse Workshops – u.a. in der „Rhön-Akademie“ bei Fulda oder im „Rhönschaf-Hotel“ in Ehrenberg. Und Tagungen – organisiert von diversen Initiativen und Parteien. Sowie Drinnen- und -Draußen-Konzerte und allerhand Wettkämpfe – bis hin zu Motorradrennen und Segelflug- bzw. Drachenflieger-Wettbewerbe an und auf der Wasserkuppe.

Weniger abenteuerlich geht es bei den Marathonlesungen des Schauspielers Rudolf Herget auf dem Kreuzberg zu. Alljährlich im Sommer trägt er dort nächtens neun Stunden lang in einer „Nacht der Poesie“ bekannte Klassiker vor. Umgekehrt tragen zur gleichen Zeit auf der etwa zehn Kilometer entfernten Bergkuppe „Kalte Buche“ bei Ginolfs neun Dichter jeweils 25 Minuten lang unbekannte Texte vor. Diese zweitägige Veranstaltung wird von dem Verleger Peter Engstler aus Oberwaldbehrungen organisiert.

Auch die vielen Museen und Vereine in der Region annoncieren regelmäßig Informations- und Bildungsveranstaltungen – bis hin zu Kochkursen und „Plätzchenbacken für Ruanda“ vom Landfrauenverband.

Der Kontaktpflege bzw. -aufnahme dient letztlich auch die Unmenge von Sportvereinen. Unser Photo zeigt die Skisprungschanze am Kreuzberg, die mit Wasser statt Schnee funktioniert – aufgenommen während eines Biathlon-Wettbewerbs zwischen dem Skiverein RWV Haselbach und einem oberbayrischen Club. Der Bau der Schanze kostete über 400.000 Euro, der Landrat, der sich sehr für ihren Bau engagiert hatte, mußte anschließend herbe Kritik dafür einstecken. Mit der zunehmenden Klimaerwärmung, da immer weniger und manchmal gar kein Schnee mehr in der Rhön fällt, macht sie sich jedoch langsam bezahlt.

Die besonders kontaktfreudigen, ja -süchtigen Rhöner zieht es oft und gerne auf ein, zwei Bier ins Kloster auf den Kreuzberg, wo es von Pilgern und Wanderern nur so wimmelt. Wer von den Fremden an intimeren Kontakten interessiert ist, für den halten sich rhönweit auch noch rund 12 Prostituierte bereit. Sie annoncieren sich in den Regionalbeilagen der Tageszeitungen und sind über Telefon zu erreichen.

Wir sind falsch. Kuck doch mal genau hin.

5.

Josef Dünninger beschreibt in der Zeitschrift „Frankenland“ 1956 die Rodungsdörfer Langenleiten, Waldberg und Sandberg nach seinem persönlichen Eindruck: „Wir sind vom Kreuzberg südlich gewandert, erst durch die Buchenwälder mit ihrem jungen Grün, dann über die Weidewiesen mit ihren Hecken, und dann läuft das Gelände in drei Höhenrücken aus, die voneinander durch Tälchen getrennt sind. Auf jedem dieser Höhenrücken liegt ein Dorf. Links Sandberg, in der Mitte, ein wenig tiefer, Waldberg und rechts Langenleiten. Und rund um diese Dörfer die weiten Wälder des Salzforstes. Im Norden blickt man noch einmal hinauf zur Kuppe des Kreuzbergs, und rechts hat man die dunkle Flanke der Schwarzen Berge. Wer unvorbereitet vor diese drei Dörfer tritt, ist überrascht. Sie sind so ganz anders als all die anderen Rhöndörfer. Sie sehen aus, als wären sie Geschwister, als wären sie alle drei nach dem gleichen Plan entworfen. Lang ziehen sie sich auf ihren Höhenrücken hin, richtige Straßendörfer. Die Dorfstraße ist unendlich breit. In der Mitte stehen immer wieder in Abständen Brunnen. Die Dorfkirche ist in der Mitte, und da sehen wir nun Haus an Haus gereiht; fast jedes Haus gleich, nur ein wenig unterschieden in der Farbe. Früher waren sie ganz mit Schindeln überkleidet, ganz schuppig, manche Häuser sind mit Brettern vollkommen verschalt, manche auch haben Verputz, aber es ist so, als wäre ein Haus wie das andere geplant und entworfen. Wenn man ein solches Dorf betrachtet mit seiner genauen Ordnung, mit seinem gleichen Hofanteil, mit dem gleichen Anteil von Feldern, so möchte man meinen, daß hier ein sehr geordnetes und gesichertes Leben gewesen sei.“

In der Rhön wird immer wieder behauptet, die ersten Siedler der „Walddörfer“ seien ehemalige Sträflinge gewesen. Schon zu Beginn der Besiedlung von Langenleiten sagten die Leute in den Nachbardörfern, die Langenleitener bestünden aus dreierlei Rassen: „Tiröller, Schlöffaner und Zügäüner.“ Die drei auf über 600 Meter liegenden Ortschaften, wahrscheinlich aus provisorischen Köhlerlagern hervorgegangen, waren jedenfalls aufgrund ihrer Lage besonders arm. Der Boden war schlecht und die Winter lang.  Die drei Ortschaften sind erst während des dreißigjährigen Krieges entstanden und damit die jüngsten Siedlungen in der Region. Die Bewohner der Südrhön hatten unter den Verheerungen des 30jährigen Krieges weniger gelitten als die im flachen Land, da die dichten Wälder ihnen wohl Schutz geboten hatten. Infolgedessen war die Gegend zu dieser Zeit vollkommen überbevölkert. Die ehemals blühende Eisen und Glashüttenindustrie, welche den Leuten dort zuvor eine Erwerbsmöglichkeit geboten hatte, war durch den Krieg völlig vernichtet worden. Die Bauersfamilien baten den Fürstbischof deshalb um die Zuteilung von Land. 1682 erteilte er die ersten Genehmigungen zur Rodung einiger Waldgebiete. Auf dem Rücken dreier sanft geneigter Kuppen entstanden so die drei Rodungsdörfer. Wahrscheinlich, um bei der Verteilung des Landes besondere Gerechtigkeit walten zu lassen, erhielt jede Familie ein schmales Stück Land, dass sich von der Kuppe, bis ins Tal hinab zog.

Der Name Langenleiten, leitet sich wohl von „Lange Leitung“ ab, was sich auf das Bewässerungssystem bezog: In der Mitte der Strasse floß bis in die 60er Jahre ein Fluß – die „Muisbich“. Von ihm aus führten flache Gräben zu den hinter den einzelnen Gehöften liegenden Grasgärten. Die Struktur dieser Dörfer läßt besonders nach der autogerechten Erneuerung, für die sich nach einem Brand in den 60er Jahren eine gute Gelegenheit bot, an amerikanische Vorstädte denken. Tatsächlich handelt es sich bei den meisten Gebäuden aber um eine endlose Schichtung von Modernisierungsmaßnahmen bis zu ihrem heutigen Aussehen, dem gar nichts Altes mehr anhaftet.

Über Jahrhunderte waren nicht selten Marktrechte der Gegenstand von Zwist zwischen den „Neu- und den Altdörfern“: So wurden den Waldbergern 1748 die Wecken von den Bischofsheimer Bäckern „gewaltsam weggenommen und der künftige Verkauf verboten“. Sie gaben als Grund an, den Weck- und Brotvertrieb im ganzen Amt gepachtet zu haben. Den Bäckern aus den Neudörfern wurde jedoch von der Würzburger Regierung zugebilligt, auch ihre Ware verkaufen zu dürfen.

Während in Langenleiten viele Holzschnitzer wohnen, zeichnet sich Sandberg heute durch eine eigene Musikszene aus. Die Leute sagen noch immer: „da oben wohnen nur Verbrecher.“ Vielleicht liegt das daran, dass Sandberg mehrmals abbrannte, was wiederholt einen Modernisierungsschub zur Folge hatte. In den 60er Jahren soll ein Brandstifter sogar mit der örtlichen Blaskapelle vom Gefängnis abgeholt worden sein. Jeden Sommer findet hier der „Beat“ statt. Der Veranstalter – Getränkegroßhändler Geis – räumt für diesen Zweck seine große Lagerhalle leer. Zu diesem Großereignis kommen Jugendliche aus der gesamten Rhön und man sollte dort in der Gegend an diesem Abend besser nicht mit dem Auto fahren, weil die Polizei sämtliche Zufahrtstraßen kontrolliert. Das letzte große Konzert im vergangenen Sommer war der Auftritt der „Bösen Enkels“ – einer „Bösen-Onkel-Cover-Band“.

6.

Der jüdische Arzt und Minnesänger Süßkind von Trimmenberg dichte vermutlich um 1300, dass sich in seinem Haus die Herren Niegewinn, Habnichtsmehr, Schwerenot, Hungerstadt und Schmalgut breitmachten:  „Drum weinen meine Kinder sehr/ Ob wenig Trank und Essen/ Und selten werden sie so satt/ Wie gern sie’s möchten werden.“

Dass Süßkind von Trimberg als einziger Jude ein Minnesänger war, macht ihn für die Historiker nicht weniger interessant als der Umstand, dass es sich hierbei nicht um einen üblichen Minnegesang handelt, weder in der Versform noch vom Inhalt her. Seine Reime sind stark autobiographisch und handeln meist von der bitteren Armut seines Lebens und des Landes. Das jedenfalls macht seinen Gesang zu einem typischen Rhönlied.  Ein altes Sprichwort über die Rhöner besagt, sie können nur Soldaten, Pfaffen, Musikanten oder Huren liefern. Weil die Bedingungen für die Menschen lange Zeit sehr schwierig waren und es ihnen zunehmend an Land mangelte, versuchten Generationen von ihnen im Ausland der ewigen Not zu entkommen. In den Walddörfern gibt es fast kein Haus, deren Bewohner nicht enge Verwandte in Amerika haben. Die meisten zog es nach Cleveland / Ohio. Die Verbundenheit, die viele Auswanderer bis heute zu ihren  Verwandten in der Rhön empfinden sieht man den Häusern der drei Walddörfer deutlich an.

Dieses Haus in „Waldberg“ erbaute sich ein „Rückkehrer“ aus Cleveland. Es handelt sich schon um die dritte Heimkehr seiner Familie. Sie vermieten einen Teil des zu geräumig geratenen Hauses an Feriengäste. Erstmals wanderte sein Ur-Urgroßvater Andreas Hager in den späten 80er Jahren des 19. Jahhunderts in die USA aus. Zu dieser Zeit herrschte in der Rhön besondere Armut. Aufgrund der langen Winter blieb den Bewohnern der Dörfer nur ein knappes halbes Jahr zur Bewirtschaftung ihrer Äcker. Zudem lebten bis zu 10 Personen in Gebäuden von nicht mehr als 30 Quadratmetern und ernährten sich fast ausschließlich von Kartoffeln und geronnener Milch. Um legal auswandern zu dürfen, galt es für die Auswanderungswilligen einen gewissen behördlichen Instanzenweg einzuhalten. Zunächst einmal führte die Gemeinde über den Antrag ein Protokoll und stellte den Auswanderungsersuchenden ein Vermögens- und Leumundszeugnis aus. Der Ortspfarrer beglaubigte  zudem den Familienstand und die Geburt des Auswanderers mit der Anfertigung eines erforderlichen  Zeugnisses. Die Gemeinde konnte nun weiterhin eine Kaution vom Antragssteller verlangen, um für ihn, im Falle einer Rückkehr, sorgen zu können. Davon sahen die Gemeinden jedoch vielfach  ab. Allerdings ließen sie sich von ihm eine Bürgschaft vorlegen, in der ein Verwandter oder Bekannter des zur Auswandererung Entschlossenen sich verpflichtete, eventuelle Restschulden von ihm zu übernehmen.

7.

Umgekehrt bewegen sich jetzt einige Amerikaner, deren Vorfahren aus der Rhön kamen, wieder zurück. Es handelt sich dabei um sieben kleine weltabgewandte Dörfern in Iowa an, die sich Amana Colonies nennen. 1600 Menschen leben dort, es  sind tiefreligiöse Pietisten. Sie heißen Hoehnle, Hoppe oder Hahn und kommen aus der hessischen Rhön. Ihre Altvorderen wanderten bereits Ende des 18. Jahrhunderts aus. Kürzlich bekamen sie Besuch von einem jungen Rhöner: von Peter Kowalsky, Stiefsohn des Ostheimer Brauereibesitzers, der das Trendgetränk „Bionade“ herstellt. Kowalsky hatte sich mit dem Bionudel-Hersteller Klaus Fiedler aus dem schwäbischen Trochtelfingen zusammengetan. Gemeinsam wollen die beiden bei und mit den Amana-Leuten eine „Bionade-“ sowie eine „Alb Gold“-Produktion aufziehen, um von da auf den amerikanischen Markt vorzustoßen. Die pietistische Kommune ist der größte Farmbetrieb in Iowa. Sie wird für die Rohstoffe sorgen, darüberhinaus werden 150 Kommunarden bei der Herstellung der Ökobrause und der Bionudeln Beschäftigung finden. Die Amerikakorrespondentin der taz interviewte den Historiker der Kolonisten Peter Hoehnle, anschließend schrieb sie: „Anders als die Amish- haben sich die Amana-People der Welt des Fortschritts nie verschlossen. Schon im 19. Jahrhundert betrieben sie Iowas einzige Wollweberei, noch in den 50er-Jahren produzierten sie die modernsten Kühlschränke der USA. Doch mit der Hinwendung zur Welt ist den Amanern irgendwo der Stolz auf die eigene Lebensweise abhanden gekommen. Erst machte sie das Deutschverbot während des Ersten Weltkriegs sprachlos. Dann zwang die Große Depression sie 1932 zur Auflösung ihres kommunalen Lebensstils. Es folgten Hohn und Häme der Außenwelt, dass die Sekte ihrem ‚kommunistischen Modell‘ endlich abgeschworen und der ‚Kapitalismus in Amana gesiegt‘ habe. Und dann kam die Globalisierung. ‚Früher wurden wir für unser Handwerk, unsere deutsche Küche und unsere Qualitätsprodukte sehr geschätzt. Aber heute passt das alles nicht mehr zur amerikanischen Mentalität‘, sagt Peter Hoehnle. ‚Warum soll einer einen handgeschreinerten Tisch von uns kaufen, wenn er einen aus China im Supermarkt für einen Bruchteil des Preises bekommt?‘ Peter Hoehnle spricht Englisch, Deutsch will er lieber nicht versuchen. ‚Es klingt grauenhaft‘, meint er lachend. Sein Vater und die anderen Alten sprechen es noch, das altertümliche, ländliche Deutsch, in dem sie Sonntags so gern ihre Hymnen singen. ‚Wir sind etwas Besonderes, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass die Menschen hier auf die Außenwelt schauen und stets glauben, da draußen ist alles heller und schöner‘, meint Peter Hoehnle nachdenklich. Er möchte, dass ein Bewusstsein zurückkehrt, dass die Außenwelt, zumal die amerikanische, etwas von ihnen lernen kann. Auch sein Freund John Childers sucht nach etwas, dass Amana aus seinem Dornröschenschlaf erweckt, ohne ihm die Identität zu rauben. Oder nein, umgekehrt, es soll etwas sein, dass der Kolonie eine neue Identität gibt, ohne Amana in seinen Grundfesten zu erschüttern.“

Wir korrespondierten dann noch mit dem  Rhöner Heimatforscher Walter Kömpel, der sich lange mit der Auswanderung nach Amerika – speziell aus den Walddörfern – beschäftigt hat. Zur Zeit arbeitet er an einer Ortschronik von Oberbach. Er schrieb uns: „Hierzu gibt es Unterlagen, die im Staatsarchiv in Würzburg hinterlegt sind. Haben Sie denn schon die Möglichkeit der Gemeinde- archive in Langenleiten, Waldberg und Sandberg ausgeschöpft? Eine weitere Möglichkeit wären die Matrikel der Kirchenverwaltung. Wahrscheinlich sind alle Kirchenbücher, die vor 1900 angelegt wurden, in Würzburg beim Diözesanarchiv eingelagert. Es könnte aber auch sein, dass die jeweilige Pfarrei einen Mikrofilmsatz vor Ort hat. Haben Sie Kontakt zum Bürgermeister aufgenommen?“

Die Mützen da sind auch aus Rhönschafwolle.

8.

Zwei Schneemänner überlegen sich, was sie am Abend machen könnten: „Was hältst du von Sauna?“ – „Nichts! Das geht immer so an die Substanz!“

Kalt ist es in der Rhön das ganze Jahr hindurch. Deshalb liebt der Rhöner das Schwitzen. Aber wer in den „Rhönthermen“ in Fulda über so einen blöden Witz lacht, wird auf eines der handgeschnitzten Schilder verwiesen, die in den Saunen dort hängen – „Hier wird geschwiegen“. Neben den Liegestühlen ist zu lesen: „Ruheraum – Bitte Ruhe!“

Deutlich gelassener geht es in der Sauna des Nichtraucherhotels „Silberdistel“ auf der „deutschen Motorradstrecke“ in Sandberg zu. Hier wird man immer wieder in Plaudereien verwickelt oder mindestens Zeuge anspruchsvoller Dialoge zwischen zen-inspirierten Maschinenbauingenieuren und geistig aufgeschlossenen Sozialarbeiterinnen. Meistens drehen sich die Gespräche dort um Motorräder: -neuheiten, -schäden und -abenteuer bzw. -unfälle. Das Hotel hat bereits mehrmals den Besitzer gewechselt, zur Zeit befindet es sich in jugoslawischer Hand und hat oft geschlossen, derart entsteht in dieser Sauna langsam der Eindruck eines geordneten Rückzugs aus dem Wellnessgeschäft. Die nächste Investition könnte bereits dem Umbau zu einem Swingerclub dienen.

Wer preisgünstig saunen möchte, kann tatsächlich auch einen der vier oder fünf Swingerclubs der Region aufsuchen – Im Shalimar in Tann ist der Einritt für Frauen sogar umsonst, alle Getränke inklusive. Dafür zahlen die Männer über 100 Euro. Während an den Theken endlos über Sex geredet wird, versuchen sie in der Sauna eher wortlos zur Sache zu kommen. „Wir haben Verständnis für Toleranz“ lautet denn auch die Telefonansage eines Rhöner „Saunaklubs“. Der Swingerclub („Donnerstags ab 15 Uhr heißer Gang-Bang“, „Samstags Kaltes Buffet“) erscheint so als die Erfüllung der zotigsten Saunawitze, wie man sie inzwischen zu Dutzenden im Internet findet. Das sieht anscheinend auch der Bürgermeister von Tann, dem „Tor zur Rhön“ so, denn er versucht immer mal wieder mit Hilfe der Bauordnung das Etablissement zu schließen, dessen Gäste zumeist von außerhalb der Rhön kommen und ganze Wochenenden buchen. Bestätigt fühlt er sich auch dadurch, dass hier 2001 sogar eine neue Stellung erfunden wurde, die man das  „Rhönrad“ nennt. Ansonsten wirbt diese „Pärchen und Single-Erlebniswelt“ mit einer „Apricot-Bar, einem Japanese Pool, Mexican Kaminromantik, Dschungeldampfbad, Relaxgarten, einem Verlies, einem Special Dark Room, Beduinenzelt, Videoraum, Champagnerbad und 1000 und einer Nacht“.

24 Hotels und Gasthöfe in der bayerischen, hessischen und thüringischen Rhön werben inzwischen mit „internationalen Verwöhn-Arrangements“: In Bad Königshofen lockt ein Wellness-Weekend mit „Orient-Feeling“, in Hausen-Roth warten Ayurveda-Massagen auf die Gäste und in Bad Brückenau kann man angeblich wie die ägyptische Schönheit Cleopatra baden. Es gibt Tibetanische Honigmassagen in Mellrichstadt, den türkischen Hamam in Schönau/Brend und griechisch-römische oder finnische Saunen.

Das original-orientalische Hamam steht in dem Ruf, ein von heißem Dampf verhüllter Ort der Erotik zu sein. Jedenfalls bei den Westlern. Es geht darin eher um Wohlfühlen als um Wellness. Ein Ort des Rückzugs und der körperlichen Selbstliebe, meist nach Geschlechtern getrennt. Aber hier wie dort verbunden mit lautem Schwatzen und Gekicher. Spätestens nach 2 Stunden friert man wie eine Schneiderin. Da hilft viel süßer Tee und Gebäck. Im Hamam tut man nur bedingt etwas für die schlanke Linie. Eine Waage sucht man hier deswegen vergeblich.

Ganz anders geht es im Sauna- und Fitnessbereich des „Rhön Park Hotels“ im bayrischen Hausen-Roth zu, das u.a. von Neckermannreisenden gebucht wird. Während diese in Grüppchen auftreten, sind die Rhöner Sportsfreunde, die sich dort stählen, eher Einzelkämpfer. Vor allem an den Geräten. Wenn im Hamam die Geselligkeit im Vordergrund steht, geht es in den Fitnessparadiesen um Leistung – unter physiotherapeutischer Leitung. Ein typischer Sauna-Gesprächsbeginn geht dort so: „Na, Sport gemacht?“ „Ja, heute bin ich 12 Kilometer gelaufen. Mit gemütlichen 7 Kmh. Nur, zwischendurch habe ich mich erschrocken, weil mein Cardio-Empfänger den Puls meines linken Laufnachbarn bei mir angezeigt hat. Und der machte ein ehrgeiziges Intervall-Training.“

Das Gartenhäuschen auf unserem  Photo ist eine Privatsauna. Die Besitzer waren es leid, dass man ihnen in den Fuldaer „Rhönthermen“ immer die gute Laune verdarb. „Dort gingen die Leute zum Lachen in den Keller“, sagte uns die Hausherrin, die sowieso mit den Hessen nicht so gut kann.

Seit die Rhön auf den neuen Aktiv-Urlauber setzt, eröffneten zahlreiche Wellnesstempel für die ganze Familie. Gleichzeitig geht den öffentlichen Bädern das Geld aus. Kürzungen bei den Zuschüssen führen dazu, dass der Eintritt für das vergleichbar bescheidene „Saunaerlebnis“ recht hoch ist. Der Reiz der kommunalen Bäder besteht aber darin, dass dort Intimität und Öffentlichkeit kein Widerspruch sind. So wurde z.B. in einer solchen Sauna in Bad Neustadt laut Susanne Kastner von der SPD die Trassenführung der neuen Autobahn A 71 „von der CSU allein abgekartet“ – die FAZ berichtete.

