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Das Möbiusband ist eine geheimnisvolle Metapher – eine in sich verkehrte, eine seltsame Schleife. Eine jedenfalls in einer Richtung unendlich ausgedehnte Fläche, die zugleich ihre eigene Rückseite ist. Ada stellt sich einen ganz kurzen 35mm-Film vor, der als Schlaufe durch einen Projektor läuft. Wenn man den Film an einer Stelle auftrennt und einmal gedreht wieder zusammenklebt und so laufen lässt, ist es ein Möbiusfilm, der spiegelbildlich immer wieder auf sich selbst antwortet. Welche Seite wird dann eigentlich gezeigt? Abwechselnd einmal richtig rum und einmal falsch rum?
Pius hat eine Einladung zu einer ziemlich geheimen, jedenfalls illegalen Filmvorführung. Ada will erst mit. Dann erinnert sie sich, dass sie den Film schon mal gesehen hat: Moebius. Sie hatte doch sogar mal was darüber geschrieben. Da ist sie ganz sicher. Aber sie findet den Text nicht wieder.
Ada hat keine Lust, in einen Film zu gehen, den sie schon kennt, auch wenn sie sich jetzt gerade nicht erinnern kann. Also geht Pius alleine los. Ada fährt in der Zeit mit dem Fahrrad durch Berlin, das sein Fete de la Musique feiert. Sie versucht, sich zu verlieren. Es gelingt ihr nicht.
Zuhause findet sie den Text wieder, sie hatte den Film tatsächlich schon mal gesehen, aber eben nicht ganz. Und darum ging es.
„Kino 7, Montag 18.30 Uhr. Der Film „Möbius“ handelt von einem verschwundenen U-Bahn-Zug. Eigentlich ist es eine Übung der Filmklasse von Gustavo Mosquera aus Buenos Aires im Schärfeziehen. Aber die Übung gruppiert sich um eine Geschichte, eben den verschwundenen U-Bahn-Zug. Das heißt, eigentlich ist er nicht richtig verschwunden, man hört ihn – überall – aber man sieht ihn eben nicht.
Dem Akustischen wird hier die höhere materielle Gewalt zugetraut. Die Verantwortlichen sind alarmiert; wo der Zug durch die Röhren röhrt, könnte es doch zu einem Zusammenstoß kommen – aber wo? Gerade, als der Held in Betrachtung einer Achterbahn des Rätsels Lösung fast gefunden hat – das Möbiusband – frisst der Projektor im Kino 7 des Ateliers am Zoo den Film und stoppt die Geschichte. Das Licht geht an. Der aufgeregte, aber zur Beherrschung der Situation fest entschlossene Moderator, Peter Schumann, eilt nach vorn. „Meine Damen und Herren, es tut mir sehr leid…“ Also, der Filmapparat ist jetzt vollständig kaputt. Es wird nicht mehr weitergehen. Leiderleider. Man sei auf eine solche Situation nicht vorbereitet. Verärgerung, Laute der Enttäuschung, „Geld zurück!“-Rufe. Der Regisseur und zwei seiner Studentinnen werden zur Diskussion nach vorne gebeten. Das Publikum murrt; es will nicht diskutieren. Es hat 12 Mark bezahlt und will den Film. Der Moderator beschwichtigt: „Wir werden das Ende der Geschichte erzählen“ Das Murren verstärkt sich. Jetzt kommt die Entschlossenheit des Moderators und die Überlegenheit der Verstärkeranlage zum Einsatz „Bitte begreifen Sie doch… nein, das müssen Sie bitte einsehen…“
Der Regisseur, ein bärtiger junger Mann, ergreift das Mikrophon: Es sei schade, betont er… gerade jetzt, wo der philosophische Teil kommt… Er fängt an, die Handlung weiterzuerzählen: Also, der Held trifft jetzt den alten Professor, der den U-Bahn-Wagen entführt und in eine andere Dimension bugsiert hat. Der macht ihm klar, dass das ganze Problem darin besteht, dass die Menschen eben nur glauben wollen, was sie sehen. Da hat er wohl Recht; auch das Kinopublikum will die Geschichte nicht hören, sondern sehen. Wann läuft der Film noch mal? Und wo? Ach Gott, man weiß es nicht! Mitarbeiterinnen laufen hin und her.
Der Moderator setzt sich durch, der Regisseur erzählt weiter. Die Studentinnen stehen mit durchgedrückten Knien daneben. Mittlerweile kommt die Botschaft, dass man den Film wahrscheinlich zwei Tage später noch einmal zeigen wird. Aber nachdem diese gute Nachricht durchgegeben wurde, wird das Chaos komplett. Das Publikum teilt sich in drei Lager: Die einen, die nicht noch mal von vorn anfangen, sondern hier und jetzt das Ende der Geschichte haben wollen, die anderen, die ihr Geld zurückhaben wollen, und eine dritte Gruppe, die nur auf den neuen Termin wartet und sich verbittet, dass man ihr jetzt schon die Pointe verrät.
Konfusion und Aufbruch. Die Organisatoren können die Unmutigen zwar zum Schweigen bringen, aber festhalten können sie sie nicht. Wer ins Kino geht, will eine Geschichte eben sehen, und nicht hören, selbst wenn sie das Gegenteil zur Botschaft hat.“
Ada fragt sich, ob sie einen solchen Text heute auch noch verfassen könnte, jetzt, nachdem sie sich vom Journalismus abgewandt hat. Sie mag die humorige Geschlossenheit nicht mehr. Die Storys finden mit einem kleinen eleganten Schlenker, den man Pointe nennt, in ihr eigenes Flussbett zurück. Sie benicken sich selbst – anders als das Möbiusband, das zwischen sich und seiner Negation endlos irrlichtert. Trotzdem gefällt Ada die alte Geschichte. Wie es wohl weiter gegangen wäre? Sie hätte doch mitgehen sollen.
Pius erzählt später, man habe sich an einem verabredeten S-Bahnhof getroffen. Es wären über 100 Menschen da gewesen. Man wäre durch wildes Gestrüpp gegangen, den Organisatoren hinterher. Man habe auch Zäune überwunden und schließlich einen verlassenen S-Bahnhof erreicht. Die Organisatoren hätten nun von allen Nachrückenden einen Kostenbeitrag, der auch ein Getränk mit einschloss, kassiert. Ada hat das Bild eines Menschen vor Augen, der plötzlich unter seiner Jacke eine Geld-Tasche entblößt, so eine mit einzelnen Münzschächten, wie sie die BVG-Schaffner früher hatten. Nun bedauert sie noch mehr, nicht dabei gewesen zu sein.
Eine Leinwand war schon aufgebaut. Die Zuschauenden setzten sich auf umgedrehte Papierkörbe. Und dann sahen sie den argentinischen Film „Möbius“. Ganz. Und dann löste sich das temporäre Kino auf.
Ada vergisst zu fragen, wie der Film denn nun zu ende geht. Das schaut sie später bei Wikipedia nach: Der Held wird bei seinen Recherchen fast von einer U-Bahn überfahren, gibt auf, steigt in eine beliebige andere Bahn, um nach Hause zu kommen – und ist genau in diesen verschwundenen Zug geraten, was er an verschiedenen Seltsamkeiten feststellt. Er ist also sozusagen auf die andere Seite des Bandes geraten, hinter den Spiegel, und kommt nicht mehr zurück in die wirkliche Welt.
Ada merkt, dass ihr der nachgelesene Ausgang des Films gleich wieder entgleitet. Ohne Ende war er doch vollständiger. Er erfüllt sich durch seine Aufführung. Sie ist in der Vorstellung von Projektionen in wilden Stadtraum-Nischen gefangen. Sie träumt von konsequent illegalen Filmvorführungen, die nicht vorher aufgebaut werden müssen, sondern vollkommen spontan laufen können. Also z.B. so: Fahrrad-Anhänger mit ausziehbarer Leinwand. Zweiter Anhänger mit PA und Vorführtechnik drauf. Dritter Anhänger mit Generator. Man trifft sich, fährt oder geht los, findet einen Platz, rollt aus, und ab geht der Film. Eine Gruppe von Menschen schiebt sich mit Kisten durch das hohe Gras. Sie tauchen zwischen fast zugewachsenen Gleisen wieder auf. Der Blick folgt ihnen über einen zerfallenen Bahnsteig. Im nächsten Bild sieht man hinter alten Lokschuppen den Widerschein der Projektion; man hört, verschliffen und verweht, den Ton des Films. Die Kamera umfährt die Gebäude-Ecken und nähert sich dem Platz des temporären Kinos. Eine Leinwand ist da, mit einem von Nacht umgebenen Bild darauf. Es zeigt Menschen, die Kisten durch hohes Gras ziehen. Der Zwischenraum wird immer schmaler. Die Kamera saugt sich an der Projektion fest. Das Bild füllt das Bild, der Film ist im Film aufgegangen, die Zuschauenden sind von ihm verschluckt.
Man hört das Knattern des Projektors. Der Film muss hier irgendwo sein.