In der Sauna des kommunalen Hallenbades von Haselbach sitzen der Bürgermeister, der Arzt, der in Bischofsheim eine gut gehende Praxis hat, der Leiter Bauhofs und der Wirt der Weinstube zusammen beim Aufguss. Der Bademeister schwitzt hier schon seit 30 Jahren. Dabei erzählt er gerne von seinen Auftritten mit seinem Sohn als „Original Kreuzberg-Duo“ und ihren Erfolgen auf den Bühnen des Rhönerlandes. Daneben weiß er auch so manchen Saunaschwank zu erzählen: Auf der letzten Tourismusbörse in Berlin bekam er am Rhön-Stand eine Einladung in die Skandinavische Gemeinschaftsbotschaft. Dort durfte er die neue Lindgren-Sauna ausprobieren. Anschließend ließ er sich von einer schwedischen Masseurin durchkneten. Weil die sich ein wenig unterhalten wollte, begann sie ein Gespräch – mit den Worten: „Og svenske?“ Woraufhin er etwas verschämt aber freudig antwortete: „Oh ja, bitte!“

Im thüringischen Kaltensundheim, unweit von Kaltennordheim, das zwischen Kaltenlengsfeld und Kaltenwestheim liegt, gibt es eine generalüberholte LPG-Sauna, wo sich die „Einheitsverlierer“ treffen und über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Rote Socken schimpfen. Nicht weit davon entfernt hat ein Ehepaar, das im Rat des Kreises arbeitete und schon immer eine Finnlandmacke hatte, eine schicke Finnsauna eingerichtet. Dort treffen sich die neuen Selbständigen und reden über nichts anderes als die Auftragslage, die miese Zahlungsmoral, Fördermittel und -maßnahmen. Alles geht hier original Finnisch zu. Nach dem Aufguss reicht die Herrin des Hauses gerne den berühmt-berüchtigten „Kossu“ (Koskenkorva Vodka). Nach drei Runden geht einer raus und die anderen müssen raten, wer von ihnen fehlt. Sehr lustig.

Wem es nach der Sauna nicht besser geht und dem auch kein Kräutertee mehr hilft, der muß sich in eines der sechs Kurbäder der Rhön oder ins Krankenhaus begeben. Die völlig überdimensionierte und deswegen pleite gegangene Kurklinik in Bad Neustadt ist heute Stammsitz eines der größten Gesundheitskonzerne der BRD: der Rhön-Klinikum AG, die von der FAZ stereotyp nur „die Rhön“ genannt wird.

Der Nürnberger Marxist Robert Kurz meint: „Die Infrastruktur hört auf, eine solche zu sein, wenn dabei die Konkurrenz eingeführt wird.“ Ab 1989 wurde dies nahezu weltweit durch Privatisierungen eingeleitet. In der BRD ging in diesem Zusammenhang 1989 das erste Krankenhaus an die Börse. Seitdem empfehlen FAZ-„Analysten“ ihren Kunden regelmäßig, Aktien der äußerst erfolgreichen „Rhön“ zu kaufen. Und diese wiederum erwirbt mit dem Kapital ein Krankenhaus nach dem anderen – bis jetzt 46 Objekte. Daneben will die „Rhön AG“ demnächst zusammen mit der Siemens AG elektronische Patientenakten an seinen rund 10.000 Krankenbetten installieren („E-Health“ nennen sie das). Der Vorstand der Schutzgemeinschaft deutscher Kapitalanleger, Harald Petersen, freut sich: „Rhön macht die Patienten gesund und die Aktionäre glücklich.“ Der Rhön-Vorstandsvorsitzende Wolfgang Pföhler, der einst für die öffentlich-rechtliche Verfassung von Kliniken stritt, meint: Die öffentliche Hand werde den Investitionsstau in den deutschen Kliniken, der 50 Milliarden Euro betrage, nicht bewältigen können und die Sanierungslösung „Public Private Partnership“ sei eine vorübergehende Modeerscheinung, speziell auf die Universitätskliniken wachse der Druck, nachdem der Bund sich bei der Finanzierung zurückgezogen habe, deswegen werde man demnächst weitere Kliniken übernehmen.  Der CSU-Landrat des Rhön-Grabfeldkreises Thomas Habermann aus Oberwaldbehrungen hatte zuvor bereits die Versorgungskrankenhäuser in Mellrichstadt und Bad Königshofen „aus Geldmangel“ schließen lassen. Und das Krankenhaus in Bad Neustadt ließ er in eine „Rhön-Saale-Klinik gGmbH“ überführen, wobei das „Kreiskrankenhaus“ gleichzeitig als „Regiebetrieb“ ausgegliedert wurde. Bei diesem „Betriebsübergang“ wurden alle Mitarbeiter übernommen, die Gesellschaftsanteile behielt der Landkreis – um sie zu verkaufen: Das Krankenhaus sowie die geschlossene Kreisklinik in Mellrichstadt wollte dann auch sofort die Rhön AG übernehmen.

Das Bundeskartellamt, das schon die Übernahme des Krankenhauses in Eisenhüttenstadt durch die Rhön AG gestoppt hatte, untersagte jedoch auch diese Privatisierung. Außerdem warf es dem Landrat vor, andere Kaufinteressenten für die Klinik in Mellrichstadt abgewiesen zu haben. Ob Habermann auch diesen Deal in einer Bad Neustädter Sauna ausgekungelt hat, ist nicht bekannt. Aber Ähnliches hatte man zuvor auch schon Theo Schröder, dem SPD-Staatssekretär der Berliner Gesundheitssenatorin, vorgeworfen, als er mit der Rhön AG um die Übernahme des Großklinikums Buch verhandelte – und dann urplötzlich in den Vorstand der Rhön AG überwechselte.  Die Rhön AG klagte gegen den Kartellamts-Beschluß – mit dem Argument: Krankenhäuser seien nach dem Sozialgesetz der kartellrechtlichen Überprüfung entzogen. Der 1. Kartellsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf gab jedoch 2007 dem Kartellamt recht: Mit dem Erwerb würde Rhön eine marktbeherrschende Stellung in der Region einnehmen.  Der Prozeß verlief ähnlich absurd wie die Entwicklung der „deutschen Krankenhauslandschaft“ insgesamt, die derzeit, so der Präsident der Bundesärztekammer, geradezu „umgepflügt wird“. Ein privater Gesundheitskonzern reklamierte die Staatsmonopol-Rechtfertigung für sich – und das Gericht bremste ihn mit der Marktideologie aus: Krankenhäuser sind Unternehmen und stehen „trotz aller Reglementierungen dem Patienten gegenüber in einem Wettbewerb“, deswegen sei eine „Fusionskontrolle“ berechtigt. Die Rhön AG betreibe bereits in Bad Neustadt und in Bad Kissingen vier Fachkliniken und zwei Krankenhäuser.

Der Konzern kündigte an, 1. beim Bundesgerichtshof Rechtsbeschwerde dagegen einzulegen und 2. seine „Strategie der ,Clusterbildung'“, wie im Rhön-Grabfeld-Kreis bereits so gut wie erreicht, deutschlandweit fortzusetzen. Im übrigen habe man, obwohl bundesweiter Marktführer, bisher höchstens einen Marktanteil von drei Prozent. Der Landrat hatte vor Gericht argumentiert, wenn die Rhön AG die Kreiskrankenhäuser nicht übernehme, müsse man sie schließen, in Mellrichstadt sei dies bereits geschehen.  Obwohl es wie ein abgekartetes Spiel zwischen CSU-Landrat und Rhön-AG aussah, pflichtete die FAZ in diesem Streitfall sogleich dem Rhön-Chef Pföhler bei: „Wenn Kartellrecht dazu führt, dass die Versorgung auf dem Land eingestellt wird, läuft etwas grundlegend falsch.“ Viele Ärzte bezweifeln jedoch, dass „auf Profit getrimmte private Häuser wie Rhön die Lösung sind“. Der letzte Ärztekammerpräsident Ellis Huber bezeichnete ihre erfolgreichen Expansionen gar als eine „Ökonomie von Krebsgeschwüren“.

Neben modernster Technik setzt die Rhön AG auf ein Minimum an Pflegepersonal: Eine Klinik mit beispielsweise 3.300 Mitarbeiter, die bislang 33.000 stationäre Fälle abgewickelt hat, benötigt gemäß der Konzeption des Rhön-AG-Gründers und Hauptanteilseigners Eugen Münch nur noch etwa 2.200 Mitarbeiter und könnte gleichzeitig die Zahl der stationären Fälle auf 37.000 erhöhen. Das Restpersonal werde außerdem dadurch zu weiterem Einsparungen „motiviert“, das alle Medikamente mit großen Preisschildern versehen wurden.

Der bayrische Gesundheitskonzern konnte seinen Umsatz im vergangenen Jahr erneut um 6% steigern – er betrug 2 Milliarden Euro, der Konzerngewinn lag bei gut 110 Millionen Euro. Laut Wikipedia besteht die Unternehmensphilosophie der Rhön AG „auf der konsequenten Übernahme von Rationalisierungsstrategien aus der Industrie in die Gesundheitswirtschaft. Einige Beschäftigte klagen allerdings über die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen seit der Privatisierung – z. B. beim Klinikum in Dachau.“  Es kommt aber noch dicker: Die Rhön AG will an allen ihren Krankenhausstandorten ambulante Medizinische Versorgungszentren (MVZ) ähnlich wie Arztpraxen errichten: 1. lassen sich damit Voruntersuchungen kostengünstiger durchführen und 2. für das eigene Krankenhaus „Patientenströme generieren,“ so Rhön-Chef Pföhler. Das Ziel ist „eine Art ‚Rhön-Patient'“, der flächendeckend an eigenen medizinischen Versorgungszentren, Portalkliniken und spezialisierten Krankenhäusern bis hin zum Uni-Klinikum ausschließlich von der Rhön AG versorgt wird, die irgendwann auch ihre eigenen Medizinstudenten ausbildet,“ berichtete Der Spiegel, der sich dabei auf die Bilanzpressekonferenz 2007 „der Rhön“ bezog. Wenn diese weiterhin so unbarmherzig staatliche bzw. kommunale und kirchliche Gesundheitseinrichtungen übernimmt (seit der  Wirtschaftskrise 2008 ist sie sogar besonders übernahmeübermütig), wird man bald mit „der Rhön“ keine Mittelgebirgsregion mehr verbinden, sondern nur noch einen gigantischen Krankenhauskonzern. Die FAZ, die das ihrige dazu beiträgt, hat sich nun in bezug auf die eigentliche Gebietskulisse Rhön etwas einfallen lassen: Sie dehnt diese sukzessive nach Westen aus. Schon ist ihr die Region Vogelsberg nur noch so etwas wie ein Vorgebirge der Rhön. Sogar Wächtersbach im hessischen Main-Kinzig-Kreis wurden neulich schon in einer Reportage über die Freiwilligen Feuerwehren unter dem Titel „Wenn in der Rhön die Sirene heult“ dem Biosphärenreservat zugeschlagen.

9.

Unser Photo zeigt den Wirt und einen Gast in der Kneipe „Berggasthof Rott“. Sie macht eventuell bald dicht. Der Wirt ist Chefkoch in einem Kurhotel in Bad Brückenau und auch dort verheiratet. Nachdem sein Vater und seine Mutter an Krebs erkrankt und gestorben waren, übernahm er von heute auf morgen auch noch ihre Kneipe. Es ist die letzte in Sandberg. Weil er damit auf die Dauer überfordert ist und auch an seine Familie denken muß, sucht er nach einer Lösung.

Nach dem letzten Besuch dort überlegten wir uns, ob wir sie nicht einen Sommer lang kommissarisch weiterführen sollten. Die Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen. Inzwischen hat ein Bekannter in Bischofsheim uns gut zugeredet: Da ließen sich doch unsere Rhönrecherchen bequem fortsetzen – und vor allem vertiefen, meinte er. Außerdem hätte die Kneipe drei eigene Parkplätze. Das war uns bis dahin noch gar nicht aufgefallen.

10.

Ein Freund vor Ort, Alfons, arbeitet als Monteur in einem alteingesessenen Maschinenbaubtrieb bei Fladungen. Mit seinem Chef hatte er sich immer gut verstanden. Nun ist das mittelständische Unternehmen von einer Holding gekauft worden und ihm wurde ein Betriebswirtschaftler vorgesetzt. Wir vermuteten sofort einen totalen Idioten. „Na, der is eigentlich ganz nett“, erzählt er uns im „Max Bistro“ am Marktplatz von Bischofsheim. „Er hats halt nur net so drauf. Neulich traf ich ihn mal zufällig hier in der Kneipe. Wir haben uns ganz nett unterhalten. Also haben wir noch ein zweites Bier bestellt und das habe ich ihm halt ausgegeben. Er hat sich gewehrt, das wär doch nicht nötig und so. Aber ich hab drauf bestanden. Zahlt er halt beim nächsten Mal. Macht man hier so. Ganz normal. Am Monatsende aber bekomme ich meine Lohnabrechnung – und was hat er getan, der Hund?“ Wir kucken ihn erschrocken an. „Mir den Stundenlohn um 50 Cent erhöht. So ein saublöder Idiot.“

Bei anderer Gelegenheit erzählte er uns: Noch vor wenigen Jahren wurde das Kloster Kreuzberg von einer Handvoll Franziskaner geleitet. Heute wird es jedoch ausschließlich von weltlichem Personal geführt. Neben der Brauerei, die mittlerweile ausgelagert wurde, tragen noch die Gastwirtschaft und eine günstige Pension zum Unterhalt der Anlage bei. Ab 22.00 Uhr herrscht hier allerdings ohne Ausnahme Bettruhe. Die Eingänge des Klosters sind dann verschlossen. Das paßt nicht jedem. Während des gesamten Jahres können Besucher die Gaststätte des Klosters besuchen. Dazu zieht sich der Urlauber seine dicken Wanderstiefel und die urige Bundhose an, lädt seine Tante ins Auto und läßt anschließend am besten sie wieder runterfahren. Gerne übernehmen aber auch die freundlichen Pensionswirte diese Aufgabe. „Ein Maß ist Recht bei uns“, versichert Alfons.  Das gelte aber vielleicht nur für die Rhöner, die die Polizei neben dem Kennzeichen aber auch leicht erkennen kann: Der Einheimische zieht sich nämlich eher schick an und lacht über die zünftigen „Wanderfahrer“. Im Gasthaus des Kreuzberger Klosters haben die Patres vor zwei Jahren einen neuen Leiter für die Gastronomie eingesetzt – einen überaus weltlich ausgebildeten Manager. Von einer Frau, deren Schwester gerade in der Küche Dienst tat, erfuhren wir beim Bier: „Unter den Patres zu arbeiten, war schon schlimm. Keine Pausen, ständig Druck, die schlechteste Bezahlung – und wehe man wurde einmal krank.“ Was nun mit dem neuen Geschäftsführer gekommen sei, stelle aber selbst das noch in den Schatten. Die Leute haben Angst, sich zu beschweren. Es gibt hier nicht viel Arbeit. Und gerade, als die Stimmung soweit war, dass einige der Angestellten aufbegehren wollten, sei der Lump dem Orden beigetreten.

Aus der alten Burg da oben will er ein schickes Ausflugslokal machen.

11.

In der alten Bischofsheimer Bahnhofsgaststätte, erzählte uns ein Gast, der aus dem nahen Kurort Bad Brückenau rübergewandert war, dass nach einer langen Zeit der Flaute, hervorgerufen durch das Kureigenbeteiligungsgesetz und die Wende, nun langsam auch wieder die Zahl der Kurschatten zunehme. In Bad Wildungen habe man bereits dem unbekannten Kurschatten ein Denkmal gesetzt und im Waldecker Land gäbe es einen „Kurschatten-Brunnen“. Und in Bad Brückenau, wo man 1847 den spanischen Kurschatten von Ludwig I., Lola Montez, äusserst schnöde behandelt hatte, wolle man ihr nun sogar ein Denkmal setzen. Im Kursaalgebäude gäbe es bereits einen Lola-Montez-Saal. Ihr ehemaliges kleines Haus, dass der Bayernkönig ihr dort übereignete, sei schon seit langem zu einer Art skandalösem Wallfahrtsort geworden, seitdem ein ortsansässiger Urologe in einem der Fenstervierecke die eingeritzten Namen „Louis – Lolita“ entdeckt hatte. Erst machte der Journalist und spätere Geheimdienstoffizier Heinz von Eschwege-Lichberg aus Hessen aus diesem „Fund“ eine Erzählung mit dem Titel „Lolita“. Und daraus machte dann wiederum der russische Schriftsteller Wladimir Nabokov einen Roman, der sehr berühmt und mehrmals verfilmt wurde.

In Bad Kissingen kurten einst Tolstoi, Fontane und Bismarck, auf den man dort ein Pistolenattentat verübte. Deswegen mache dieser vornehme Ort inzwischen einen auf Weltbad – mit Prospekten auf japanisch, arabisch und russisch. Auch die Kurschatten seien dort bereits international geworden. In einem Reisebericht hieß es 1793 – noch auf Deutsch: „Für Mädchen hat die Bekanntschaft mit Herren in Bädern sehr oft wesentlichen Nutzen?“

Diesen Rat würden heute auch etliche russische Frauen beherzigen, die die deutschen Kurorte noch von ihren eigenen vorrevolutionären Romanen her kennen. In der Hauptsache würden jedoch thailändische Prostituierte aus deutschen Großstädten sich als Kurschatten in den Bädern und Rehazentren niederlassen. Einmal, weil die Osteuropäerinnen sie verdrängen und zum anderen, weil die Alten und Siechen in den Kurorten bald die einzigen seien, die noch über nennenswerte Geldbeträge verfügen, und sich zudem einsam genug fühlen. Schon gäbe es an der Universität Kassel eine Doktorarbeit – von der Soziologin Pataya Ruenkaew, die darin nach Befragung von 50 deutsch-thailändischen Ehen zu dem Resultat kommt, dass die Beziehungen zwischen jungen Thailänderinnen und alten Deutschen eine „ausgeglichenere Bilanz“ aufweisen als die romantischen deutsch-deutschen Ehen, weil dabei von vorneherein mit offenen Karten gespielt werde.

Über das kleine Bad Boklet wußte der Erzähler nur zu berichten, dass man es auch das „Bubenbad“ nenne. Über Bad Neustadt erfuhren wir, dass dort eine Gruppe von arbeitslosen Frauen und Männern einen „Charming-Intelligence-Service“ gegründet habe – eine Art Escort-Dienstleistung speziell für Kurgäste, aber es sei noch zu früh, um beurteilen zu können, ob sich dieses Geschäft auch lohne auf Dauer.

An dieser Stelle schaltete sich die Besitzerin der alten Bahnhofsgaststätte ein: “ Bei uns im Ort ists grad umgekehrt. Da schnappen sich die Ausländer die einheimischen Frauen. Meistens solche, die eine Kneipe geerbt haben.“ Der alte Marktplatz von Bischofsheim wird von Traditionsgaststätten gesäumt, die wegen des Denkmalschutzes noch immer ihre alten Namen haben. Aber die „Sonne“ ist heute ein chinesisches Restaurant, die „frische Quelle“ ein griechisches, der „Stern“ ein italienisches und das „Brotzeitstüble“ ein sächsisches.

„Den Sachsen mag ich nicht“, erzählt uns die Wirtin der Bahnhofsgaststätte, die obwohl schon im Rentenalter, nicht daran denkt, die Kneipe ihrer Tochter, die mit einem Kroaten verheiratet ist, zu übergeben. Ihr Lokal ist als letztes Relikt des ehemaligen Bahnhofsviertels im heutigen Gewerbegebiet übrig geblieben. Es befindet sich dem alten Bahnhofsgebäude gegenüber. Darin haben sich die Baptisten eingemietet. Das Bahnsteigwaschbecken dient ihnen jetzt als Baptisterium. Und das alte Gleisbett, so erfahren wir von der Wirtin, ist nun ein Teil des Rhönradweges ist, der von Bad Salzungen in der Thüringischen Rhön bis nach Hammelburg im bayrischen Teil führt. Die nicht gerade zahlreichen Radfahrer halten hier natürlich nicht an. „Ich gehe trotzdem nicht weg“, sagt die Wirtin kämpferisch. „Wir sind in der 6. Generation hier und irgendwie wird es weitergehen“. Ihre Gaststätte umbenennen, wie der Wirt der Bahnhofskneipe in Gersfeld, die jetzt „Pedale“ heißt, will sie auch nicht. Früher kamen immer die LKW-Fahrer zu ihr und zechten bis spät in die Nacht. Heute freut sie sich, wenn sie mal um 10 ins Bett kommt. Aufmachen tut sie, wenn sie wach ist und nach unten geht.

Als wir uns beeindruckt zeigen von den alten Holzstützen im Kneipenraum, erzählt sie: „Die sind so alt wie das älteste Haus hier, also etwa 600 Jahre, und wir glauben, dass die eine Säule innen hohl und, dass darin etwas versteckt ist.“ Siehe Photo. Sie klopft aufs Holz und es klingt tatsächlich hohl. Am Alter der Stützen haben wir jedoch Zweifel und verstricken uns in kunsthistorische Nebenfachsimpelei.

„Der Sachse“ betrieb hier im Gewerbegebiet zunächst vor dem Supermarkt eine Imbissbude, bevor er in den Stadtkern zog, um das alte „Brotzeitstüble“ zu übernehmen. So gerne würde sie da mal hingehen. Sie sei neugierig. Aber, wenn der dann immer aus seinem Laden schießt, um einen hineinzuzerren – das könne sie nicht ertragen. Da renne sie dann weg. „Der Grieche und seine Frau sollen sich übrigens scheiden lassen“, erfahren wir noch. „Und der Sachse will den Laden dann übernehmen“.

Als wir am Nachmittag beim Sachsen einkehren, sitzt des Griechen Frau am Tresen und erzählt ihm gerade: “ Ich hab heut Nacht von dir geträumt!“ „Und wie wars?“ „Schrecklich!“ „Warum?“ „Ich seh dich doch schon jeden Tag! Und jetzt auch noch nachts. Das ist zu viel. Und dann ist in meinem Traum auch noch das Brotzeitstüble abgebrannt und du hast dabei ein Bein verloren.“ Was das bedeuten könnte, darüber schweigen die beiden sich aus. Wir fragen uns, ob der Sachse wohl bald mehr als nur des Griechen Kneipe übernimmt.

12.

In der Rhön gehören – ähnlich wie im Erzgebirge – Holzschnitzereien zu den beliebtesten Souvenirs aus der Region. Das Foto zeigt eine solche Arbeit, die hier allerdings als „Skulptur im öffentlichen Raum“ fungiert, wobei sie auf die Schnitzschule von Empfertshausen im Hintergrund verweist.

In der nach dem Krieg zunächst verwaisten Rhöner „Kunststation Kleinsassen“ hielt die Kasseler Bildhauerin Christine Ermer im Herbst 2007 einen Vortrag über „Die Geschichte der Holzskulptur“ – von der Frühzeit bis heute. In den letzten Jahren habe allgemein das Interesse am Holz wieder zugenommen, meinte sie. Besonders gelte das für die Mittelgebirgsregion Rhön, wo die Künstlerin einst selbst als Schnitzerin ausgebildet wurde. Dort fanden Ende August zwei internationale Holzbildhauer-Symposien statt. Eins im bayrischen Teil des Mittelgebirges auf der Lichtenburg bei Ostheim nannte sich „7 Tage – 7 Stämme“. Das andere im thüringischen Empfertshausen hatte sich heuer den „Artenschutz“ als Thema vorgenommen. Es wurde – nun schon zum 7. mal – vom „Rhöner Holzbildhauerverein“ ausgerichtet, der mit der „Schnitzschule Empfertshausen“, zusammenarbeitet. Sie ist für dieses Kunsthandwerk die „einzige Ausbildungsstätte in den neuen Bundesländern“. Das andere Symposium – im Westen – organisierte der Bildhauer Jan Polacek, der in den Siebzigerjahren im bayrischen Bischofsheim an der „Berufsfachschule für Holzbildhauer“ ausgebildet wurde.

Die beiden Rhön-Schulen gehören zu den ersten ihrer Art, die seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gegründet wurden, um der Winterbeschäftigung der armen Landbevölkerung in den waldreichen deutschen Mittel- und Hochgebirgen eine Perspektive zu geben. Die Männer hatten bis dahin zumeist Gebrauchsgegenstände wie Löffel, Holzschuhe, Tabakpfeifen und Dreschflegel hergestellt, während die Frauen Hanf, Flachs und Wolle verarbeiteten sowie Stroh verflochten. Beide waren beimVerkauf ihrer Waren auf Hausierer bzw. Großhändler angewiesen – und konkurrierten dabei mit gleichartigen, u.a. in Gefängnissen hergestellten Billigprodukten.

Von der Qualifizierung wenigstens der talentiertesten Jugendlichen erhoffte man sich eine Verbesserung der Lage der Kleinbauern und Knechte in der Rhön. Hüben wie drüben wurden jedoch pro Schuljahr nicht mehr als sechs Schüler aufgenommen. Und auch heute hat z.B. die Bischofsheimer Holzbildhauerschule insgesamt nur 36 Schüler, in Empfertshausen werden derzeit 67 ausgebildet. Während es mit jener langsam bergab geht, so befürchtet man jedenfalls in Bayern, befindet sich die in Thüringen derzeit im Aufwind – nicht zuletzt, weil sie von der Landesregierung stark gefördert wird, die allein in den letzten zehn Jahren mehrere Millionen investierte. In diesem Sommer bearbeiteten dort die Holzbildhauer ihre Stämme zunächst mit Motorsägen, ebenso die Künstler auf der Lichtenburg. In Empfertshausen verweigerte sich jedoch einer dieser neuen Grobtechnik: „Ich bin Schnitzer und kein Waldarbeiter,“ meinte er. Der CSU-Landrat von Rhön-Grabfeld, Thomas Habermann, bat dagegen die anwesenden Künstler in seiner Eröffnungsrede, wenn sie schon ihren dicken Pappelstämmen derart effizient zu Leibe rückten, dann doch bitte auch noch gleich die Bäume um die Burg herum zu kappen, damit man die inzwischen teilrekonstruierte Ruine wieder vom Tal aus sehen könne. Er schlug damit einen kühnen Bogen von den ehedem nützlichen Holzschnitzereien zum eher zweckfreien heutigen Holzkunstwerk. Ob seiner unökologischen Bemerkung wurde er jedoch vom umweltbewußten Teil der Besucher erst mal gescholten. Das Symposium in Empfertshausen lag dagegen bereits mit seinem Thema „Artenschutz“ voll im Öko-Trend. Den Künstlern fielen dazu vor allem Tierplastiken ein. Was die Ost- und die Westrhön eint, ist, dass sie heute ein einziges „Biosphärenreservat“ ist – mit einem eigenen „Management“ und einem anständigen Jahresetat sowie etlichen ABM-Stellen.  Die Tierplastiken haben in der Ostrhön Tradition: Schon zu DDR-Zeiten, da man die Schnitzschule in eine betriebliche Ausbildung überführte, schnitzte man hier eher „Folkloristisches“ als „Religiöses“, was einige im Ort ansässig gewordene Holzbildhauer aber nicht daran hinderte, z.B. Altarfiguren für den Export – bis in den Vatikan – anzufertigen oder auch Krippen en masse. Bill Clinton wurde bei seinem Deutschlandbesuch ein „Rhön-Paulus“ aus der Werkstadt des Empfertshausener Holzschnitzers Manfred Vogel überreicht. Einen Rhön-Bauern mit Ziege, schickte man zur Weltausstellung nach Moskau, und die Partnergemeinde in den alten Bundesländern erhielt eine heilige Elisabeth. Auch in der ortsansässigen Fabrik „VEB Rhönkunst“ wurde für den Export produziert: u.a. Möbelverzierungen und Garderobenständer für Neckermann und Quelle. Der Betrieb wurde 1990 abgewickelt und die Ausbildung wieder verselbständigt, wobei man die Schnitzschule dem Berufsbildungszentrum Bad Salzungen unterstellte.

„Wir versuchen in der Tradition zu bleiben, aber gleichzeitig auch dem Zeitgeschmack gerecht zu werden,“ erklärte uns der jetzige Direktor Hartwig Jörges und fügte hinzu: „Wir legen bei unseren Schülern die handwerklichen Grundlagen, wobei wir uns jedoch von der Weimarer Bauhaus-Idee leiten lassen: Handwerkliches und Künstlerisches zusammen zu bringen,“ obwohl es heute in der Kunst darum gehe, „dass die Idee immer wichtiger wird, also dass man nicht nur ein Abbild haben will“. Manche Schüler besuchen anschließend noch eine Kunsthochschule oder machen ihre Meisterprüfung, andere gehen in die Heilpädagogik oder in die Restaurierung. Einige der Dozenten in Empfertshausen haben Holzdesign studiert. Einer, Steffen Kranz, dessen Symposiumsbeitrag 2004 aus einem Abbild seiner damals hochschwangeren Frau bestand, das heute noch im Dorf steht, meint – zum Problem von Tradition und Zeitgeschmack: „Man kann z.B. keinen barocken St.Florian an ein neues modernes Feuerwehrhaus mehr anbringen“. Um auf neue Ideen zu kommen, organisiert seine Schule u.a. Exkursionen zur documenta nach Kassel.

Die Bischofsheimer Schnitzschule scheint sich dennoch dem westlichen Individualitäts- und Kreativitäts-Begriff eher verpflichtet und auf die Kunst gesetzt zu haben: Spätestens seitdem ihre Schülerzahl in den Sechzigerjahren bis auf sechs gesunken war – und der Landkreis Rhön-Grabfeld den Münchner Bildhauer Philip Mendler zum neuen Direktor bestimmte. Dieser, ein Meisterschüler von Hans Wimmer aus Nürnberg, holte statt talentierter Bauernjungs die ersten „Hippies“ der Region an seine Schule. U.a. kamen sie vom berüchtigten Truppenübungsplatz Wildflecken, wo ihre Mütter z.B. in GI-Gaststätten bzw. -Discos arbeiteten. Das trifft auch auf den Symposiumsorganisator Jan Polacek zu, den der neue Direktor Mendler einst persönlich zu Hause zum Schulbesuch überredete, später setzte Polacek seine Ausbildung an der Nürnberger Kunstakademie fort, seit 1982 ist er freischaffend tätig, seinen Lebensunterhalt verdient er jedoch mit eher handwerklichen Aufträgen. In der Bischofsheimer Schulchronik heißt es heute – rückblickend über die wilde Zeit: „Wegen ihrer unkonventionellen Art zu leben, sich zu kleiden und sich in der Öffentlichkeit zu geben, hatten die Schüler es damals schwer, als ’normale‘ Mieter unterzukommen. Viele zogen es auch vor, außerhalb der Schule, in sog. Wohngemeinschaften zusammen zu sein, was den übrigen Schülerinnen und Schülern für den Kontakt zur Bevölkerung nicht sonderlich förderlich war.“ Die Folgen blieben nicht aus: „im Schuljahr 1976/77 mußten vier Schüler wegen ‚Disziplinlosigkeit‘ und ‚Desinteresse an den Allgemeinfächern‘ wie Fachrechnen, Fachzeichnen und Deutsch sogar die Schule verlassen.“

Nichtsdestotrotz fühlten sich die angehenden Holzbildhauer dort aufgrund ihres „soliden handwerklichen Könnens den Bildhauern aus städtischen Kunstschulen überlegen“, wie Jan Polacek sich erinnert. Kürzlich bewarb er sich als Lehrer an der Bischofsheimer Schule, wo er „was ganz Modernes“ machen wollte. Die Schulbehörde entschied sich jedoch für einen anderen Dozenten, der nun laut Polacek „klassisch – in Richtung Tilman Riemenschneider“ gehen will. Nicht zuletzt aus diesem Grund und Groll veranstaltete Polacek daraufhin das Symposium mit internationaler Künstlerbeteiligung auf der Lichtenburg. Die Schule trat dabei nicht in Erscheinung – und auch nicht der eine oder andere schon lange in oder bei Bischofsheim ansässige Holzschnitzer, von denen nicht wenige sakrale Objekte anfertigen. Ihre Engel- und Madonnen-Skulpturen haben jedoch dem Zeitgeschmack entsprechend heute eher rosige Schlagersänger- als verhärmte Riemenschneider-Gesichter. Der bayrischen Holzbildhauerschule gelang in den Siebzigerjahren zwar der Sprung aus dem regional Handwerklichen in die internationale Skulpturenkunst, aber diese schaffte damals noch weitgehend „aus dem Bauch heraus“, während die jungen Bildhauer heute eher „intellektuell“ bzw. „konzeptionell“ gestimmt sind – und z.B. „Land-Art-Projekte realisieren“  oder mit „Statements“ in bestimmten Situationen/Gegebenheiten „intervenieren“.

Hinter diesem ästhetischen „Provinzproblem“, wie es der Rhöner Lyrikverleger und einstige Waldarbeiter Peter Engstler nennt, steckt jedoch auch ein sozialer Konflikt, der schon dem Nationalökonomen Karl Bücher 1887 – knapp drei Jahrzehnte nach Gründung der Rhöner Schnitzschulen – aufstieß: dass nämlich künstlerisch ambitionierte Schnitzschulen keine große Hilfe für eine Region sind. Es sei falsch, „eine Hausindustrie auf Artikel zu verweisen, deren jeder vielwöchentliche Arbeit und große Auslagen erfordert. Damit gäbe man die Leute erst recht den Verlegern preis und machte sie zu reinen Proletariern“. Bücher plädierte deswegen laut dem Rhön-Volkskundler Wolfgang Brückner für ein „sozialgesetzlich abgesichertes Fabriksystem“.

So weit trauten sich später nicht einmal die Nazis mit ihrem „Dr. Hellmuth-Plan“ – wie das vom dort zuständigen Gauleiter vorgelegte Rhön-Wirtschaftsentwicklungskonzept hieß, das dann vornehmlich aus der Trockenlegung von Mooren, dem Anlegen von Straßen und eines riesigen Truppenübungsplatzes in Wildflecken sowie aus dem Bau eines neuen Gebäudes für die Schnitzschule in Empfertshausen bestand. Erst die DDR beseitigte dann mit dem „Fabriksystem“ die periodische Erwerbslosigkeit, aber auch alle händlerische Spekulation – wenigstens im thüringischen Teil des Mittelgebirges. Büchers Fazit lautete seinerzeit: „Ich würde meinen Zweck für erreicht halten, wenn ich auch nur Weniges zur Verbreitung der Ansicht beigetragen hätte, daß kümmerliche agrarische Verhältnisse durch bloße Einführung von Hausindustrien beseitigen wollen, nichts anderes heißt, als Armut mit Elend vertauschen.“

Heute hat zwar die Bayrische Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) für die wenigen noch übriggebliebenen Rhönbauern u.a. dies wieder quasi ins Programm aufgenommen, indem sie z.B. Bildungsveranstaltungen zum Thema „Mit mehreren Standbeinen die Existenz sichern“ anbietet, worunter man u.a. die Weiterverarbeitung und Direktvermarktung versteht, aber für die in der Rhön ausgebildeten und dort ansässigen Holzschnitzer stellt sich die Existenzfrage sowohl im Westen als auch mittlerweile im Osten gleich viel, ob sie nun Gebrauchsgegenstände, Kinderspielzeug, Schachfiguren, Engel, gediegene bzw. avantgardistische Weltkunst oder – wie im Ersten Weltkrieg – Prothesen produzieren: Sie müssen sich immer wieder an den schwankenden Markt und seine wechselnden Konjunkturen anpassen und hadern dabei mit den Verlegern, Groß- und Kleinhändlern, Galeristen etc..

Der Herr hinter mir, Vassilis Noussis, hat 22 Jahre als Gastarbeiter bei Siemens in der Rhön gearbeitet. Sie können ihm Ihre Fragen stellen, er spricht Deutsch.

13.

Die West-Rhön, die in den Fünfzigerjahren höchstens von reichen Jägern aus Frankfurt aufgesucht wurde, entwickelte sich mit dem „Wirtschaftswunder“ bis in die Achtzigerjahre zum Feriengebiet für vorwiegend einkommensschwache Familien. Dann zogen jedoch nicht nur die Amerikaner aus dem „Fulda Gap“ ab und die Zonenrandgebietsförderung wurde gestrichen, es blieben daneben auch immer mehr Touristen weg – viele Läden und Restaurants machten dicht. Erst jetzt – etwa zeitgleich mit der Anerkennung der Rhön als Biosphärenreservat – stellt sich langsam ein neuer Touristentypus dort ein: der betagte „Nordic Walker“, der Wellness-Kurse und Wohlfühl-Abende auf Bio-Bauernhöfen besucht, und gleichzeitig Tütensuppen sowie Mikrowellengerichte verschmäht – ebenso „handmade“ Holzkitsch-Souvenirs. Dafür achtet er mehr und mehr auf das „Qualitätssiegel des Biosphärenreservats“, das unter dem Dach der nunmehrigen „Marke Rhön“ entwickelt wurde, womit der ganzen Region eine neue „Identität“ verpaßt werden soll – erst einmal jedoch jede Menge Farbprospekte und Veranstaltungsleporellos. In ihnen werden Zweiwochen-Holzschnitzkurse, Filzwerkstätten für Fortgeschrittene und Spinnstubenabende angeboten, daneben kann man lernen, mit Weiden zu flechten und Strohschuhe selber zu machen. In diesem Sommer schienen die Touristen sich u.a. für die beiden Bildhauer-Symposien zu interessieren, die dann auch sehr gut besucht waren. Die Künstler auf dem Hof der Lichtenburg oberhalb von Ostheim präsentierten am Ende ihres Kettensägenmassakers ein Menschenpaar sowie eine florale, eine geometrische und eine in Holz und Blei gefaßte Form. Auch der Veranstalter Jan Polacek hatte sich dort für etwas „Unfigürliches“ entschieden. In Empfertshausen bestanden dagegen die Ergebnisse alle aus mehr oder weniger „realistischen Abbildungen“. Im Ort gibt es noch ein Holzschnitzer-Museum, und viele ältere Arbeiten stehen – ebenso wie in Bischofsheim – im Ort herum, mitunter haben sie einen direkten Bezug zur Umgebung – z.B. ein „Wartender“ an einer Bushaltestelle, ein „Mantel“ vor einem Bekleidungsgeschäft und „der Tod“ vorm Friedhof.

Die Holzkunst beschränkt sich in der Rhön nicht nur auf die zwei Schnitzschulen in Ost und West. Es gibt da auch noch – nicht weit von Bischofsheim – das Dorf Langenleiten, wo der Bildhauer und Ortschronist Herbert Holzheimer eine Werkstatt nebst Galerie hat. Sein Hof gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Region. Heolzheimers Verkaufsschlager sind Krippen in Winterlandschaften, aber auch lebensgroße Figuren von Rhönern, die inzwischen von vielen Gemeinden ringsum gekauft und an markanten Plätzen aufgestellt werden. Daneben gibt es in seinem Dorf noch vier weitere Holzbildhauer sowie Schreiner, Drechsler, ein Sägewerk, einen Holzhändler und eine Fräserei, in der an computergesteuerten Maschinen Rohlinge – von Alphörnern bis zu Madonnen – hergestellt werden, die die Bildhauer dann nur noch nachbearbeiten müssen. Im Nachbardorf Sandberg lebten einst sogar 60 Holzschnitzer – in beinahe jedem zweiten Haus gab es einen. Sie stellten vornehmlich – meist im Nebenerwerb – Tierplastiken her. Ihre Spezialität waren weiße Natura-Holzpferde, die sich sehr gut verkauften, was einen Fabrikanten bewog, dort ab 1900 eine Schnitzschule als Ausbildungsbetrieb zu eröffnen. Sie bestand bis 1912. Zuletzt vermarkteten die Sandberger ihre Tierplastiken als Massenware direkt – als Souvenirs an die Amerikaner auf dem nahen Truppenübungsplatz Wildflecken. Spätestens als diese 1994 abzogen, mußten sie sich jedoch umorientieren: Heute leben im Ort weitaus mehr Musiker als Holzschnitzer. Auch die Bildhauer in anderen Rhön-Dörfern spezialisierten sich mit der Zeit: So war z.B. das oben bereits erwähnte Ostheim bekannt für seine Nickfiguren, Kaltennordheim für seine Kasperpuppen sowie Rhönpärchen, Weisbach mit dem Nachbardorf Oberelsbach für ihre bunten Fastnachtsmasken. Auf dem Simonshof in Bastheim, wo erst die Kirche, dann die Obrigkeit und nun die Caritas ein Altersheim sowie ein Heim für Obdachlose betreibt, wird sehr schönes, aber auch teures Holzspielzeug hergestellt, das man u.a. in Nürnberg verkauft. Im Ostheimer Schloß ist heute ein Orgelmuseum untergebracht: „Die Kunst des Orgelbaus ist seit dem 17.Jahrhundert in Ostheim/Rhön beheimatet“, heißt es dazu im Katalog. Und in Oberelsbach, wie auch in Ruhla in der Ostrhön, gibt es ein Tabakpfeifenmuseum – denn „mit den Pfeifen fing alles an“, wie man im Heimatmuseum von Kaltennordheim meint, wobei unklar bleibt, ob damit die Schnitzkunst in der Region oder die Exponatsammlung des Museums gemeint ist.

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In Empfertshausen, wo sich die thüringische Schnitzschule befindet, sind die Straßenschilder aus Holz geschnitzt, zum Beispiel das der Karl-Marx-Strasse, dem man allerdings nach der Wende den geschnitzten Karl Marx-Kopf entwendete. Im Ort und drumherum bezeichnete man zu DDR-Zeiten die Schnitzer als „Holzwürmer“. In der Westrhön nennt man sie gerne „Holzmichel“. In Tann gibt es einen Volksmusiker namens Holzmichel, außerdem noch einen Baron Ludwig von der Tann, der „Rhöner Geschichten“ erzählt und  gerne das „Lied vom Holzmichel“ anstimmt, das man auch auf dem Rauchhausfest in Kirschberg singt, ebenso schmettern es die Teilnehmer an den „Rhöner Wanderwochen“. Auf der Rhöner Familienferienstätte „Michaelshof“ stellen die Kinder alljährlich den Holzmichel pantomimisch dar. Außerdem werden hier ungewöhnlich viele Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren Holzmichel genannt. Berühmt wurde das Lied jedoch vor allem durch das Trio „De Randfichten“ aus dem Erzgebirge, wo es ebenfalls viele Holzschnitzer gibt. Wikipedia behauptet: den größten Erfolg ihrer Kariere schafften die drei Musiker von „De Randfichten“ 2004 mit ihrer Single „Lebt denn der alte Holzmichel noch?“, die Platz drei der deutschen Single-Charts erklomm.

Über die Herkunft des „Holzmichel-Liedes“ heißt es dort: Holzmichel ist der volkstümliche Spitzname von Michael Gottschaldt, einem Hammerherrn des 17. Jahrhunderts im Westerzgebirge. Das Lied ist jedoch ein altes Volkslied, das in verschiedenen Textfassungen in vielen Teilen Deutschlands verbreitet ist. Das Charakteristische an dem Lied ist, dass die Zuhörer bei der Textzeile „Ja, er lebt noch“ beide Arme in die Luft reißen. Dadurch gewinnt es seinen Charakter als Stimmungslied, dem es zu einem großen Teil seinen Erfolg auch außerhalb des üblichen Volksmusikpublikums verdankt. Im Winter 2003/04 wurde es auf zahlreichen Wintersportveranstaltungen wie der Biathlon-Weltmeisterschaft in Oberhof gespielt und erlangte dadurch auch überregionale Bekanntheit. Mit dem „Holzmichel“ erreichten De Randfichten auch ein Publikum außerhalb der Volksmusikszene. Unter anderem traten sie als erste volkstümliche Musikgruppe in Sendungen wie „Top of the Pops“ auf.

Die Popularität von De Randfichten und insbesondere des Holzmichel zeigt sich auch im Verkauf von T-Shirts und Aufklebern mit der Aufschrift „Tötet den Holzmichel“ durch einen Chemnitzer Unternehmer, was  diesem allerdings von De Randfichten (in einem für die Band jedoch peinlich ausgegangenem Prozess) gerichtlich verboten wurde. Außerdem in der Parodie einer Formation namens „De Randgruppe“ mit dem Titel „Holzmichel – die Antwort“, die im Dezember 2004 ebenfalls in die Charts gelangte. Die „De Randfichten“ selbst konnten erfolgreich Merchandising-Artikel vermarkten, allen voran das in Seiffen/Erzgeb. hergestellte Holzmichel-Räuchermännchen. Schließlich widmete sich auch noch die Gruppe Rammstein, Nachfolgerin der DDR-Punkband „Feeling B“, dem Lied. Zwischen diesen Bands und ihren Fans geht seitdem der Streit über die gelungenste Interpretation hin und her. Er wurde auch nicht damit beendet, dass beide – „De Randfichten“ und „Rammstein“ – mit einem Musikpreis bedacht wurden.

15.

Wir photographierten die Teilnehmer am Bildhauersymposium 2007 auf der Lichtenburg oberhalb von bayrisch Ostheim. Während der siebentägigen Veranstaltung waren die Bildhauer im besten und teuersten Hotel am Platz untergebracht. Ihre Plastiken wurden anschließend im Kurpark von Ostheim aufgestellt. Im thüringischen Empfertshausen hingegen mußten die Veranstalter in diesem Jahr sparen, da ihnen das Biosphärenreservat den Zuschuss gestrichen hatte. Dafür durften die Bildhauer anschließend ihre Werke mit nach Hause nehmen.

Die ehemals großherzogliche Exklave Ostheim wurde 1920 dem neugeschaffenen Land Thüringen zugeschlagen und gehörte dann bis 1945 – nach einigem Gauleiter-Hinundher, den man als „Frosch-Mäuse-Krieg“ bezeichnete – zum Kreis Meiningen. Es war deshalb reicher als die umliegenden kleinen bayrischen Orte. Und nach 1945 blieb es reich, weil es gemäß eines Abkommens zwischen den Amerikanern und den Russen vom kommunistischen Thüringen abgetrennt und dem christlich-sozialen Bayern zugeschlagen wurde, wo es dazu noch in den Genuß der Zonenrandgebietsförderung kam. Noch größeren Luxus als Ostheim bietet heute nur Bad Kissingen.

16.

In der Verkaufsgalerie des Holzbildhauers Herbert Holzheimer gehören drei fast lebensgroße Jungs zu den Rennern. Man nennt diese Gruppenplastik „Rhönbuben“. So heißt auch eine „Stimmungsband“ aus Hünfeld-Burghaun bei Fulda sowie eine ebensolche aus Eichenzell. Die erste ist ein Duo, die zweite ein Trio. Ihre Spielplätze sind Dorffeste, Vereinsfeiern, Skilanglaufveranstaltungen und Hochzeiten, außerdem werden sie noch gelegentlich von Ausflugsgaststätten gebucht.

Das Wort „Spielplätze“ bzw. „Abenteuerspielplätze“ taucht auch im Vokabular von Studien über den ländlichen Raum und seine Entwicklung auf. Hier oft in Verbindung mit „Panoramafenstern“, „Vorgärten“, „Car-Ports“ und  „gepflegten  Rasenflächen“… Um nur einige der „Errungenschaften“ zu nennen, die von Teilen der  „gehobenen städtischen Mittelschicht“ in der Rhön eingeführt wurden, als sie dorthin „aufs Land“ zogen. Inzwischen werden diese Dinge auch von den Einheimischen geschätzt – und angeschafft. Darüber rümpfen die heute aufs Land ziehenden Städter jedoch meist die Nase. Das ist für sie mittlerweile alles spießig und paßt nicht in die Gegend. Sie versuchen jetzt eher, alles so zu rekonstruieren, wie es früher einmal war – wenigstens ihrer Vorstellung nach.

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Im Tagungshotel „Sonnentau“ bei Fladungen traf sich einmal und nie wieder eine Auswahl von Siemens-Managern zu einem Brainstorming. Das ganze Wochenende über schimpften sie, dass man sie ausgerechnet in einem „Funkloch“ einquartiert hatte: „So kann man doch nicht vernünftig arbeiten!“ Auch jetzt gibt es noch einige Funklöcher in der Rhön – z.B. zwischen Weisbach und Ginolfs und in Oberwaldbehrungen. Und darüber ärgert sich z.B die Wanderschäferin Bärbel Köhler, der ansonsten ihr Leben durch das Handy sehr erleichtert wurde, wie sie sagt, denn damit könne sie sich nun bereits von unterwegs mit ihren Kindern und ihrem Mann kurzschließen. Im Info-Center des Biosphärenreservats steht ein „Cut-Out“ einer Schäferin, es zeigt allerdings nicht Bärbel Köhler. Es ist zusammen mit einem Heuballen und einem ausgestopften Rhönschaf Teil einer Installation.

Neben sozusagen realen Funklöchern gibt es in der Rhön auch metaphysische. Unter einem solchen litt einst der Einsidler Gangolf. Der Franzose war  Ritter am Hof von Pippin dem Jüngeren gewesen. Nachdem er zum Christentum übergetreten und immer strenggläubiger geworden war, betrog ihn seine heidnisch gebliebene Ehefrau. Gangolf zog sich daraufhin enttäuscht in die Rhön zurück – wo er in der Einsamkeit als Eremit eine Verbindung zu Gott suchte. Noch bevor ihm dies gelang, machte ihn jedoch seine Frau ausfindig – und ließ ihn ermorden.

1139 wurde er von Sturmius, dem ersten Abt des Klosters Fulda, heilig gesprochen. Die norddeutsche Nonne Roswitha von Gandersheim hatte zuvor bereits diese Ehetragödie zu einem  Epos verarbeitet. In der Rhön bat man lange Zeit den Heiligen Gangolf um Beistand, wenn man zu Recht oder zu Unrecht an der Treue seines Partners zweifelte. Aber dann setzte sich langsam das betriebswirtschaftliche Denken durch – und seitdem bitten vor allem die Schäfer den Heiligen Gangolf, er möge ihre Herden schützen und mehren.

Neben der Kommunikationssicherheit gibt es auch noch die  Urlaubssicherheit: Der Schutz vor Entführungen, Überfällen, Betrügereien und sonstigen unangenehmen Überraschungen spielt im Tourismus weltweit eine immer größere Rolle – speziell in der Rhön jedoch so gut wie gar keine. Dennoch stießen wir dort – an der Theke des türkischen „Marlin-Grills“ in Ostheim – einmal auf einen Gewohnheitsverbrecher – namens Idefix. Er wollte, dass wir aus seiner Lebensgeschichte ein Buch machen, und versprach uns, dass es ein voller Erfolg werden würde.

Seine Eltern waren Zugereiste aus Norddeutschland, die die Liebe in der Rhön seßhaft werden ließ. Idefix bekam dort noch vier Brüder und ebensoviele Schwestern. Um diese kümmerte sich seine Mutter, um die fünf Söhne der Vater. Das hieß für sie, die später alle im Knast landeten, schon von klein auf an: Ziegen füttern, Gras mähen und melken, Ställe ausmisten usw.. Dazu gab es oft Schläge. Selbst in den Sommerferien durfte Idefix nicht in der Streu baden, die durch Ostheim fließt. Mit sechs riß er das erste Mal von zu Hause aus – und schlug sich mit kleineren Diebstählen durch. Nach einer Woche fing ihn jedoch die Polizei ein und brachte ihn zu seinen Eltern zurück. Aber er haute immer wieder ab – aus Heimen, geschlossenen Anstalten und Gefängnissen. Im Darmstädter Knast gaben die Wärter Ide – so heißt er in Wirklichkeit – wegen seiner vielen Fluchten den Namen Idefix. Er nennt sich inzwischen selber so. Einmal tauchte sein Tarnname sogar im Fernsehen auf – in der Sendung „Aktenzeichen XY“ von Eduard Zimmermann“, mit deren Hilfe nach ihm gefahndet wurde.

Idefix hat in seinem Leben schon viel Scheiße gebaut, wie er sagt. So war er z.B. einmal Rädelsführer bei einer Gruppenvergewaltigung eines Gefangenen im Nürnberger Knast. Das hält er rückblickend für sein schlimmstes Vergehen. Aber jetzt will er ein ruhiges Leben führen und ist deswegen zurück nach Ostheim gezogen – von wo aus er einst floh. Seit einem Jahr hat er eine Stelle als Umbauer bei Lidl. Dabei muß er nachts arbeiten und kommt viel herum.

Man sagt, dass viele jugendliche Kriminelle durch Gewaltspiele im Internet zu ihren bösen Taten motiviert wurden – bei Idefix war es genau umgekehrt: Seitdem er sich vom Verbrechen verabschiedet hat, beteiligt er sich u.a. im „Monsters Game“ an der „Schlacht zwischen Vampiren und Werwölfen“. Um dabei mitspielen zu können, muß man eine sogenannte Identität annehmen. Seine lautet dort: „Wächteramt: Zerberus/ Wächtername: Idefix – männlich, zwischen 31 und 40 Jahre alt, in der Hoch-Rhön lebend.“

Ich zeig Ihnen gleich unsere besten Exponate, die stehen vorne im Schauraum.

18.

Wildflecken hat sich vom Ende des Kalten Krieges und der Truppenreduzierung auf dem Übungsplatz noch nicht wieder erholt, wie man so sagt. Zudem fiel auch hier die Zonenrandgebietsförderung nach der Wende weg und dazu wurde der Bahnhof stillgelegt. Viele Leute zogen woanders hin, in die ehemaligen amerikanischen Offiziersquartiere quartierte man Spätheimkehrer aus Sibirien und Kasachstan ein, daneben sind inzwischen auch noch einige Polen und Ostdeutsche in das „Kleinzentrum“ gezogen, wie man die Gemeinde offiziell nennt. Wegen der vielen neuen „Russen“ gibt es im sechs Kilometer entfernten Bischofsheim eine russisch-orthodoxe Kirche, die gerade ihre Kuppel neu vergolden ließ. Die Kirche wurde früher von einer griechisch-orthodoxen Gemeinde genutzt. Diese bestand mehrheitlich aus griechischen Gastarbeitern, die in Bad Neustadt im Siemens-Staubsaugerwerk beschäftigt waren. Nach einigen Umpositionierungen und Entlassungswellen – heute werden dort Antriebsaggregate hergestellt – kehrten sie nach und nach in ihre Heimat zurück. Bis auf einen, der wie erwähnt eine Rhönerin heiratete, die einen Gasthof besaß, aus dem danach ein griechisches Restaurant wurde. Die orthodoxe Kirche in Bischofsheim ist inzwischen nicht mehr dem Patriarchen von Athen, sondern dem von Moskau unterstellt. Und der griechische Restaurantbesitzer ist nicht mehr gläubig.

Wildflecken hat mittlerweile seine eigene kleine russisch-orthodoxe Gemeinde. Zusammen mit den Ortsteilen Oberbach und Oberwildflecken leben dort heute 3245 Menschen. Im Rahmen des Förderprogramms „Stadtumbau West“ wurde Wildflecken als Modellprojekt ausgewählt. Das hatte u.a. zur Folge, das der große Omnisbusparkplatz vor dem Rathaus für 1,4 Millionen Euro zu einem „Kommunikations- und Eventplatz“ ausgebaut wurde – zu einem echten „Hotspot“. Im Winter kann man dort nun Schlittschuhlaufen und im Internet Tag und Nacht über zwei Webcams einen Blick auf den mehrfarbig illuminierten, jedoch meist menschenleeren Platz werfen. So etwas haben heute viele „shrinking cities“, das Besondere an den Wildflecken-Webcams ist, dass man sie von seinem PC aus steuern und so den ganzen Platz ins Visier nehmen kann. Das tun anscheinend auch viele einstmals dort stationierte GIs und Bundeswehrsoldaten. Anschließend schreiben sie dem Kleinzentrum ins Gästebuch: „For three years I was in Wiltflecken, it was a very good time!! Michael Beasley“.

Und: „Hallo ich bin nun schon 13 Jahre hier in Tacoma. Ich vermisse die guten Zeiten in Wildflecken. Auch würde ich ja so gerne von Kangoroo, Petra, Ute, Susi, Batzi und anderen hören. Leider habe ich eure Adresse nicht mehr, hoffe aber, dass jemand mir schreibt. Alles Liebe von Josie Wetch.“

Oder: „War ne zeitlang in Wildflecken stationiert, 5./102 Die geilsten 5 Jahre meiner Dienstzeit! Mike Calibra“.

Auch Wanderer bzw. Kurzurlauber schicken gelegentlich eine Mail – z.B. Janina:

„Hi, Wildflecken ist supi dupi.“ oder „Hallo Wildfleckener! Bin seit meinem ersten Besuch in Eurem wunderbaren Nest der Gegend verfallen und plane einen Umzug zu Euch. Suche also eine Wohnung! Da mein Mann querschnittsgelähmt ist und wir zwei Kinder haben sollte es eine Erdgeschoßwohnung sein und 4-5 Zimmer haben. Gruß aus dem Ruhrgebiet. Beate Wittrock“.

Eine andere Frau, Tina Thiel aus Hamburg, schrieb: „Hallo Wildfleckener! Mein Vater wurde während der Kriegswirren in Wildflecken geboren und danach adoptiert. Nun suchen wir verzweifelt nach Menschen, die mit dem Namen ‚Steinguel‘ oder ‚Moll‘ etwas anfangen können. Vielleicht macht es Sinn mal bei den älteren Verwandten nachzufragen. Bin wirklich für jeden klitzekleinen Hinweis dankbar. Viele Grüße“.

Die ortsansässige Militärhistorikerin Christa Jäckel schreibt in der „Rhönwacht“, dem Organ des Rhönklubs – einem länderübergreifender Heimat- und Wanderverein in Bayern, Hessen und Thüringen, der 1876 in Gersfeld gegründet wurde: „Der Truppenübungsplatz Wildflecken ist nicht nur einer der schönsten und formenreichsten Landschaften der Rhön, sondern auch wirtschafts- und kulturgeschichtlich interessant. Das Landschaftsbild wird vom Basaltmassiv des Dammerfeldes beherrscht. In seiner Umgebung ragen aus dem roten Untergrund des Buntsandsteins rundbuckelige Kuppen hervor, die daran erinnern, dass hier einstmals Braunkohle abgebaut wurde. Teils sind die Durchbruchstellen mit einer Basaltdecke überzogen, teils sind die Kuppen noch die Stielkegel dieser Druchbrüche wie die Dalherdaer Kuppe, der Dreifeldspitz, die Ottersteine, der Steinküppel bei Altglashütten, der Pilster bei Kothen und viele andere. In einem von ihnen scheint man noch den ehemaligen Krater zu erkennen, nämlich den Rabenstein, dessen beide Gipfel man als die Reste des ehemaligen Kraterrandes, der Somma, deuten kann. Der Grund des Gebirges besteht aus Buntsandstein, der durch die Verwitterung einen zwar leichten, aber für die Buchenwälder idealen Boden bildet. Man nannte diesen Dammersfeldzug auch die ,Waldrhön‘. Die Menschen, die hier lebten, waren gläubig, zufrieden und ihrer Heimat sehr verbunden. Es waren echte Rhöner, die Schicksalsschläge sowie die Launen der Natur hinnahmen, aber immer weiter kämpften. Dies sollte sich durch die Errichtung des Truppenübungsplatzes Wildflecken ändern.“

Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1937 benötigte das Oberkommando des deutschen Heeres neue Truppenübungsplätze. Es entschied sich, neben dem in Ohrtruf noch einen zweiten in der Rhön zu einzurichten. Der Bau wurde in den Wirtschaftsentwicklungs-Plan des für die Region verantwortlichen Gauleiters Dr. Hellmuth integriert, der zur Verbesserung der Lage der armen Mittelgebirgsbewohner u. a. den Bau von Straßen und Brücken sowie die Trockenlegung von Mooren und die Entsteinung der Wiesen und Äcker vorsah. Das wuchtige Portal des Arbeitsdienstlagers „Schwarzes Moor“ an der Hochrhönstraße zeugt noch heute vom „Hellmuth-Plan“. Die Reste des Moors gehören jetzt zu den Natursehenswürdigkeiten der Region – und wurden deswegen kürzlich mit einem Aussichtsturm sowie mit einem Restaurant nebst Infocenter flankiert.

Auf dem 7000 Hektar großen Gelände des zukünftigen Truppenübungsplatzes Wildflecken befanden sich elf Dörfer. Diese wurden geräumt und ihre insgesamt 2662 Bewohner umgesiedelt. Sie bekamen jedoch laut Christa Jäckel „großzügige Abfindungen“. Dann ließ man Baracken für die Bauarbeiter errichten. Zeitweilig arbeiteten und lebten 9000 Hand- und 60 Kopfarbeiter in Wildflecken. Vom zentralen Omnisbusbahnhof wurden sie täglich mit 120 Bussen zu den einzelnen Großbaustellen gebracht. Gauleiter Dr. Hellmuth ließ ziehende Wandergesellen, die durch Unterfranken kamen, für den Bau des Truppenübungsplatzes zwangsverpflichten. Es mußte schnell gehen: das Heer wollte bereits 1938 mit dem Übungsschießen beginnen. Auf dieser „größten Baustelle Deutschlands“ wurde im Schichtbetrieb gearbeitet, im Winter spannte man Zelte über die einzelnen Baustellen und installierte darunter Heizgeräte, um auch bei stärkstem Frost weiter mauern und Fundamente gießen zu können. So entstanden 30 Schießbahnen und 20 Zielfelder, insgesamt waren 560 Häuser geplant, eins, das Offizierskasino, geriet geradezu schloßähnlich. Heute verfällt es langsam. Aus Tarnungsgründen wurden so viele Bäume wie möglich stehen gelassen und sogar noch neue gepflanzt. In den Großen Auersberg baute man ein unterirdisches Munitionslager mit einer LKW-Zufahrt und in Oberwildflecken eine Munitionsfertigungs-anstalt (MUNA). Hier unterhält die Bundeswehr heute ihr „Bekleidungszentrum Süd“ – mit Zivilisten. Die Kosten der damaligen Baumaßnahmen beliefen sich auf etwa 3,5 Millionen Reichsmark. Schon im April 1938 begann der Übungsbetrieb. Der Ausbau des Platzes ging jedoch weiter. Ab Ende 1941 wurden immer mehr Arbeiter durch russische Kriegsgefangene ersetzt. Sie mußten Bäume fällen und Straßen anlegen, u.a. den „Kolonnenweg“ rund um das Übungsgelände. Viele starben an Unterernährung und Entkräftung. Man begrub sie auf dem so genannten „Russenfriedhof“ – zwischen Reußendorf und dem Großen Auersberg. Dieser „Friedhof“ existiert nicht mehr, wohl aber ein „Polenfriedhof“, der heute Teil eines mit zehn antimilitaristischen Gedenksteinen markierten „Kreuzwegs der Nationen“ ist, welcher sinnigerweise am Zaun der „Rhönkaserne“ endet, hinter dem sich jetzt u.a. ein „Gefechtssimulationszentrum“ der NATO befindet.

Nachdem die Amerikaner Anfang April 1945 das Lager Wildflecken eingenommen hatten, konzentrierten sie dort zunächst ca. 25.000 polnische Fremdarbeiter und Heimatvertriebene. Sie wurden bald von der UN-Hilfsorganisation für Displaced Persons UNRA betreut. Leiterin des DP-Lagerkrankenhauses war zeitweilig die amerikanische Nonne – Marie-Louise Habet, die später ein Buch über ihr Leben veröffentlichte, das 1959 mit Audrey Hepburn in der Hauptrolle verfilmt wurde – als „A Nun’s Story“. Etwa zur gleichen Zeit erschien auch noch ein Buch der US-Schriftstellerin Kathryn Hulme über DP-Lager – mit dem Titel „A Wild Place“. Diesem Namen wurde Wildflecken ab den Sechzigerjahren erneut gerecht, nachdem man dort rund 10.000 amerikanische und deutsche Soldaten stationiert und mehr als 20 Bars und Bordelle eröffnet hatte. Fast täglich kam es nun im Ort zu Massenschlägereien. Bei den oftmals unterlegenen Bundeswehrsoldaten hieß es bald: „Lieber den Hintern voll Zecken als ein Tag in Wildflecken“. Für die Amerikaner, die oben auf dem Berg eine Radaranlage installiert hatten, gab es eine eigene Zeitung, den „Tophill Herald – The Best Kept Secret“, und zwei Ableger von US-Universitäten sowie eine Kirche, aus der dann eine Bankfiliale wurde. In ihren Räumen befindet sich heute eine kuriose „Militärhistorische Sammlung“, die ein Ex-Feldwebel der Bundeswehr, Adolf Kreuzpaintner, einrichtete und auch weiterhin betreut. Sie beeindruckt weniger durch ihre Exponate als wegen der Begeisterung, mit der Adolf Kreuzpaintner durch die Ausstellungsräume führt. Jedes Objekt ist x-mal durch seine Hände und sein Hirn gegangen – und wird nun mit politisch unkorrekter Freimütigkeit erklärt.

Die Amerikaner blieben bis 1994 in Wildflecken, seit 1951 nutzten sie auch wieder den Übungsplatz. Er lag nahe an der Zonengrenze und war im NATO-Verteidigungsplan als „Ground Zero“ ausgewiesen, der wiederum Teil des „Fulda Gaps“ war, wo „der thüringische Balkon an die hessische Taille grenzt“ und man deswegen einen Angriff der Roten Armee für am wahrscheinlichsten hielt. Aus diesem Grund wurden hier dann auch Atomminen gelagert und Giftgaslager angelegt. Die davon betroffenen Gemeinden bekamen zum Ausgleich für diese Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität üppige Dorfgemeinschaftshäuser und/oder Schwimmbäder finanziert. Außerdem zeigte sich das Ausgleichsamt für Manöverschäden niemals kleinlich. Zur weiteren Abwehr eines möglichen sowjetischen Angriffs wurden in die Straßen östlich von Fulda jede Menge Sprengschächte eingelassen. Für die Lagerung der Sprengladungen errichtete man eine Reihe so genannter „Sperrmittelhäuser“. Zur Bedienung und Wartung der Sprengschächte, die wie Gullys aussahen, waren „Wallmeister“ der Bundeswehr zuständig, die zu einer Pioniereinheit gehörten und in Zivil unterwegs waren. Auf der anderen Seite der ehemaligen DDR-Grenze korrespondiert heute der ein Kilometer lange bayrische „Kreuzweg der Nationen“ in Wildflecken mit einem vierzig Kilometer langen „Friedensweg“, der vom thüringischen Grenzübergang Henneberg bis in die Hohe Rhön führt. Er ist ausführlich beschildert. Auch hier wurden entlang der Grenze aus militärischen Gründen mehrere Ortschaften „gewüstet“. Und ebenso wie es nun in Wildflecken eine Militärhistorische Sammlung gibt, hat man auch am Friedensweg – auf der Hohen Geba – ein kleines Militärmuseum eingerichtet. Es heißt „Drushba“, weil dort die Rote Armee dreißig Jahre lang ein Übungsgelände nebst einer Radarstation unterhielt. Von 1961 bis zu ihrem Abzug im April 1991 war die grenznahe Hohe Geba Sperrgebiet. Zunächst beanspruchte das sowjetische Militär auch das nahegelegene Jagdschloß Hermannsfeld, später überließ sie es jedoch der NVA und den DDR-Grenztruppen. Nachdem 1997 die „Einheitsgemeinde Rhönblick“ geschaffen worden war, die nun Eigentümerin des Schlosses ist, wurde dieses mit EU-Mitteln renoviert. Anschließend betrieb ein Frauenprojekt in einem Teil der Räume ein Café und eine Infostelle des Biosphärenreservats. Seit 2003 befindet sich dort ein Restaurant mit „Rhöner Naturküche“. Die beiden Militärmuseen hüben und drüben sind derzeit noch im Ausbau befindlich – sie tendieren dazu, sich thematisch zu überlappen: So plant in Wildflecken Adolf Kreuzpaintner z.B. als nächstes eine NVA-Abteilung.

Vielleicht sind das aber alles bloß Übergangslösungen. So wie der Apollo-Grill von Enver Umur, denn eigentlich würde er gerne wieder zurück nach Dyabakir gehen und Banker werden. Auch von den Rußlanddeutschen sind etliche inzwischen schon wieder nach Sibirien bzw. Kasachstan zurückgezogen.

19.

Thomas Mann wurde 1924 von Gerhart Hauptmann auf die Ostsee-Insel Hiddensee eingeladen. Weil ihm jedoch im Hotel „Haus am Meer“ in Vitte, wo die beiden untergekommen waren, stets ein bescheideneres Essen als Hauptmann serviert wurde, reiste er wütend wieder ab. Später rächte er sich in einem seiner Romane, in dem er sich über Hauptmanns Unfähigkeit zur freien Rede lustig machte. Und noch später ließ er sich mit seinem neuen PKW stolz vor Goethes Gartenhaus in Weimar photographieren. Das war 1949, als er auf Einladung der DDR an den Feierlichkeiten anläßlich Goethes 200. Geburtstag teilnahm. Untergebracht waren die Manns im vornehmen Weimarer Hotel Elefant, wo ihnen das Essen allerdings auch nicht schmeckte, obwohl sich die Regierung alle Mühe gab, denn man wollte Thomas Mann zur Übersiedlung von Zürich in die DDR bewegen. Im Sommer 2007 stellten wir die Szene vor dem kleinen Goethemuseum in Kaltensundheim mit unserem Mietwagen nach.

Die dortige „Goethe-Ausstellung“ wurde vom Wirt des dazugehörigen Gasthofs „Zur guten  Quelle“ sowie vom Geschichtsverein Kaltennordheim zusammengestellt. Und das äußerst liebevoll. Goethe übernachtete dort 1780, um Meliorationsarbeiten zu inspizieren. Später kam er noch einmal nach Kaltennordheim, um Soldaten auszuheben. In Begleitung des Herzogs Karl August besuchte er außerdem noch Ostheim und Zillbach. All diese Siedlungen bezeichnete er hernach als „leidige Orte und böse Nester“. Der Dichter war damals als Geheimer Rat Mitglied der obersten Regierungsbehörde des Landes und leitete außerdem die Kriegskommission, die Wegekommission und die Bergwerksdirektion.

Weitaus besser gefiel es dem jungen Dichter Friedrich Schiller in der Rhön. Er hatte sich 1782 unter falschem Namen auf dem Landgut der Frau von Wolzogen bei Bauerbach einquartiert, wo er sein dramatisches Gedicht  „Don Karlos“ sowie „Kabale und Liebe“ schrieb. In Bauerbach erinnert heute noch ein „Schillerhäuschen“ an seinen Aufenthalt dort.

Der Wirt der „guten  Quelle“ in Kaltensundheim bietet seit neuestem vorwiegend Produkte aus der Rhön an, dazu gehört auch der nach dem Krieg als „Rhöndiesel“ verschrieene Schnaps, der nichtsdestotrotz bis in die Wetterau als Währungsersatz akezeptiert wurde, und der heute ein gediegener Obstler ist, den man in einigen Rhöngasthöfen selbst brennt. Daneben gibt es in der Region noch etliche kleine Bierbrauereien, in Ostheim sogar zwei – je eine an den zwei Ortsausgängen: Die Streck-Bräu e.K. und die Peter Brauerei. Letztere war die ewig unterlegene, sogar ihren Tanzschuppen mußten sie irgendwann aufgeben, aber dann erfand ihr Braumeister die „Bionade“ – und seitdem hat die Streck-Bräu e.K. das Nachsehen.

Ich habe ihm nur die Nüsse gezeigt – und schon sprang es mir auf die Hand.

20.

Wir machten ein relativ belangloses Photo vom „Nato-Shop“ in Wildflecken – ein „Bekleidungs-“ und „Geschenke“-Laden, aber eigentlich werden dort Uniformen und Waffen verkauft. Der „Nato-Shop“ ist einer der vielen unsicheren aber doch mutigen Existenzgründungen in dieser Umbruchszeit, die auch die Rhön erfaßt hat. Spätestens seitdem das „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 16“ – die neue Autobahn A 71 von Erfurt nach Schweinfurt, die durch die Rhön führt – eingeweiht wurde. „Sie hilft enorm,“ meinte der Landrat des Kreises Rhön-Grabfeld, Thomas Habermann, „zunächst einmal psychologisch: Wir leben jetzt an einem Hauptgefäß, nicht mehr an der Peripherie.“

Die Soziologin  Eva Illouz schrieb: „Seit den Sechzigerjahren hat sich die Freizeit in einem Maße ausgeweitet, dass sie zu einem der bestimmenden Charakteristika des Spätkapitalismus geworden ist.“ Die spektakuläre Expansion des nationalen und internationalen „Tourismus, der Populärkultur und der Massenmedien – sie alle verkaufen Freizeitprodukte“ – bewirkte einen „Wandel des kapitalistischen Systems von der Ausbeutung und der ‚Verwaltung‘ natürlicher Ressourcen hin zu einer ‚Dienstleistungsökonomie‘.“ In der Rhön gibt es zwar noch Bauern und auch Produktionsbetriebe, aber die Dienstleistungen – konkret: der Tourismus – werden für die Region immer wichtiger. Leider auch für viele andere – dazu noch attraktivere – Regionen. Man muß sich also was einfallen lassen.

Jens Schober aus Heustreu sammelt Tankstellen-Quittungen. Viele kriegt er geschenkt. Meistens mit der Bemerkung: „Hier! Du sammelst die doch.“ Er hat extra ein Album für seine Quittungen angelegt. Und dann hat er in Münnerstadt einen Tankstellen-Quittungs-Sammelclub gegründet. In Bad Neustadt ließ er vier Dutzend T-Shirts drucken mit der Aufschrift „TQSC Münnerstadt“. Daneben nahm er vom Drucker Scheel auch noch 25 T-Shirts mit der Aufschrift „DJK Friedrichsruh“ in Kommission. Das war quasi die Ausgehuniform der Handballspieler aus der jesuitischen „Deutschen Jugend Kraft“. Die Mannschaft spielt schon seit den Achtzigerjahren in der Handball-Bundesliga. Jens erhoffte sich durch die Übernahme dieser Kommissionsware einen gewissen Imagegewinn für seine noch weitgehend unbekannte eigene Marke „TQSC Münnerstadt“, die dazu noch ganz ohne Produkte war. Und das ist dann auch nach wie vor das Hauptgesprächsthema der Vereinsmitglieder – auf ihren regelmäßigen Treffen im Hinterzimmer des Gasthofs „Fränkischer Hof“ in Münnerstadt. Die bis jetzt neun Mitglieder könnte man glatt als die neuen Selbständigen in der Stadt bezeichnen – und so sehen sie sich auch selbst. An Ideen mangelt es ihnen nicht. Einige seien genannt: die für die Region symbolische, unter Naturschutz stehende Rhöndiestel als Plastikblume – für Touristen – auf den Markt zu bringen, aber auch für die Hotels und Restaurants hier, die jetzt noch durchweg unbekannte chinesische Plastikblumen auf ihren Tischen stehen haben, „die kein Schwein kennt,“ wie Jens Schober erklärt. Er hatte dazu noch die Idee, sie auch als Plastik-Topfblumen anzubieten, wobei der Topf wie ein Rhönschaf blökt, wenn man ihn etwas zusammendrückt. Diese Idee muß aber erst noch realisiert werden.

Eine andere Idee, von Eddi Sadowsky, ist dagegen bereits gescheitert – und das grandios. Der gelernte Tankwart hatte im Sommer 1998 beim Baden im Hofheimer Freibad eine Wespe verschluckt, als er aus seiner Coca-Cola-Dose trank. Nachdem er wieder klar atmen und denken konnte, überlegte er sich: „Es müßte doch etwas geben, was man in die Dose steckt und womit man sie verschließen kann. Das war die Ausgangsidee.“ Zunächst experimentierte er mit Deckeln von Tupperware, dann mit Knetgummi. Von einer der Knetgummiformen ließ er schließlich eine Zeichnung anfertigen. Ein Techniker vervollständigte sie ihm dann bis zur „Patentunterschriftsreife“. Damit ging er zu einem Patentanwalt in Bad Kissingen, der erst einmal das Neue an Eddis Dosengetränke-Verschluß begrifflich fasste und beim Patentamt in München einreichte. 18 Monate später bekam Eddi Sadowsky sein Patent.

In der Nähe von Schlüchtern fand er dann eine Gummifabrik, die ihm den Verschluß in Serie produzieren sollte. Dazu wurde ein Vertrag aufgesetzt. „Ich hatte ja keine Ahnung von Verträgen,“ meint Eddi, „es wurden darin keine Produktionszeiten festgelegt – z.B. drei Monate für die Musterform und sechs Monate für die Serienform, und dann hat die Firma auch noch das Vorkaufsrecht für das Patent bekommen.“ Für die Musterform mußte er erst einmal 5000 DM als Abschlag zahlen. Unterdes war er zu diversen potentiellen Abnehmern seiner Verschlüsse gegangen: „Getränkegroßhändler, Rewe, die Lufthansa – alle waren begeistert und ich hatte Aufträge für 150.000 Stück. Alle wollte schnellstens beliefert werden. Im Sommer sollte es losgehen.“ Eddi war ständig unterwegs, um Termine mit irgendwelchen Einkäufern wahrzunehmen. Dazu hatte er sich vier neue – blaue – Anzüge von Boss und ein „gutes Auto“ – einen BMW 735, rotmetallic – zugelegt. Im Frühsommer bekam er die Rechnung für die Herstellung der Musterform: 25.000 DM – obwohl die Firma sie laut Eddi „nur einmal abgeändert hatte“. Als der Dosenverschluß vereinbarungsgemäß in Serie gehen sollte, hieß es in der Fabrik, sie kämen mit der Gummi-Mischung nicht klar. Dann, dass die Serienform noch nicht in Ordnung sei. Schließlich stellte sich heraus, dass die Serienform überhaupt noch nicht existierte. Es wurde Sommer. „Aber prozessieren konnte ich gegen die nicht, denn der Streitwert belief sich zu der Zeit auf 200.000 DM. Ich hätte also 20.000 DM Gerichtskosten vorschießen müssen, die hatte ich aber nicht.“

Da er die Termine nicht einhalten konnte, sprang ein Abnehmer nach dem anderen ab. „Bei den Dosenverschlüssen ist das Hauptgeschäft – wenn überhaupt – im Sommer,“ erklärte Eddi dazu. Die Gummifabrik vertröstete ihn auf das nächste Jahr: Bis dahin wollten sie ihm 100.000 liefern. Er klapperte daraufhin noch einmal alle potentiellen Interessenten ab. Die sagten ihm auch: „Ok, dann lassen wir das im März anlaufen und im Sommer machen wir damit eine große Aktion.“ In der Zwischenzeit hatte er sich mit einem Werbegraphiker, der ebenfalls Mitglied im „TQSC Münnerstadt“ ist, zusammengesetzt. Im Ergebnis wurde der Dosenverschluß „Ploppy“ genannt und der Name gesetzlich geschützt. Der Graphiker, Klaus, entwarf ihm auch noch Briefpapier und Visitenkarten für seine „Elastomer Product Marketing“-Firma, die er dann „auf die Schnelle“ gründete. Seinen Tankstellenjob gab er auf. Um tagsüber weitere Kunden und außerdem verschiedene Messen besuchen zu können, nahm er stattdessen einen Nachtwächterstelle in Bad Neustadt an.

Ende März hatte die Gummifabrik noch immer nicht geliefert. „Mal hieß es von dort, das Teil würde in der Form hängen bleiben, dann dass es verbrennen würde, weil die Kühlung der Form noch nicht funktioniere, auch wären die Teile schwer zu entgreten.“ Eddi mußte das glauben, weil ihm die Firma jeglichen Einblick in die Produktion verwehrte. Bis zum Sommer wurde wieder kein Stück produziert. Und wieder sprangen alle Interessenten nach und nach enttäuscht oder verärgert ab. Viele hatten sogar eine Vorankündigung bzw. Werbekampagne gestartet gehabt. Ende August lagen aber doch endlich 100.000 Ploppys bei der Fabrik abholbereit. Eddi gab sofort Verpackungsmaterial in Auftrag – „die einen wollten Blister, die anderen Skin-Verpackung haben“. Für den Versand stellte er einige Rentner und Schüler ein. Aber es war schwierig, damit im Spätsommer noch bei den Supermärkten und den Getränkegroßhändlern anzukommen. Dafür verschenkte er bald auf den Messen seine Ploppys kartonweise. „Kioske, Schwimmbäder und Campingplätze habe ich selber abgeklappert. Aber das reichte nicht, außerdem waren inzwischen sechs verschiedene Dosenverschlüsse auf den Markt gekommen.“ Eddi hatte mittlerweile durch die fast zweijährige Produktionsverzögerung der Gummifabrik 130.000 DM Schulden bei der Volksbank. Und er war mürbe geworden. Zusammen mit seiner Freundin eröffnete er schließlich eine Videothek in Münnerstadt. Die restlichen Ploppys – 80.000 Stück – lagerte er in seiner Werkstatt im Keller des Hauses seiner Freundin. Gelegentlich kann er jetzt noch die eine oder andere kleine Partie verkaufen – unterm Strich war es jedoch ein großer „Ploppy-Flop“, wie seine Firmenpleite in der TQSC-Chronik genannt wird.

21.

Die Tierwelt der Rhön läßt sich grob in drei Gruppen unterteilen. Die Nutztiere wie z.B. Kühe sind heute ganzjährlich eingestallt, und also weitgehend aus dem Landschaftsbild verschwunden. Schafe und Wolperdinger kommen dagegen als Gebietskulissentiere immer häufiger zur Anwendung. Ausserdem stellen viele touristische Einrichtungen so genannte Freizeittiere – Pferde und Ponies – zur Verfügung: mit großer Resonanz. Auf den Reiterhöfen der Rhön stellen die jungen Mädchen die Hauptklientel. Im Gästebuch des „Alternativen Reiterhofs ,Arhöna'“ bei Hohenroda schrieb eine Maren:

„Juhu in 3 tagen kann ich endlich wieder nach arhöna und den big mac sehen! ich freu mich voll. liebe grüße an alle!“

Anna bittet: „macht mal bilder von den neuen pferden (gerade dem neuen Hengst!)

Eine andere Anna droht, nachdem man ihr das angebliche Fehlverhalten eines Rappen mitgeteilt hatte: „Ich schwöre darauf, dass Gwenny dann nicht mehr mein Lieblingspferd ist! (naja darauf vieleicht nich)“

Lena gesteht: „Mein Lieblingspferd ist Stina. Als ich sie zum ersten mal reiten sollte, war ich etwas nervös (man hört ja überall das sie buckelt und so).Aber als ich sie dann geritten bin, war ich hin und weg. Die weichen Gänge…Außerdem hat sie irgendwie voll besondere Augen. Sie ist einfach unbeschreiblich…schwärm! (‚wie eine Art Rose‘. Manchmal ist sie aber echt zickig! Und buckeln tut sie auch manchmal… man sieht auch ‚Rosen‘ haben Macken.“

22.

In der Rhön gedeihen eine Vielzahl von Orchideen. Einer der ersten, der sie erwähnte, war Franz Kasper Lieblein – in seiner 1784 erschienenen  „Flora Fuldensis“. 100 Jahre nach Lieblein durchforschten zwei einheimische Botaniker die Rhön: Der Apotheker Adalbert Geheeb (1842-1909) aus Geisa und Moritz Goldschmidt (1863-1916) aus Frankfurt. Ein Denkmal am Rockenstuhl ist den beiden gewidmet. Geheeb war in erster Linie Moosforscher. Dennoch war er auch ein ausgezeichneter Kenner der Blütenpflanzen in der Rhön; er gliederte die Flora nach pflanzengesellschaftlich-ökologischen Gesichtspunkten, was zur damaligen Zeit noch relativ neu war. Goldschmidt (1863-1916) wurde 1885 Lehrer an der israelitischen Schule in Geisa. Er war Geheebs Schüler und Freund, und die Erforschung der Rhönflora wurde seine große Leidenschaft. Sehr schnell eignete er sich so hervorragende Kenntnisse an, daß eine Gesamtflora für die Rhön Konturen annahm. Leider hinderte ihn eine schwere Erkankung, die u. a. zu Erblindung führte, an der Fertigstellung. Die Orchideen wurden 1908 im Band VI seiner Rhönflora behandelt. Seine Fundorterfassungen sind als äußerst gewissenhaft und unbedingt zuverlässig zu betrachten.

Derzeit werden gerade die Pilze in der Rhön gründlich erforscht, u.a. von dem Botaniker Andreas  Bresinsky, Professor an der Universität Regensburg. Er erklärte dazu: „Die Rhön ist ein kleinerer und damit überschaubarer Naturraum von großer geologischer, landschaftlicher und vegetationskundlicher Vielfalt, der hinsichtlich seiner Pilze als schlecht erforscht zu gelten hat, obgleich die Kenntnis der Großpilze Mitteleuropas ursprünglich von dort aus ganz wesentlich gefördert wurde.“

Die auch unter Laien bekanntesten Pflanzen der Rhön sind nach wie vor die Rhöndiestel und die so genannte Goethepflanze. Diese heißt so, weil Goethe sie sehr mochte und ihre ständig anfallenden Ableger an Freunde und Verehrer verschenkte. Das bewog wiederum Rudolf Steiner 1923, sie als Heilpflanze anzuerkennen, schon wenig später pulverisierten anthroposophische Apotheker Goethe-Pflanzen zu Medikamenten – u.a. gegen „hysterische Erscheinungen“ und um einem „Kindeswunsch“ medikamentös Nachdruck zu verleihen. Diese Pflanze – eine Bryophyllum („wachsendes Blatt“ übersetzt) – ist ein Dickblattgewächs (Crassulaceae) aus Indien. In der Nachkriegszeit kannte diese Pflanze noch jeder: Schon im zarten Alter bildet sie in ihren gezähnten Blattwinkeln Scharen kleiner Pflanzen aus, die irgendwann abfallen, am Boden sogleich Wurzeln schlagen – und dann ebenfalls wie verrückt anfangen zu wachsen. Die Bryophyllum ist eine echte Wirtschaftswunder-, mindestens Existenzgründer- und Gründerzentren-Pflanze. Sie kann tagsüber, wenn es heiß ist, geradezu den Atem anhalten und sich so vor Verdunstung schützen. Erst nachts schöpft sie Atem, sammelt das Kohlendioxid in an Apfelsäure gebundener Form und betreibt dann am nächsten Tag damit Photosynthese. Dirunaler Säurerhythmus wird diese spezielle Art der Photosynthese benannt, die sich auch bei vielen Kakteen findet. Zum Winter hin, wenn die Nächte länger als die Tage werden, kann Bryophyllum auch blühen: Zahlreiche hängende, weitgehend geschlossene Einzelblüten gehen dann langsam von einem grünen in einen blaß-violetten Farbton über.

Der Wirt der „Guten Quelle“ und Betreiber des Goethe-Museums in Kaltensundheim hat sie natürlich in seiner Gaststube. Weil sie sich so rasend vermehrt, sind inzwischen schon sämtliche Fensterbänke damit vollgestellt. Wie einst Goethe verschenkt er die Ableger ebenfalls gerne – und schon fast verzweifelt: Es fallen immer mehr an – während die Abnehmer dafür immer weniger werden.

Im Botanik-Museum von Ostheim sucht man dagegen die Goethepflanze vergeblich, obwohl der Ort einmal zu Goethes Regierungsbezirk gehörte.

Wink doch mal, da kommt die Blaskapelle des Rhön-Clubs.

23.

Auch die Bauern sollen sich „flexibilisieren“, obwohl sie schon vor ewigen Zeiten eine Existenz gegründet haben. Man verteilte Weiterbildungsprogramm für Landwirte. Es erinnerte uns mit seiner Bandbreite von praktischen Tipps zur Umsetzung neuer Ideen – bis hin zu Studienergebnissen und Erfahrungsberichten an eine kürzlich in Berlin abgehaltene Tagung mit dem Titel „9 to 5 – Wir nennen es Arbeit“, die merkwürdigerweise  großes mediales Interesse gefunden hatte  und von einer Gruppe Kreativer organisiert worden war, die sich zur neuen „digitalen Bohéme“ zählen. Was da angeboten wurde, waren eher Plaudereien über alte Zeiten mit den Veteranen der freiberuflich Kreativen und Einführungen zur Künstlersozialversicherung und Einkommenssteuererklärungen. Bei der Herrschinger Fachtagung ging es etwas handfester zu. Zuvor war es dort schon um die tiergerechte Versorgung von Pekingenten, die Qualität von Tafeläpfeln im Einzelhandel, um neueste Forschungsergebnisse zu ökologischem Hopfenanbau und um die Auswirkung der Klimaveränderung auf die Landwirtschaft gegangen. Der passende Titel der Tagung wäre hier entsprechend gewesen „5 to 9 – Wir nennen es Landwirtschaft“.

Die Familie unserer Pensionswirtin Frau Pöpperl betrieb früher neben der Landwirtschaft und der Pension noch eine Kneipe, die sich im heutigen Frühstücksraum befand. Ihre Mutter starb schon sehr früh an „Erschöpfung“. Ihr Mann, dessen Tiroler Herrkunft sie, nicht zuletzt, weil er eine der „reichsten Töchter“ der Stadt geheiratet hatte, bis heute geheimhält, verbot ihr bald nach er Hochzeit, die Kneipe weiter zu führen, die sie selten vor den frühen Morgenstunden schloß. Mit seiner bohrenden Frage: „Möchtest du auch mit Ende 40 sterben?“ überzeugte er sie schließlich. Die Landwirtschaft gab sie dann auch auf, da sie nichts mehr einbrachte. Ihr Mann arbeitet dafür im Sommer als Bauunternehmer und im Winter als Skilehrer. Zusammen mit den Einnahmen der Frühstückspension und dem Geld, das sie durch den Garten einsparen, kommen sie über die Runden.

Ausserdem ist Herr Pöpperl der Vorsitzende des Skiverbandes Kreuzberg, an dessen Hang sich eine Sprungschanze befindet. Das jährliche Sprungturnier, zu dem junge Sportler aus ganz Deutschland anreisen, steht stark in der Kritik des Gemeinderates, da für durchschnittlich vier Bischofsheimer Teilnehmer jährlich um die 20.000 Euro ausgegeben werden müssen. Man hat die Veranstaltung nun schon in die Wandersaison gelegt, um sie „öffentlichkeitswirksamer“ zu machen. Die Piste wird hierfür statt mit Kunstschnee mit nassen Matten ausgelegt. „Das macht leider keinen Unterschied mehr“, sagte uns Herr Pöpperl, der sich ohnehin nach den Alpen sehnt. Denn schon seit Jahren gab es in der Rhön – einst bekannt für seine langen, weißen Winter – keinen Schnee mehr.

24.

Mitteleuropa ist weltweit führend bei der Musealisierung seiner selbst. Das gilt  neben den vom Massentourismus heimgesuchten Großstädten kurioserweise besonders für die von der  Landflucht heimgesuchten Gebiete. Die einst „übervölkerte Rhön“ ist inzwischen eines der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Und dementsprechend viele Museen gibt es hier. Fast jeder Ort hat mindestens ein „Heimatmuseum“ – meistens sind sie in einem nutzlos gewordenen, aber desungeachtet liebevoll restaurierten alten Gebäude, einem  Herrenhaus oder Schloß z.B.,  untergebracht. Ansonsten wurde ab den Siebzigerjahren weltweit durchschnittlich ein neues Museum pro Woche gebaut, wenn man dem Internationalen Museumsrat glauben darf. Hinzu kommt, dass für die Touristen auch fast alle Kirchen und sonstigen sakralen Gebäude Museumscharakter haben. Wie die Museen überhaupt Mausoleen bzw. Friedhöfe sind – und letztere oft umgekehrt Freiluftmuseen ähneln. Darüberhinaus werden auch immer mehr Landschaften in Form von „Naturlehrpfaden“ und mit Informationstafeln gespickten Parcours musealisiert – bestimmte Dünenabschnitte auf der Ferieninsel Sylt z.B. und die Moore in der Rhön. Ähnliches versucht man mittels Denkmalschutz-Verordnungen auch bei vielen Innenstädten. Daneben werden inzwischen sogar ganze Fabriken und  Produktionsanlagen – im Ruhrgebiet und in Ostdeutschland etwa – zu Museen umgewandelt.

Wer nicht unbedingt reden, gleichwohl aber Land und Leute kennenlernen will, geht ins Museum, schreibt Walter Grasskamp in einem 2006 veröffentlichten Buch über „Museumsbesuche“, das von Betrachtern handelt, die mit anderen Absichten in Museen gegangen sind als von der Institution vorgegeben und als der, sich zu bilden. „Stattdessen hängen sie dort ihren erotischen Träumen nach, hadern mit ihrem Schicksal oder kontrollieren die restlichen Museumsbesucher.“

Wir haben uns dagegen eher bildungsbeflissen gezeigt bei unseren Museumstouren durch  die Region. Es gibt dort zwei „Rhönmuseen“ – ein altes in Mellrichstadt, das von zwei ebenso freundlichen wie engagierten Damen ehrenamtlich betreut wird, und ein neues modernes in Fladungen, wo man daneben auch noch ein „Rhöndorf“ aufgebaut hat. Hier wie dort hat man die Nazizeit so gut wie ausgespart, ebenso die damalige Vertreibung der Juden und anderer als „rassisch minderwertig“ bezeichneter Rhön-Bewohner.

Im kleinen, etwas rumpelkammerartigen Heimatmuseum von Kaltennordheim kam uns die Idee, dass diese Orte der Belehrung zugleich auch solche der Entsorgung sind, insofern jeder seine  ausrangierten Dinge, die ihm nur noch Platz wegnehmen – alte Handwerkzeuge, Küchengeräte, Waschbretter, Tassen, Teller, Kostüme, Bettzeug, Schränke, Radios usw. – beim nächstgelegenen  Heimatmuseum abgeben kann, das sich unter Umständen auch noch dafür bedankt und die Bürger mitunter sogar zum Spenden von solchen oder ähnlichen Exponaten bittet. Daneben können die Gegenstände auch nach alten Vorbildern oder Ideen bzw. Ideologien neu geschaffene sein: Wie das Indianercamp der Cheyenne in Sambachshof oder das gelegentliche Neogermanen-Treffen auf dem Berg Milseburg. Sie feiern dort die Sonnenwende und lassen Hermann den Cherusker wieder aufleben (ähnlich wie in Kalkriese nahe Osnabrück, wo man am Ort der von ihm einst angeführten Schlacht 2002 ein ganzes Museum errichtete – den wahrscheinlich letzten deutschen Museums-Neubau).

In der Rhön ist das Museum der Segelflieger das bekannteste. Der ganze „Berg der Segelflieger“ – die Wasserkuppe – ist eigentlich ein einziges Museum. Diese Entwicklung begann damit, dass in  Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht mehr mit Motorenantrieb geflogen werden durfte – und der Theoretiker des Segelflugs Erich Meyer 1919 die „Ausnutzung der Energie des Windes“ stattdessen empfahl. Auf der Wasserkuppe wurde daraufhin ein „Fliegerlager“ eingerichtet und schon ein Jahr später veranstalteten die Segelflieger  dort den ersten „Rhön-Wettbewerb“. Was anfangs noch als Spinnerei abgetan wurde und manchmal schlimm ausging, galt in der Presse schon 1922 als das „Rhönwunder“ – das erste einer ganzen Reihe: Einer der Flieger schaffte es, eine volle Stunde im Hangwind des Berges zu segeln. Anderen nach ihm gelang es dann schon, mehrere Stunden in der Luft zu bleiben.

Es schien aber noch so, schreibt Richard Kirn im Merian-Heft „Die Rhön“ 1964, „dass man an die Aufwindhänge und Kuppen gefesselt war“. 1926 geriet jedoch der Segelflieger Max Kegel in ein heftiges  „Rhöngewitter“. Sein Flugzeug wurde hochgetragen, hin und her geschleudert, bis es  schließlich bei Sonnenschein im 55 Kilometer entfernten Thüringer Wald landete. Das war das zweite „Rhönwunder“, danach wurde die thermische Dynamik des Luftmeeres systematisch erforscht. 1931 flog Wolf Hirth von der kahlen Kuppe des mit 950 Metern höchsten Rhönberges 200 Kilometer weit bis an die Mosel. Inzwischen sind schon Segelflugzeuge bis in die Stratosphäre aufgestiegen, haben  halbe Kontinente überquert und sich tagelang in der Luft gehalten.

Zwar wurde es nichts mit der Anerkennung des Segelflugs als  Olympische Disziplin, aber aus den kleinen Bastelschuppen der Segelflieger an der Wasserkuppe entstand bald in Poppenhausen eine ganze Flugzeugfabrik. Die dort ab 1927 von Alexander  Schleicher gebauten Flieger hießen „Rhönlerche“, „Rhönschwalbe“, „Rhönadler“ und „Rhönsegler“.

Nach dem ebenfalls verlorenen Zweiten Weltkrieg durften zunächst nicht einmal mehr Segelflugzeuge gebaut werden. Aber 1952 mit dem Einstieg des Ingenieurs Rudolf Kaiser in die Firma ging es wieder los. Das Unternehmen existiert noch heute – als eine erfolgreiche GmbH & Co mit 115 Mitarbeitern. Ihre Segelflieger heißen aber nun ASK 21 Mi, K 8 und K 11, ASG 29 E, ASW 22 BL oder ASH 25 Mi (AS ist das Kürzel von Alexander Schleicher und K das von Rudolf Kaiser).

1987 wurde an der Wasserkuppe ein Museum für die über 100jährige Geschichte des Segelflugs gebaut, das man 2006 erweiterte. Im selben Jahr ging auch noch ein weiterer Skilift in Betrieb. Zuvor hatte man bereits die Radarkuppel „Radom“, mit denen die Amerikaner den Osten überwachten, in eine Aussichtsplattform umgewandelt und das Biosphärenreservat ein „Info-Zentrum“ auf dem Berg errichtet, zudem wurden weitere Souvenirshops und Ausflugslokale genehmigt. Das alles hat die Wasserkuppe und die Gegend drumherum nicht schöner gemacht.

25.

Zu den Tugenden des Rhöners zählt Leopold Höhl, ehedem Mitglied der historischen Vereine zu Bamberg, Meiningen und Würzburg in seinem 1892 veröffentlichten „Rhönspiegel – Kulturgeschichtliche Bilder aus der Rhön“, dass er gerne pilgert – der Rhöner. Beliebt sind vor allem das Kloster auf dem Kreuzberg sowie die Kirche Maria Ehrenberg auf dem Truppenübungsplatz Wildflecken. Es gibt hier ferner die mittelalterlichen Prozessionen in Fulda, die Prozessionen in der Karwoche, an Ostern und Pfingsten, die Bitt-, Flur- und Fronleichnamsprozessionen, die Bonifatius-Wallfahrten und die Jakobs-Pilgerschaften. Im Kapitel „Wallfahrten“ führt Höhl dazu aus:

„Es gilt hier das Wort eines Mannes, der viel auf Reisen war und dabei viel beobachtet und studiert hat. Dieser sagt: ‚Es liegt ja in unserem deutschen Volke ein tiefes Naturgefühl, das den Städter aufs Land, den Landbewohner auf die Höhen seiner Berge treibt. Ja, man kann sagen, deutsches Wesen und deutsche Art tragen ganz besonders den Charakter des Landes: eine gewisse Romantik, ein eigentümliches Gefühls- und Phantasieleben wird das Kennzeichen unseres Volkes bleiben, solange seine Berge ihre dunklen Wälder tragen und in stillen Tälern und auf grünen Auen die Jugend ihre Lieder singt‘.“

Zu den Untugenden des Rhöners zählt Leopold Höhl „Schwatzhaftigkeit, Rechthaberei, Prozesssucht und Trägheit“ und nicht zuletzt „die Trunksucht“.

Was ist das denn für eine Blume?

26.

Neben vielen eher praktischen und oft teuer gestalteten Rhön-Wanderbüchern, in denen die reizvollsten Wanderwege unterschiedlicher Länge sowie die gediegensten Unterkünfte verzeichnet sind, verfaßt zumeist von wahren Nordic-Walker-Experten, gibt es auch zwei Bücher von eher intellektuellen Rhön-Wanderern. Die Autoren, einer stammt aus dem Osten, der andere aus dem Westen, haben sich die Mühe gemacht, wochen- oder sogar monatelang das Mittelgebirge zu Fuß zu durchstreifen. Der eine querdurch, der andere an der ehemaligen DDR-Grenze entlang. Ihre Unterwegs-Schilderungen sind so detailliert, dass sie es einem fast ersparen, die Strecken, die sich teilweise überschneiden, nachzuwandern.

Der aus dem Ruhrgebiet stammende Ulrich Grobe wollte damit vor allem die „alte Kunst des Wanderns“ – von der klassischen Peripathetik über das gläubige Pilgern bis zur Kasseler Spaziergangsforschung – (wieder) populär machen, während der thüringische Schriftsteller Landolf Scherzer die „Befindlichkeiten“ der Bewohner zu beiden Seite des sogenannten „Kolonnenwegs“, auf dem bis 1989 die Grenztruppen der DDR patroullierten, erkundete. Auf dem letzten Streckenabschnitt seiner Wanderung wurde er vom schriftstellernden Einschleich-Experten Günter Wallraff begleitet. Für den eher meditativ als investigativ gestimmten Zeitjournalisten Ulrich Grober war dagegen diese Grenze bloß ein Orientierungspunkt – auf dem Weg zu einer ökologisch sauberen Selbsterfahrung. Das hört sich dann, in Tagebuchform gebracht, so an:

„Der Rhöner Bauernladen am ehemaligen Bahnhof (von Bischofsheim) hat noch geöffnet. Ich erkundige mich nach einem Quartier, decke mich mit frischen Lebensmitteln ein: ein Pressack und eine ,Schäferstecke‘ aus Lammfleisch, Rohmilch, Ziegenkäse, Dinkelbrot, eine Flasche Apfelwein, Quellwasser aus einem hiesigen Brunnen. Auf jeder Wanderung versuche ich, mich aus der Landschaft, durch die ich gehe, zu ernähren. Nirgendwo ist es so einfach wie hier im Biosphärenreservat, wo man mit der Vermarktung regionaler ökologischer Produkte und einer Ökonomie der kurzen Wege Ernst macht. Rhönhöfe für ökologische Lebensmittel setzen uralte Traditionen mit neuem Bewußtsein fort, beleben die Einsicht, dass das Leben mit den Lebens-Mitteln mit Frische und Frische mit Nähe zu tun hat.“ Usw.

Obwohl wir quasi erst am Anfang unserer Rhön-Recherchen stehen, läßt sich schon so viel dazu sagen: Es ist reine Werbepoesie, die das völlige Desinteresse des Autors an den dortigen ökonomischen Problemen überdecken soll. Demgegenüber hat Landolf Scherzer keine Kosten und Mühen gescheut, wie man so sagt, um die Grenzbewohner hüben und drüben fast schon flächendeckend zu interviewen. Darüberhinaus sammelte er en passant auch noch etliche kerndeutsche Kuriositäten. Z.B. am „Point Alpha“, dem einst markantesten Beobachtungsposten der Amerikaner in der Rhön. Aus den dortigen US-Kasernen wurde erst ein Asylbewerberheim und dann ein Grenzmuseum. Hier traf der Autor auf eine Wander- bzw. Ausflugsgruppe, die hauptsächlich aus Frauen bestand – „eine Fitneßgruppe aus Gönnern. Ich frage, wo Gönnern liegt. Bei Marburg, ob ich Timo Boll nicht kennen würde, den Tischtennisweltmeister. Sie sind beleidigt, dass ich nichts von Timo Boll und Gönnern weiß, und eine der Frauen sagt, dass es noch lange dauern wird mit der Einheit, wenn die Ostdeutschen noch nicht einmal Timo Boll kennen.“

An einer anderen Stelle entdeckt Landolf Scherzer zwischen zwei Beobachtungstürmen Ost und West ein großes Birkenkreuz auf hessischer Seite – mit einer Erklärung, „dass hier am 12. Januar 1976 zwei Männer über die Grenze flüchten wollten. Einer davon sei getötet worden. Die Junge Union im hessischen Rasdorf ließ das Kreuz errichten und legte jährlich am Sterbetag Blumen nieder.“ Erst nach der Grenzöffnung erfuhr dies der angeblich Erschossene, der inzwischen in Geismar lebte. Nachdem er sich im Rasdorfer Gemeindeamt gemeldet und ausgewiesen hatte, „wandelte die Junge Union das Birkenkreuz in ein Mahnmal für alle Toten an der Grenze um.“

In Berkach stößt Scherzer auf eine gleich nach der Wende renovierte Synagoge mit jüdischem Badehaus. Den Schlüssel verwaltet eine Frau in der Nachbarschaft, die mehrmals eine ABM als Geschichtsschreiberin des Ortes bekommen hatte, von ihr erfährt er: „Seit der Weihe der Synagoge am 3.November 1991 und den großen Reden der Politiker (u.a. der Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth), die alle versicherten, dass die Berkacher Synagoge künftig zu einer Begegnungsstätte junger Christen und Juden werden sollte, gab es in den 13 Jahren lediglich zwei öffentliche Begegnungen, ein Klezmer-Konzert und eine Lesung. Zwei in dreizehn Jahren.“ Man könnte aus solchen und ähnlichen Geschichten folgern, nirgendwo findet so wenig Begegnung statt wie gerade in Begegnungsstätten, aber es geht hier um die Rhön und ihre Erwanderer.

In dem ebenfalls thüringischen Ort Behrungen, das sich jetzt „Dorf des deutsch-deutschen Freilandmuseums“ nennt, besuchte der Autor eine Schule, wo ihm einige Lehrerinnen Auskunft gaben. An Wandertagen laufen sie gelegentlich rüber nach Rappershausen, sie halten die Westdeutschen dort und anderswo für arrogant. Eine meint, dass es sie besonders stört, „wenn Leute von drüben die Ortschroniken über hiesige Grenzdörfer schreiben oder Museen über das Leben an der DDR-Grenze gestalten und ,sich anmaßen, uns die eigene Geschichte erklären zu wollen‘.“ Ein Wirt im selben Dorf klagt: „In der DDR hatten wir Gäste ohne Ende und keine Waren. Heute haben wir Waren ohne Ende, aber keine Gäste.“ Am Ortsausgang wohnt ein Ehepaar mit dem Scherzer ein längeres „Abendgespräch“ führt. Ihm wird dabei klar, dass er auf seiner bisherigen Wanderung allzu viele Orte aber auch „interessante und aufschreibenswerte Geschichten“ links bzw. rechts liegen ließ. Aber erst einmal zeigt ihm der Hausherr am Hang sein Frühbeet, in dem der Salat schon fast faustgroß gediehen ist – und erklärt dazu: „Früher brannte hier nachts eine Straßenlaterne, da wuchs alles noch viel schneller.“

Neben Geschichten wie diesen interessierten Landolf Scherzer auch Regionalia – Bücher aus der Region, von denen es jedoch, anders als etwa in Friesland, nur wenige bisher gibt (das könnte sich aber jetzt mit den vielen gut ausgebildeten Ostlern, die nach der Wende nicht selten arbeitslos wurden, ändern). Lange Zeit wurde zumeist nur über die Rhön geschrieben, d.h. sie wurde von außen beschrieben, analysiert und auch über diesen (Schrift-)Weg beeinflußt. Das beginnt schon mit den ersten Christianisierern. So bezeichnete z.B. der iroschottische Mönch Bonifatius die Rhön 751 kurz und knapp als „ein großes Waldgebiet in einer Einöde von großer Weltverlassenheit mitten zwischen den Völkern.“ Noch Ende des 19.Jahrhunderts, als die Industrialisierung anderswo und fehlende Verkehrsverbindungen die Rhön von der allgemeinen Entwicklung abkoppelten, dominieren Studien über die Armut der Mittelgebirgsbewohner, wobei nicht wenige in Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lage gipfelten. Desungeachtet mußte man die Rhön nach dem Ersten Weltkrieg zum „Notstandsgebiet“ erklären. Sogar die selber hungernden sowjetischen Arbeiter schickten laut Landolf Scherzer „solidarisch Mehl dorthin“.

Aus Schleswig Holstein rückten Kommunisten – u.a. Bodo Uhse und die Brüder von Salomon – an, um die Kleinbauern zu agitieren und in der KPD zu organisieren. Ihr lokaler aber auch ideologischer Rhön-Führer war der kommunistische Reichstagsabgeordnete und Vorsitzende des Reichsbauernbundes Ernst Putz aus Bad Brückenau sowie das ZK-Mitglied verantwortlich für Landarbeit Edwin Hoernle. Im thüringischen Unterweid hat die DDR später eine Polytechnische Oberschule nach Ernst Putz benannt, die heute „Grundschule Unterweid“ heißt. Im bayrischen Bad Brückenau wurde eine Straße, in der viele Kurhotels und -pensionen angesiedelt sind, nach ihm benannt. Etwas außerhalb des Kurortes befindet sich der Sinntalhof, die Geburtstätte von Ernst Putz, den er noch in den Zwanzigerjahren erst in eine „Freie Werkgemeinschaft“ und dann in ein „Landerziehungsheim“ umwandelte. 1955 verkaufte seine Schwester den Hof an die christliche „Bruderhofgemeinschaft“, die sich jedoch 1961 zerstritt und auflöste. Heute ist der Sinntalhof eine öffentliche Begegnungsstätte. Scherzer schreibt: Ernst Putz „hatte konsequent die Interessen der armen Rhönbevölkerung vertreten. Die Nazis ermordeten ihn 1933.“

Bodo Uhse überlebte im Exil in Mexiko, Edwin Hoernle in Moskau. Bis 1933 gab Uhse als Sekretär des Reichsbauernkomitees u.a. das Mitteilungsblatt „Bauernkampf in Deutschland“ heraus. Eine der von ihm ab 1931 verfaßten Kampfschriften, in denen es um eine gemeinsame Front von Landwirten und Arbeiter geht, hat den Titel „Bauer ahoi“, eine andere „Bauernkampf gegen Bauernnot“. Auch nach seiner Flucht aus Deutschland 1933 beschäftigt er sich weiter mit dem Thema – u.a. mit der Landwirtschaftspolitik der NSDAP, die schon bald ein Entwicklungskonzept für die Rhön aufstellte, den sogenannten „Dr.Hellmuth-Plan“ – benannt nach dem Gauleiter von Unterfranken, einem Zahnarzt. Bodo Uhse veröffentlichte seine Kritik daran 1934 in der antifaschistischen Wochenzeitung „Der Gegen-Angriff“, die im Exil in Prag, Basel und Paris herausgegeben wurde. Sein Artikel heißt „Hitlers Pontinische Sümpfe“ und beginnt mit einer Wanderung durch die Rhön, die den Agitator in das Dorf „Sparbrot“ führt, wo er von einem armen Kleinbauern zum Essen eingeladen wird. Er bekommt eine magere Kartoffelsuppe vorgesetzt. „Das Fleisch“, entschuldigt sich der Bauer, „sitzt bei uns um den Tisch“. Er zeigt dabei auf seine Frau und sieben Kinder. Solche und ähnliche Familien, etwa 100.000 Menschen insgesamt, wollte man, so sah es der „Hellmuth-Plan“ vor, von ihren zu kleinen Äckern vertreiben – und dafür lebensfähige Erbhöfe in der Rhön schaffen, dazu Straßen bauen, Truppenübungsplätze anlegen, Äcker entsteinen und Moore entwässern. Uhse spricht von einer „Klassenbereinigung – die Halbproletarier sollen völlig proletarisiert werden. Das ist der ökonomische Sinn des ,Aufbauplanes'“, er sieht vor, dass in dem als „überbevölkert“ begriffenen Gebiet nur der Teil bleiben darf, „der sich aus der natürlich bedingten Größe eines Erbhofs ernähren kann“.

Edwin Hoernle, der 1933 in Moskau vom Internationalen Agrarinstitut zum Leiter der Abteilung Mitteleuropa berufen wurde, zitiert in seinen Analysen der faschistischen Agrarpolitik die Frankfurter Zeitung, die 1938 meldete, dass man von 13.735 landwirtschaftlichen Betrieben in der Rhön 11.552 als „nicht lebensfähig“ eingestuft habe. Bei deren Enteignung gehe es auch und vor allem darum , „die hunderttausende jetzt nicht zweckmäßig ausgenützten Arbeitskräfte für die deutsche Volkswirtschaft zu mobilisieren.“

Der Marburger Politologe Martin Bongards schreibt 2004 über den „Dr.Hellmuth-Plan“: „Bei der Durchführung kam es zur Zusammenarbeit von einer Unzahl verschiedendster nationalsozialistischer Organisationen und staatlicher Stellen, so dass wirklich jeder Rhöner von diesem Plan erfaßt wurde. Von der (federführenden) Landesplanungsgemeinschaft Bayern (Bezirksstelle Würzburg) bis zum NS-Studentenbund, von der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Gesellschaft Kraft durch Freude bis zum Reichsmütterdienst des deutschen Frauenwerks, vom NS-Kraftfahrerbund bis zur Universität Würzburg. Die Hauptlast bei den durchzuführenden Arbeiten aber trug der Reichsarbeitsdienst (z.T. eben die ehemaligen Saisonarbeiter und sonstige Arme der Rhön), die eigentliche ,Finanzierung‘ erfolgte also durch Zwangsarbeit. Nach dem Überfall auf Polen 1939 wurden zudem Kriegsgefangene eingesetzt.“

Vor der Umsetzung des „Hellmuth-Plans“ waren erst einmal die Arierexperten der NSDAP über die Region hergefallen, um die Bevölkerung rassisch zu selektieren. Dazu verkündeten sie: „Wissend, dass Erbgut das Wesen des Menschen bestimmt, tritt der Politiker heute an den Erbbiologen heran mit der Frage: aus welchem Holz ist der Rhöner geschnitzt. (…) Im Vordergrund muß also die Erforschung der menschlichen Tüchtigkeit der Bewohner stehen, und hier galt es nach nationalsozialistischen Grundsätzen, über die Untersuchung des Einzelnen hinauszugehen und nicht mehr und nicht weniger zu erforschen als den Erbwert der gegenwärtig lebenden und in der Zukunft zu erwartenden Bevölkerung. Im Gau Mainfranken ist erstmals an die Verwirklichung dieser Forderung herangegangen worden, um hieb- und stichfeste Grundlagen für das Menschenproblem in der Rhön zu schaffen.“

Bei seinen kürzlichen Recherchen vor Ort über die Folgen des Hellmuth-Plans für die Betroffenen konnte der Raumplanungsexperte Bongards durch Interviews nichts mehr in Erfahrung bringen, auch auf Fragen „nach dem Zustandekommen des jeweiligen Besitzes reagierten die Bewohner störrisch. Der Dr.Hellmuth-Plan gilt z.B. in Bischofsheim als frühe Flurbereinigung und weitsichtige Infrastrukturmaßnahme.“  Schon vor seiner Inangriffnahme waren einige Arbeitslager in der Rhön von den Nazis errrichtet worden – u.a. eins auf dem 814 Meter hohen Ellenbogen nördlich von Frankenheim, wo es zuvor unter den Dorfarmen zu einem Hungeraufstand gekommen war. Sie stürmten einige Läden und plünderten sie aus. Bodo Uhse berichtet darüber in seinem o.g. Artikel über den „Dr.Hellmuth-Plan“: „Angeblich sollte die Belegschaft, 100 bis 200 Mann, die Wiesen von Felsbrocken räumen. Die meiste Zeit wurde im Lager jedoch auf Exerzierübungen und Geländesport verwandt.“. In der Sylvesternacht 1932 kam es zu einer „Schlacht am Ellenbogen“, die vor dem Arbeitslager stattfand, das von erzürnten Dörflern aus der Umgebung belagert wurde. Uhse zitiert dazu die NSDAP-Zeitung „Angriff“, die am nächsten Tag schrieb: „Kommunistische Brandstifter überfallen Arbeitslager“ – er fügt hinzu: „Das war zwei Monate vor dem Reichstagsbrand. Die Verhafteten wurden zu langen Zuchthausstrafen verurteilt, die Nichtverhafteten durften zu Hause weiter hungern.“  Anscheinend war er selbst bei den „Unruhen“ mit dabei gewesen, denn die Herausgeber seiner Werke in der DDR, wo Bodo Uhse zuletzt Bereichssekretär der Akademie der Künste war, merkten dazu 1983 an, dass er sich Ostern 1957 während einer Rhön-Wanderung noch einmal auf die Spuren seines einstigen agitatorischen Wirkens begab und dabei auch Frankenheim besuchte. In seinen diesbezüglichen „Tagesnotizen“ erinnerte er sich unter „vielen Einzelheiten auch der ,Schlacht am Ellenbogen‘.“

Landolf Scherzer stieß auf seiner Wanderung noch 2004 auf Spuren des Arbeitsdienstes – als er mit dem Wirt des im bayrischen Teil der Hochrhön gelegenen Restaurants „Rhönhof“ ins Gespräch kam, der 1994 einen großen verfallenen Hof dazugekauft hatte. Der letzte Eigentümer war neun Jahre zuvor gestorben: „Der Hof war 1937 vom Reichsarbeitsdienst gebaut worden, denn die Nationalsozialisten schufen damals auf dem Ödland der Rhön ,Kultivierungsstützpunkte‘, das heißt staatliche Versuchshöfe, um Ackerbau und Viehzucht in diesen extremen Lagen zu fördern. Nach dem Krieg wurde der Hof verstaatlicht.“

Im thüringischen Heid lernte Scherzer einen Mann kennen, der einst in Kühndorf wohnte. Dort wurde seine Familie jedoch wegen eines anderen Reichsarbeitsdienst-Objekts 1936 „ausgesiedelt“. Er erzählt: „Wir hatten Äcker und Wiesen am Dolmar. Und unter Hitler wurde das Land dort oben für den Bau eines Übungsflugplatzes beschlagnahmt. Da sind wir hierher nach Heid.“

Insofern sich Bodo Uhse in die Kämpfe der Rhön-Bauern um bessere Lebensbedingungen einmischte, könnte man mindestens den Teil seiner Schriften, die das thematisieren, als Regionalia bezeichnen. Landolf Scherzer erwähnt in seinem Wanderbuch drei weitere: Das dreibändige Werk „Grenzerfahrungen“ von einem bayrischen Lehrer, Gerhard Schätzlein, und einem bayrischen Grenzschützer, Reinhold Albert, verfaßt: 1754 Seiten über deutsch-deutsche Grenzgeschichten zwischen 1945 und 1989.

Dagegen nehmen sich die 16seitigen Grenzerfahrungen, 1991 von Heinz Wöhner aus dem thüringischen Grenzort Mupperg aufgeschrieben und auch selbst verlegt, äußerst bescheiden aus. Der Autor und seine Freunde besuchten zwischen 1945 und 1961 an den Wochenenden gerne Tanzveranstaltungen im bayrischen Fürth, wo die Musikgruppen besser waren und u.a. „Negermusik“ spielten. Gelegentlich mußten sie die damals noch russischen Grenzwächter mit Schnaps bestechen. Die späteren – meist aus Sachsen stammenden – Vopos wurden von ihnen mit Westzigaretten ruhig gestellt. Als Wöhner sich in eine Frau aus Fürth verliebte, unternahm er seine illegalen Grenzübertritte nicht mehr nur zum Vergnügen, sondern auch, um damit Geld zu verdienen, das er brauchte, um heiraten zu können. Er schmuggelte u.a. künstliche Menschenaugen aus Lauscha in den Westen und einmal Stück für Stück den gesamten Hausrat eines Fabrikbesitzers aus Lichte. Als er schließlich zu seiner Verlobten zog, wurde die Grenze dicht gemacht und er konnte Jahrzehnte nicht mehr nach Mupperg zurück.

Schließlich erwähnt Scherzer noch eine Autobiographie von Frau Doktor Elfriede Ellmer aus Lichtenhain: „Die Bettelfrau von Buhinga“ betitelt. Die Tochter eines Lichtenhainer Zimmermanns ging 1957 nach einem Medizinstudium in den Westen – und vor dort als Ärztin nach Uganda. Nach der Wende erwarb sie in ihrem Geburtsort die Traktorenwerkstatt der kurz zuvor pleite gegangenen LPG „Sonnenstrahl“ – und baute das Gebäude zu einer Villa im afrikanischen Farmerstil um. Die Autorin arbeitet noch immer als Ärztin in Uganda – aber nur im Winter, im Sommer wohnt sie in Lichtenhain, wo sie auch ihre Biographie schrieb.  Sie erschien im Amicus-Verlag in Föritz-Weidhausen.

Die Verlegerin, Ingrid Meikath, ist eine gelernte Werkzeugmacherin, die als Restaurateurin beim VVB Spielwaren in Sonneberg arbeitete, wo sie dann Redakteurin der Betriebszeitung „Sonni“ wurde – bis 1989. Danach arbeitete sie als freie Raumgestalterin für eine westdeutsche Möbelfirma. 2000 wurde die inzwischen 51jährige arbeitslos – und machte sich als Verlegerin selbständig.  Wie der ehemalige Rhöner Waldarbeiter Peter Engstler aus dem bayrischen Oberwaldbehrungen, der im nahen Ostheim eine Buchhandlung nebst Verlag betreibt (sein Geld verdient er allerdings mit der Betreuung von geistig Behinderten), so verlegt auch Ingrid Meikath Gedichte und Prosa – vor allem von Bekannten sowie von Freunden, die ihr geistig nahe stehen. Die Bücher verkauft sie, indem sie in Thüringen die Buchhandlungen abklappert. Der Schriftsteller Landolf Scherzer fragte sie, als er auf seinem „Grenzgang“ durch ihren Ort kam, worüber sie selbst ein Buch schreiben würde, wenn sie denn dazu käme: „Über die fleißigen, ideenreichen Ostdeutschen“, meinte sie. „Und über die unsinnige Behauptung der Medien, dass Ostdeutschland ein Jammertal ist.“. Peter Engstler hat bereits mehrere eigene Cut-Up-Texte in seinem Verlag veröffentlicht, daneben einige erwanderte Texte von Helmut Salzinger, dessen hinterlassenes Archiv er verwaltet. Und demnächst will er mit unseren eher erfahrenen Recherchen erstmalig auch ein Rhönbuch veröffentlichen.

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Im „Nebenzimmer“ der bereits erwähnten Bahnhofsgaststätte von Bischofsheim, in dem ein Fernseher steht, hauptsächlich für Fußballübertragungen, trafen sich im Juni 2007 einige Tourismusmanager zu einem „Rhön-Workshop“. Das Ergebnis ließe sich wie folgt zusammenfassen: „Naturlandschaften bilden das bei weitem häufigste visuelle Syntagma in Werbebildern, die eine romantische Liebesbeziehung darstellen“, wobei diese Bildwelt von den Überresten der bürgerlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts gespeist wird. In Deutschland wird dabei immer wieder gerne auf den Wald zurückgegriffen.

„Die Natur der Werbung ist jedoch nicht die Natur der Bauern“, sondern des Tourismus. „In diesem symbolischen Raum, der die Welt der Städte und des Konsums negiert, findet speziell das Liebes- oder Ehepaar die Bestätigung seiner selbst, indem ihre Individualität in etwas Größerem aufgeht‘. Dieses ,Größere‘ eröffnet die Möglichkeit einer utopischen Vision des romantischen Ichs, in welcher die Natur nicht nur als alternativer geographischer Raum fungiert, sondern auch als eine Art Vehikel…“

Der Wald in den Werbebildern der Tourismus- und Freizeitindustrie vermischt dabei drei Zeiten: die der Vergangenheit unserer verlorenen Authentizität in pastoraler Schlichtheit, der ewigen Gegenwart von Intensität (und Konsum) sowie die Zeitlosigkeit des Heiligen. Für Jean-Francois Lyotard bestimmt diese Mischung die Postmoderne – und trübt damit also auch das Reale der Rhön – mindestens den Blick auf die Reste des selben. Ein Einheimischer, der Verleger Peter Engstler, sagte es bedauernd so: „Die wilden Zeiten sind vorbei.“

Die wollen jetzt ins Freiluftmuseum gehen, sollen wir Sie begleiten?

28.

In einer Ecke des Gastraums der Pension „Strauss“ in Haselbach hängen ein Halbdutzend Rehgeweihe und ein Kruzifix. Der Platz unter dem Wandschmuck wird die „Paulus-Ecke“ genannt. Der „Rhönpaulus“, wie er auch heißt, war einst ein berühmt-berüchtigter Wilderer. Er wurde mehrfach in Kaltennordheim inhaftiert und schließlich 1780 hingerichtet. In Dermbach gibt es eine Kneipe, die nach ihm benannt wurde und gleich mehrere Gaststätten in der Region heißen „Wilderer-Stube“. Im thüringischen Gehlberg hat das dortige „Wilderermuseum“ Berichte und Geschichten über den Rhönpaulus“ und eine Reihe anderer Wilderer gesammelt. In der bayrischen Rhön stimmt man diesem mitteldeutschen „Robin Hood“ zu Ehren gelegentlich das „Wilderer-Lied“ an. Und dann gibt es noch das Bild „Der Wilderer“ von Georg Estler. Dem 1956 in Dresden gestorbenen Landschaftsmaler hatten es besonders die Berge angetan, zwei Sommer lang wanderte er durch die Rhön, den Wilderer malte er im Künstlerdorf Kleinsassen. 1883 erhielt er für sein Ölbild das große Akademische Reisestipendium – mit dem er bis nach Italien gelangte.

Die Wilderei ist ein typisches Delikt armer Bergbauern, denen früher mancherorts sogar das Jagen von Spatzen bei Strafe verboten war, da alles Getier dem adligen Grundherrn gehörte. Die Nazis konzentrierten später alle wegen Wilddieberei Inhaftierten erst in einem KZ und dann im berüchtigten SS-Sonderkommando „Dr. Dirlewanger“. Dafür kamen jedoch nur solche in betracht, die mit einer Schußwaffe gewildert hatten – nicht mit Fallen oder Schlingen. Im Sonderkommando wurden sie wegen ihrer Gebirgs- und Waldkenntnisse sowie ihrer Pirschfähigkeiten vor allem zur Partisanenbekämpfung im Osten eingesetzt.

Heute hat sich das Wilddieb-Problem – mindestens in der Rhön – geradezu umgedreht: Die Region ist unterbevölkert und die reichen Jagdpächter kommen so gut wie nie ihren Verpflichtungen, d.h. Abschußquoten, nach, so dass es zu viele Wildtiere gibt, die in den Jungwäldern und auf den Feldern der Bauern große Schäden anrichten. In dieser Not offeriert z.B. das Forstamt Kaltennordheim zusammen mit dem Hotel „Eisenacher Haus“ so genannte „Jagderlebniswochen“. Das hört sich in ihrer Annonce so an:

„Eine Woche Jagd in den urigen Wäldern der Thüringer Rhön. Sie werden mit Ihren Mitjägern in einem eigenen Gebiet des Landesjagdbezirkes eingewiesen und jagen in diesem Gebiet weitgehend selbständig. Voraussetzung ist ein gültiger Jahresjagdschein. Ein erfahrener Revierleiter steht täglich für Rückfragen und zur gemeinsamen Wildbergung zur Verfügung. In der Woche wird Bewegungsjagd durchgeführt. Der Abschlusstag endet mit dem Verblasen der Strecke. Gejagt wird auf Rot-, Schwarz- sowie Rehwild und Füchse. Die Jagderlebniswoche ist besonders für Gruppen, aber auch für Einzeljäger geeignet. Pro Person und Woche zahlen Sie 200 Euro für die Freigabe dieser Wildarten in einem eigenen Gebiet und die Bewegungsjagd. Hirsche der Klasse 2b und 3b ab 6er sind gesondert zu zahlen. Alle anderen Abschüsse sind frei. Das Wildbret ist nicht im Preis enthalten. Zusätzlich sind für Gruppen ab 15 Personen gesonderte Bewegungsjagden möglich. Termine und weitere Informationen sind im Forstamt Kaltennordheim zu erfragen. Einen weiteren Höhepunkt stellen die Bockjagd und die Jagd auf Wildschweine dar. In der ,Bock-Erlebniswoche‘ können bis zu 3 Böcke frei geschossen werden. In dieser Zeit gibt es keine Bewegungsjagd. Als Sehenswürdigkeiten empfehlen wir Ihnen einen Besuch des Meininger Theaters, des Grenzlandmuseums „Point Alpha“ und der Hubertusmesse in Fladungen.“

Nur Auswärtige interessieren sich für solche und ähnliche Freizeitangebote. Obwohl sich in den Internet-Foren und -Blogs viele junge Rhöner neuerdings „Wilderer“ nennen, wird dort heute höchstens noch en passant mit dem Auto wirklich gewildert – und das gilt mindestens als unsportlich. Jutta, eine Bekannte aus Waldberg träumte kürzlich, dass sie nachts mit ihrem Freund Ralf in dessen Opel Vectra in die Disco „Regenbogen“ nach Stedtlingen fuhr. Plötzlich hoppelte ein Hase über die Straße. Statt anzuhalten überfuhr ihr Freund ihn einfach. Schweißgebadet wachte Jutta auf. Am darauffolgenden Abend war sie tatsächlich mit Ralf unterwegs – auf der Hochrhönstraße in Richtung Fladungen, als ein Hase die Straße überquerte und dabei von Ralfs Auto erwischt wurde, weil der nicht auswich oder bremste. Jutta schockierte  dies derart, dass sie Ralf schon einige Kilometer weiter die Freundschaft aufkündigte, ihn anhalten ließ, ausstieg und zurück, nach Hause, trampte.

29.

Die DDR war nicht nur ein Leseland, sondern auch eine Autorenrepublik, meint der Wiener Robert Menasse, weil so viele Menschen angehalten wurden, „zu recherchieren und dann alles in eine schriftliche Form zu bringen“. Davon profitiert die deutsche Literatur noch heute. So berichtet z.B. der DDR-Bürger André Kubiczek 2009, der einst bei der Hubschrauberstaffel 16 in Meiningen stationiert war: „Fast jeder auf dem Flugplatz trug am Tag, an dem die Öffnung der Mauer verkündet wurde, einen Bart: die Piloten, die Offiziere, die Soldaten. Der Stabsfeldwebel schickte mich in den Kurzurlaub, damit ich mir das Begrüßungsgeld abholen könne.“ Auch das Pflanzenschutzamt Meiningen setzte  Hubschrauber ein, u.a. zur „aviochemischen“ Bekämpfung des Unkrauts „an der Staatsgrenze West“. Der DDR-Bürger Herbert Mesch berichtet 2005: 1966 war „der Kontrollstreifen am Niemandswäldchen so stark verunkrautet, dass es jedem ungesehen gelingt, die DDR illegal zu verlassen. Unkraut-Ex kann aber momentan nicht eingesetzt werden.“ Einige Offiziere der NVA haben Verbindung zum BGS aufgenommen und „sind öfters zu Einkäufen auf westdeutscher Seite gewesen“. 1976 wurde bei einem Hubschrauber-Einsatz  ein „Getreidefeld in der BRD“ in Mitleidenschaft gezogen. Zuvor war bereits eine „Kuh der LPG Hermannsfeld“ vergiftet worden. 1978 wurde zwar sorgfältiger gearbeitet, und „der Pflanzenwuchs restlos beseitigt. als Folge traten jedoch örtlich erhebliche Erosionen auf“. Zudem gab es „gesicherte Erkenntnisse“, „dass die Agrarflieger im Blickpunkt feindlich-negativer Kräfte stehen“. Dazu wird die „Klärung der Frage ‚Wer ist wer?‘ intensiviert. 1981 zeichnet man  den Agrarflug ACZ Hildburgshausen „mit dem Ehrenbanner des ZK“ aus.  1985 wurde im Auftrag der LPG Herpf die Kartoffel-Krautfäule aus der Luft bekämpft, dabei kam es bei einer Forellenaufzuchtanlage zu einem „Fischsterben“. 1987 kamen bulgarische Piloten zur Walddüngung und Bekämpfung von Waldschädlingen zum Einsatz. Dazu wurden 5 sowjetische und zwei bulgarische Hubschrauber gechartert. Allerdings gingen „die Charterbesatzungen nicht mit der gleichen Einstellung an die Sicherheit heran“.  An der juristischen Hochschule Potsdam befaßten sich zwei Diplomarbeiten – von Major Weiß und Major Eisenkolb – mit diesem Problem, das auch eine „Wer ist wer?“-Klärung beinhaltete. „Vermutlich hatten viele Agrarpiloten irgendwelche Weibergeschichten. Frauen liefen ihnen hinterher, ob ledig oder ob verheiratet. Das Fliegen faszinierte. Im Bett waren sie sicher nicht besser als Andere.“ Der Autor Herbert Mesch will in dieser Hinsicht jedoch keine Namen nennen. Im Pauschalen bleibt er auch bei seiner Bemerkung: „Die Agrarpiloten flogen manchmal gerne eine Kurve mehr oder besprühten benachbarte Kleingärten, aus Dummheit oder eben so.“ Die Betroffenen konnten danach ihr „erntereifes Obst und Gemüse“ vergessen. 1986 machten sich umgekehrt „Probleme mit Umweltschützern“ bemerkbar, „die den Einfluss westlicher Publikationen erkennen lassen. Sobald das Flugzeug am Himmel ist, schreit irgendwer, dass Schäden und Vergiftungen eingetreten seien. Die meisten Fälle sind völlig aus der Luft gegriffen.“ Besonders stark ist die „ablehnende Haltung zum Agrarflug in der Rhön-Gemeinde Bremen“, wo der Flugorganisator als „Umweltvergifter“ beschimpft wird. 1987 wurden beim Ausbringen des Pflanzenschutzmittels Bayleton (ein BRD-Import) einige „Hausgärten“ in Motzlar besprüht. Die Bürger beschwerten sich mit einer Eingabe. Selbst über  Hubschrauber der Geodäsie „diskutierte die Rhönbevölkerung“. Und bei der LPG Geisa kam es zu „Auseinandersetzungen“ mit dem Vorsitzenden, der den „Arbeitsflugplatz“ von Kühen vollscheißen ließ, so dass das „Flugzeug bereits nach dem zweiten Start schwarz verschmiert“ war. 1988 heißt es: „Alles wirkt wie eine Kampagne gegen den Agrarflug“. Die Ursachenforschung ergab jedoch, dass z.B. für das Fischsterben in Unterbreizbach nicht der Agrarflug, „sondern der erhöhte Nitratgehalt des Teichwassers“  verantwortlich war. 1988/89 vermehrten sich die Disziplinprobleme bei den ausländischen Piloten: „Die Bulgaren hatten immer Durst, 12 von 16 waren meist besoffen. Besoffen sind die Piloten auch bedenkenlos geflogen. Die Arbeitsleistungen der Russen waren bedeutend besser als die der Ukrainer“. Sie haben „zwar auch getrunken, sind aber nur nüchtern geflogen. Alle bekamen gutes Essen und deutsche Weiber hatten sie noch obendrauf. Die flogen ihnen zu.“ Nach der Wende wurde der Agrarflug, der zu Interflug gehörte, abgewickelt.  2003 berichtet „Freies Wort“: Auf dem verlassenen Hubschrauber-Flugplatz in Masserberg „standen die Cannabis-Pflanzen in Reih und Glied“, die Zeitung spricht von einer „fabrikmäßigen Drogenproduktion“. Die „Kreispflanzenschutzstelle Meiningen“, die dagegen – z.B. mit Unkraut-Ex – hätte vorgehen können, gibt es nun auch nicht mehr.

30.

Wir sahen einen kleinen Film über Kaltenwestheim: „In Westheim ist verkehrt die Welt – Ein Dorf in der thüringischen Rhön“ von Hannelore Offner. Es beginnt mit einem Lied der Männer: „In Westheim führen die Frauen Krieg/Die Männer tun die Kinder krieg/ Ein Denkstein war der Weiber Lohn/ Die Männer haben den Spott davoon.“

1445 – 1475 häufige kriegerische Auseinandersetzungen des Grafen Heinrich von Henneberg ( genannt der Unruhige ) und daraus resultierende Vergeltungszüge – u.a. der Herren von der Tann (am anderen Ende der Rhön). Die Kaltenwestheimer verteidigen ihren Ort auf der Seite des Grafen von Henneberg. Als sie aufgeben wollen, springen ihre Frauen ein – und kämpfen weiter. Zum Dank bietet ihnen der Graf anschließend an: ein Denkmal für sie oder das Stadtrecht. Die Frauen entscheiden sich – typische Rhöner Ökonomie – für das Denkmal. Dieses wird aber schon in  einer der nächsten kriegerischen Auseinandersetzungen zerstört. Anschließend errichtet man ein neues.

Kaltenwestheim („Waeste“ genannt) ist 1200 Jahre alt, es wird noch ein wenig Dialekt gesprochen, man fand hier fränkische Gräber aus dem Jahr 600, es gibt daneben noch ein 2500 Jahre altes Gräberfeld.

Im Film werden einige alte Leute interviewt: „In diesem Jahr haben sich alle besonders auf die Hexenverbrennungen gefreut.“ Stuhlmacher erzählt, Wir gingen nach Tann, verkauften dort z.B. einen Zentner Roggen – und bekamen dafür ein Faß Schnaps, 32 Liter. „Früher waren die Leute besonders wie heut.“ Verkauften Schnitzereien – gingen mit der Kiepe (Kötze) von Haus zu Haus, auch Export: nach England, Belgien, Amerika, Frankreich. Zum Kirmes-Auftakt tanzen Männer in Schürzen. Der Film zeigt einige Dorf-Gemeinschaftsaktivitäten. Eine Frau erzählt alte Rezepte. Ein junger Mann will Tierarzrt werden: „Dialektsprecher haben es schwer in der Schule zuerst, müssen sich umstellen“, sagt er. Der Frauenchor sing. Zu DDR-Zeiten gab es am 7.Oktober den  „Weltrübentag“: „Die Städter haben für 20 Mark Fahnen geschwenkt, demonstriert. Und wir mußten derweil die Rüben raustun.“ Man unternahm  früher gerne Ausflüge zur Wasserkuppe, mit geschmückten Wagen ging es über Seiferts, Batten – alles katholische Dörfer. Später mit gemästeten Spanferkeln im Rucksack in den Westen 1947/48 über die Grenze, Angst vor Grenzposten. Im Gänsemarsch. Ein Bauer verpetzte sie, der Chef der Grenzpolizei hielt sie an. Später gab es verminte Grenzstreifen, zwei junge Leute verunglückten dort. „Ist viel passiert hier bei uns – war ein Schwerpunkt der Grenzübertritte. Wenn wir mit denen drüben redeten oder winkten, wurden wir festgenommen und verhört.“ Der Wachtturm steht noch. Ein Rhönschaf-Schäfer erklärt seine Tracht – die Bedeutung der vielen Knöpfe, z.B. die sieben kleinen sind die sieben Tage. Der Film wurde u.a. von Jagdgenossenschaft Kaltenwestheim gesponsort.

Kaltenwestheim lag im Sperrgebiet, man brauchte einen Erlaubnisschein, um Leute dort zu besuchen, Westler durften gar nicht dort hin. Später wurde das Sperrgebiet hinters Dorf verlegt, jetzt konnten die Kaltenwestheimer nicht mal mehr im Wald und auf ihren  Fluren spazieren gehen, brauchten selber eine Genehmigung, den bekamen z.B. die Traktoristen, die dort auf den Feldern arbeiten mußten. Kaltennordheim lag ebenfalls im Sperrgebiet, Kaltensundheim jedoch nicht. Es gab in der grenznahen thüringischen Rhön keinen Tourismus. Die Kaltenwestheimer LPG wurde von der Kaltensundheimer LPG, die auf Bio umgestellt hat, übernommen.

Jürgen Kuttner behauptet: Im Einigungsvertrag wurde festgehalten, dass in der thüringischen Rhön kein Schnaps gebrannt werden darf, nur in der bayrischen Rhön. Im Osten gab es den „Rhöntropfen“ – einen Kräuterlikör. In einem „Erfahrungsbericht“ heißt es: „Rhöntropfen ist eine Spirituose aus der Kategorie Magenbitter. Der sehr milde Magenbitter hat nicht so einen Nachgeschmack, wie zum beispiel der Vernetbranca. Der Rhöntropfen hat einen Alkoholgehalt von 35%, obwohl man ihm das vom Geschmack her gar nicht zutraut. Das macht ihn doch gefährlich, da man seine Stärke doch etwas unterschätzt. Aber wenn man ihn als das verwendet, als dass er vorgesehen ist, nämlich als trunk nach einem Esssen, der läuft auch nicht in die Gefahr, zuviel zu trinken. Leider ist er außerhalb von Thüringen nicht immer zu bekommen, was sehr schade ist. Es lohnt sich auf jeden Fall, nach dem Rhöntropfen zu fragen.  Allen die es tun, werden es vom Geschmack her nicht bereuen. Auch vom Preis her kommt man mit 14,90 DM für die 0,7l Flasche gut weg.“ Nach dem Krieg nannte man das Zeug „Rhöndiesel“ – obwohl verabscheut, wurde es zu einer regelrechten Währung bis in die hessische Wetterau.

31.

Die SDSlerin und Schriftstellerin Ulrike Edschmidt veröffentlichte ein Buch mit dem Titel „Die Liebhaber meiner Mutter“. Sie wuchs in einer Notunterkunft, der Burg Schwarzenfels in Sinntal-Schwarzenfels, auf. Im Marstall der Burg befindet sich heute ein  Jugend-Freizeitlager. Ihre Mutter war eine Rhönerin, ihr Vater Architekt, er wurde dann Segelflieger auf der Wasserkuppe und kurz nach Kriegsbeginn  als Pilot abgeschossen. Bei Thomas Pynchon heißt es – in „Die Enden der Parabel: „Los! Ausgeklinkt, über der Wasserkuppe, den Flüßchen Ulster und Haune, die in ihr Landkartenbild sinken, grünen Bergen und Tälern…Achtfaden nimmt Kurs auf die Gewitterwand – ‚Unter dem Donner schreiten wir‘ klingt zu einer martialischen Medlodie durch seinen Kopf-, die sich über den grauen Felsen zu seiner Rechten aufzutürmen beginnt, die blitze, die die Bergkuppen in blaues Licht tauchen, sein Cockpit mit jähem Widerschein erfüllen…dort am Rand…genau dort, an der Grenzfläche, wird die Luft steigen. Du folgst dem Rand des Sturms, folgst ihm mit einem sechsten Sinn, dem Flugsinn, der nirgends lokalisiert ist, der alle deine Nerven erfüllt…Solange du dich halten kannst an dieser Kante, zwischen dem friedlichen Tiefland und dem Wüten des Donar, so lange wird es dich nicht im Stich lassen, was immer es ist, das fliegt, diese Kraft, die dich treibt und trägt zur – ist es Freiheit? Muß man erst die Grenzfläche des Donners erreichen, um erkennen zu können, welche Versklavung die Schwerkraft bedeutet?“

Peter Berz erklärte uns dazu: „Erst machte die Aerodynamik der Wasserkuppe mit den Segelfliegern, was sie wollte – sie blieben im Bann der Berg-Aufwinde, gelangten nur durch Zufall/Unfall aus ihnen heraus. Dann studierten sie diese Aerodynamik und begannen sie zu beherrschen. Dazu gehört der Göttinger Papst der Aerodynamik Ludwig Prantl (siehe Autobiographie von Karman) – seine Studenten haben das mathematisch durchgerechnet und dann auf der Wasserkuppe ausprobiert. Diese theoretischen und praktischen Studien waren dann wichtig für die Peenemünder Raketenbauer: Wie verhalten sich Flugköprer im Wind? Vor allem: beim Überschreiten der Schallgeschwindigkeit. Die Frage dabei lautet: Wie stabilisiert sich die Rakete an der Grenze zum Überschall? Auf der Wasserkuppe wurde dazu sozusagen Grundlagenforschung betrieben.“

Die ersten Raketenflüge machte Fritz Stamer am 10. und 11.06.1928 auf der Wasserkuppe mit dem Segelflugzeug „Ente“.  „Den wenigsten Menschen dürfte bekannt sein, dass die Wasserkuppe als natürlicher Prüfstand für Raketenversuche an Modell- und Segel-Flugzeugen im Jahre 1928 der erste Schritt zum Mond war,“ heißt es dazu auf einer Internetseite.  „Die Raketenforscher Max Valier, Fritz von Opel und F. W. Sander betrieben ein Gesamtprojekt zum Raketenflug. Schon 1927 versuchten sie bei verschiedenen Fliegergruppen den Bau geeigneter Raketenflug-Modelle zu betreiben, aber ohne Erfolg. Im Frühjahr 1928 waren die Hochleistungsraketen soweit gediehen, dass das Problem des Raketenfluges vordringlich wurde“. Aber es fehlte zunächst an Geld. Das änderte sich mit der Machtergreifung der Nazis, wobei sich diese Aktivitäten dann jedoch von der Wasserkuppe weg nach Berlin und Peenemünde verlagerten. Heute erinnert ein Museum an diese „Pionierzeit“ auf und an der Wasserkuppe. Und Ende Juni findet immer noch alljährlich ein „Rhön-Segelflugwettbewerb“ auf der Wasserkuppe statt.

Wo zeigt der denn hin?!

Die Rhön-Recherchen werden fortgesetzt.

Erwähnt seien hier aber noch die Eifel-Recherchen der in diesem Mittelgebirge 1961 geborenen Germanistin Ute Bales. Der auf Regionalia spezialisierte “Rhein-Mosel-Verlag” in Zell an der Mosel veröffentlichte zuletzt in seiner vom Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur in Rheinland-Pfalz geförderten Reihe “Edition Schrittmacher” ihr Buch “Kamillenblumen”, das er als den „großen Eifel-Roman“ bezeichnet:

Er zeichnet die Geschichte der 1884 geborenen Wanderarbeiterin und Kamillenverkäuferin Gertrud Feiler nach, die 1964 in der Psychiatrischen Klinik von Andernach starb. Sie wanderte fast 60 Jahre in der Eifel umher. Anfangs noch mit ihrer Mutter Maria, der erst der Vater, dann der Ehemann, schließlich ihr zuletzt geborenes Kind starb und die daraufhin Haus und Hof verlassen mußte, zusammen mit ihrer Tochter Traud.

An einer Stelle des Buches heißt es: “An die zehn Jahre zogen die beiden nun schon durch die Eifel, von Sassen, bis in die Struth, hinauf ins Ahrtal, hinunter an die Mosel. Stets in der Hoffnung auf mildherzige Menschen zu treffen, die entweder Arbeiterinnen brauchen konnten oder aber eine Verwendung für die getrockneten Kamillenblumen hatten, die sie gegen ein paar Pfennige, ein Ei, einen Kanten Brot oder ein warmes Essen eintauschten.” Einmal versuchte die Traud auf der Großbaustelle “Nürnburg-Ring”, die die Nazis als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) iniiert hatten, unterzukommen. Aber die Vorarbeiter lachten sie nur aus, als sie – eine Frau, dazu noch klein und schmächtig – dort ankam.

Die beiden Frauen bewegten sich ansonsten in der Eifel in einer Art Netzwerk – im Kreis, der anfänglich aus nahen Verwandten und Bekannten bestand. Deswegen zog es Getrud Feiler auch immer wieder in ihren Geburtsort Kolverath zurück. Als sie kurz nach dem Krieg wieder mal dort anlangte, lag ein Brief – “der erste ihres Lebens” für sie im Bürgermeisteramt:

“In dem amtlichen Schreiben explizierte man ihr in knappen Sätzen, dass der Verkauf von Kamille gegen das Arzneimittelgesetz verstoße. Jegliche Fortführung ihrer Handelsgeschäfte wurde untersagt: der Kamillenverkauf sei mit Frist bis September 1946 einzustellen, Zuwiderhandlungen zögen rechtliche Folgen nach sich.”


Angehängt sei hier außerdem ein Bericht von dem alle zwei Jahre auf der Rhöner Jungviehweide „Kalte Buche“ stattfindenden Lesemarathon, organisiert von dem in der Rhön lebenden Verleger und Buchhändler Peter Engstler:


Ganz Deutschland ist von der Ich-Armee überrollt! Nein, nicht ganz: ein kleines Häuflein aufrechter Wir-Vorkämpfer („Das Ich ist nicht nur hassenswert, es hat nicht einmal Platz zwischen uns und dem Nichts!“) hält sich noch – und hat sich in der Rhön auf einer Jungviehweide verschanzt. Wenn es regnet, suchen sie Schutz in einem alten Nazi-Hütehaus. Bei Sonnenschein baden sie im nahen Basaltsee oder mimen träge Erholungssucher, erst nachts werden sie munter, um am Lagerfeuer oder im Licht von Taschenlampen Geschichten zu erzählen: Es geht dabei um Aufstandserfolge und -niederlagen, um – verstorbene Vorbilder wie Jack Kerouac und Helmut Salzinger, um Seemänner im Auftrag der Komintern wie Knüffgen, um chinesische Rotgardisten in Umerziehungsdörfern, um prähistorische Lokalbolschewisten an der Ostsee und natürlich um das Ganze – in Prosa und Poetry. Drumherum stehen genügend Kleinverleger bereit, den Erzählern Selbstgebrannten oder auch Most  zu reichen sowie auch, um ihre Manuskripte sofort wohlwollend zu prüfen. Zu ihren Füßen sitzen dazu noch diverse Zeitschriftenmitherausgeber – wie die des Ostberliner „Gegner“  und der „Floppy Myriapoda“ etwa, um ebenfalls ihr Programm vor Ort zu komplettieren.

Der Organisator Peter Engstler betreibt an einem Tag in der Woche eine Buchhandlung im Rhönzentrum Ostheim und der akustisch begabte Heidelberger Ex-Buchhändler Jörg Burkhart trägt neben eigenen Texten auch einen von der Mainzer Gewaltfilmerin Pola Reuth mit vor. Dazwischen läuft Jonny Cash. Der Greifswalder Piratenforscher Bert Papenfuß erzählt einen Witz aus Polen: Stehen zwei Penner vor einem Supermarkt und trinken Schnaps. Plötzlich kommen zwei Yuppies raus und nehmen einen tiefen Schluck aus ihren Plastikwasserflaschen. Sagt der eine Penner zum anderen: „Kuck mal! Ist das nicht ekelhaft? Wie die Tiere!“ Papenfuß trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Too old to die young!“ Tatsächlich handelt es sich bei dieser fünfzigköpfigen Erwachsenengruppe mit vielen Kindern (das älteste ist dreißig) um den harten Kern jener deutschen Hippies, die einst noch die Kurve zum Punk kriegten, dann in Paris VIII. ein Seminaire sur les mots „too much“ et „good vibrations“ absolvierten und nun den ganzen Bestand zu sichern trachten – wohlmöglich gar wieder auszuweiten, ohne erneut eine Generationenmode daraus erwachsen zu lassen. Dafür nehmen sie auch in Kauf, dass ihren Kindern die ganzen Geschichten am Arsch vorbeigehen, während die mitgebrachten Hunde sich äußerst fröhlich ins Performative einfügen. Und wenn ein Traktor vorbeifährt, der den Leseschwall kurzzeitig übertönt, dann ist das auch gut und nicht schlecht!

Gelegentlich wird der Toten mitgedacht, die natürlicherweise immer mehr werden – und manchmal schon wie ein Alp auf den Köpfen der Lebenden lasten. Andererseits gibt es so viele, die sich heuer nicht auf der Jungviehweide einfanden, weil sie anderes zu tun hatten – und ihrer werden immer mehr. Die „Connections“  dieser Rhön-Verschwörung reichen inzwischen bis nach Nordthailand, in den Südsudan und über den Odenwald auf der einen Seite hinaus – auf der anderen bis nach Bremerhaven und Reinbek bei Hamburg. Wir haben es hier mit einem Rev-Rhizom zu tun, das zur Bandenbildung neigt, jedoch auch die Einsamkeit zu schätzen weiß, sowie die Annehmlichkeiten einer umsichtigen Gastfreundschaft. Den Aktivisten dieses jährlich wiederkehrenden Zusammenkommens steht sogar eine Aufwandsentschädigung aus der Kriegskasse zu. Und anschließend geht es wieder zurück – in die Archive, Redaktionen, Bibliotheken, Antiquariate und sonstigen Hide-Aways: prallgefüllt mit rustikaler Rhön-Reizüberflutung, neuen Literaturtips, Emailadressen und Nebenbeigeschichten, wie die von der wahljeminitischen Dichterin, die gerade mit einem  märkischen Bioschweinemastbetrieb Schiffbruch erlitt. Überhaupt sind die Schiffs-Metaphern auf dem Rhöngipfel ständig präsent (auch wenn der Große Steuermann längst tot ist). Doch während die weiblichen Erzähler  dabei eher das vermaledeite Ruder in die Hand kriegen wollen, beklagen die männiglichen munter den eingeschlagenen Kurs. Zwischendurch gehen alle zum Aussichtspunkt – und werfen von da oben einen weiten Blick über das Bewußtseinsmeer.

Einige sprechen bei dem Event von einem „Rhön-Putsch“. Aber natürlich sind all die  eingeladenen Gäste ebenso wie Mitwirkende viel zu höflich, aber auch zu alt inzwischen, um wirklich zu putschen. Gegen wen oder was auch – da oben auf der Alm? Zudem stehen sie dann doch alle dem Anarchismus immer noch zu nahe, so dass sie statt eines Putsches eher einen Volksaufstand wagen würden (rein theoretisch). Aber die Regierung und ihre Propaganda/Werbung verunglimpfen – das war auch diesmal wieder reichlich „Thema“. Besonders die Ostler – Bert Papenfuß und Kai Pohl z.B. – gingen wieder hart mit der „Marktwirtschaft“ (westlicher Couleur) ins Gericht. Aber auch der Heidelberger Jörg Burkhard („Als ich noch ein Ultrakurzwellenbub war“), schonte – wie gewohnt – das (Schweine-)“System“ nicht, während Hadayatulla Hübschs Beiträge  diesmal eher ins Beziehungsdetail gingen – antikapitalistisch waren aber auch sie genaugenommen. Und selbst der Gastauftritt von Eugen Pletsch  („Sänger vom Frankenschlag“), der jüngst mit seinem ganzheitlichen Golfbuch „Der Weg der weissen Kugel“ einen derartigen Erfolg hatte, dass man mit Fug und Recht an der darin angeblich enthaltenen Systemkritik zweifeln konnte, bewies nun mit seinem neuen zweiten Buch „Der Fluch der weissen Kugel“, dass auch auf den Golfrasen dieser Welt nicht alles paletti ist, d.h. auch dort drehen die Leute laufend durch, werden unglücklich, krank, ohnmächtig vor Wut, verwirrt und gaga gar, weil sie Geist und Körper im Moment ihres Schlages nicht richtig synchronisieren können – so dass „der Weg der weissen Kugel“ ins (soziale und unvorteilhafte) Abseits/Handicap führt, was natürlich wieder mal typisch „systembedingt“ ist.

Zum Thema „Gastwirtschaft als das Leben selbst“ gehörte dann die Collage aus Texten des kürzlich verstorbenen Westberliner Galeristen und Satanisten Jes Petersen – vorgetragen von Cornelia Köster und Andreas Hansen –  über den alten „Buchhändlerkeller“ am Bundesplatz. Über einige darin vorkommende, meistens schon tote  „Gestalten“ führte danach Jürgen Theobaldy Näheres aus. Über allem und allen dort während des  „Rhön-Putsches“ Anwesenden schwebte jedoch wie immer der Geist des 1993 in einer norddeutschen Moorsiedlung gestorbenen Musikkritikers Helmut Salzinger. Nicht zufällig verwaltet der Veranstalter Engstler sein Archiv und  veröffentlicht auch immer wieder Bücher von verschiedenen Autoren, die Helmut Salzinger mehr oder weniger nahe standen. Die ebenfalls sehr nahe Rhön – dort auf der Jungviehweide –  thematisierte dagegen niemand. Dabei tut sich dort gerade einiges: So wird die einst von griechischen Gastarbeitern gegründete orthodoxe Kirche unten im Tal in Bischofsheim gerade von Russlanddeutschen übernommen – und gehört bereits zu Moskau, weil erstere in der Rhön keine Arbeit mehr finden und abwandern und letztere keine mehr in Karaganda oder Sibirien – und deswegen zuwandern. Außerdem ist die Rhön inzwischen ein Biosphärenreservat. Es gibt eine diesbezügliche Verwaltung, die in einer typischen Biosphärenreservats-Managementresidenz untergebracht wurde, es gibt Angestellte, die u.a. die vom Aussterben bedrohte Rhön-Diestel von Unkraut befreien, es werden einheimische Produkte, darunter das „Rhönschaf“, vermarktungsmäßig betreut und Broschüren für den Rhöntouristen, der meist ein Wochenend-Wanderer ist, herausgegeben. Überall werden Schlösser und Fachwerkhäuser renoviert und neue Museen eingerichtet. Es gibt ein Goethemuseum, ein Tabakpfeifenmuseum, ein Museumsmoor, etliche Heimatmuseen, ein Freiluftmuseum usw.. Einige Alteinheimische befürchten bereits, demnächst ebenfalls musealisiert zu werden. An der „Kalten Buche“ entsteht auf diese schleichende Art vielleicht einmal ein deutsches Beatnik-Museum. Wir ritzten schon mal unsere Namen in die alten Bäume dort.

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