vondigitalkonzentrat 18.08.2020

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Für den Transport von 73 Leitz-Ordner braucht es einen Kleintransporter. Eine Datei von 5 Megabyte ist in wenigen Sekunden um die ganze Welt gewandert.

Wofür hat man sich beim Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) entschieden, als es darum ging, 44.000 Adressen für die Weiterverarbeitung zu dokumentieren? Leider für den Kleintransporter voll mit Papier.

Und so kam es dann zu der bekannten Panne: 949 Coronapatienten haben ihren Befund viel zu spät getelefoniert oder gepostbrieft bekommen. 46 laufen mutmaßlich unwissend ansteckend durch die Gegend, weil mit ihrem Adress-A4-Bogen irgendwas nicht gestimmt hat. Wertvolle Zeit geht ins Land, während irgendwo irgendjemand mit 44.000 Blatt Papier kämpft, Handschriften entziffert, abtippt, Buch führt. FDP und Grüne üben harte Kritik. Coronaheld Söder gelobt Besserung.

Wird es beim nächsten Mal aber wirklich besser? Vermutlich nicht. Weil der Fehler nicht an einer einfachen Verfehlung liegt, sondern an einer von Grund auf falschen Haltung: Prozesskurzsichtigkeit.

Wenn man beim Beginnen einer Sache, sei es noch so überhastet und kurzfristig, nicht den Funken einer Sekunde an die nächsten Schritte denkt, dann ist das zu kurz gedacht und egoistisch. Egoistisch deshalb, weil die Prozesskurzsichtigkeit ein Nach-mir-die-Sintflut-Denken ist. Wer die Adressdaten eines Coronatests auf ein Blatt Papier schreiben lässt, der mutet implizit einer anderen Person zu, die Daten mühsam abzutippen. Der mutet implizit dem getesteten Touristen zu, deshalb tagelang als inkognito Virenschleuder durch die Gesellschaft zu laufen.

Beim Aufstellen eines Prozesses ein Papierformular zu gestalten, darf im 21. Jahrhundert, zumal und gerade in der Stresssituation einer Pandemie, nicht passieren. Kein Verwaltungsmensch, der sich und seine Verantwortung ernst nimmt, darf einen Druckauftrag von fünfzigtausend Papierformularen losschicken. Grundsätzlich nicht. Nie. Als Faustregel.

Auch in der Eile, auch wenn man unter Zeitdruck ist — das Argument von Söder, es gab keine Zeit eine sinnvolle Software zu schreiben, gilt nicht. Mit einfachem Grundlagenwissen kann man sich mit No-Code-Tools zumindest ein rudimentäres System zusammenklicken, das um den Faktor Hundert effizienter ist als der Kleintransporter mit Ordnern voll Papier.

Die Tools dafür reichen von klickibunti einfach bis zu professionell. Zapier, Google Docs mit Formularen, Microsoft Flow, Camunda — all diese Tools lassen in wenigen Stunden zumindest eine Datenerfassung mit Adressdaten zu. Eine Bestätigungs-SMS kann die Telefonnummer in Echtzeit verifizieren. Wenn es Papier sein muss, weil meinetwegen die Proben mit einem Papieraufkleber versehen werden, dann tut es ein QR-Code. Die lassen sich gut vorbereiten und ausdrucken.

Technik allein löst jedoch nicht das Problem der Prozesskurzsichtigkeit. Hier irrt Markus Söder. Es liegt nicht an der fehlenden Software. Vermutlich gäbe es selbst in der konservativsten Behörde eine Handvoll Mitarbeiter, die die Technik in den Griff bekommen. Die Panne auf eine fehlende Software zu schieben, ist eine Ausrede.

Das Problem liegt darin, dass es eine ganz besonders gute Form von Pragmatismus und Überblick braucht. Eine prozessurale Gesamtverantwortung bedeutet, das Ganze zu sehen und das Teil im Ganzen. Das PCR-Testen auf dem Flughafen ist der initiale Teil eines Ganzen, an dessen Ende die automatisierte und schnelle Ergebnisübermittlung und das Management etwaiger Quarantäne stehen muss. Aus einer kleinen Prozesschrittinsel, die man egoistisch hinbasteln kann, muss eine Gesamtverantwortung werden. Denn nur mit der initialen Weitsicht kann der Grundstein für eine sinnvolle Digitalisierung stattfinden. Auch ohne dass Söder eine fertige Software hat.

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kommentare

  • Gute Geschichte mit dem Kleintransporter. Für die Betroffenen wäre es eh nur irreführend gewesen, wenn man sie fälschlich als tatsächlich infiziert behandelt hätte.
    Unabhängig davon kann man jetzt aber unzweifelhaft ermitteln, wer von den scheinbar Infizierten tatsächlich krank wurde.Sprich, der Test wird getestet. Die persönlichen Daten hat man ja.
    Ich bitte die bayrische Landesregierung, mir das Ergebnis mitzuteilen. Auch, falls es blamabel wäre, es der gesamten Bevölkerung einsehbar zu machen.
    Es geht um die Glaubwürdigkeit von Positivtests, an denen ja nicht gezweifelt werden darf.
    Deshalb mussten die Akten verschwinden.

  • Naja, mal langsam. Wir reden hier über personen-bezogene medizinische Informationen. Da ist es nicht angebracht mit Hilfe eines amerikanischen Clicki-Bunti die Daten über Silicon Valley zu leiten. Wie man bei der Corona-Warn-App schon gesehen hat, ist die Technik nicht das Problem. Die ist langweilig. Datenschutz und ähnliches sind die Herausforderung und in dieser Hinsicht ist der Kleintransporter ziemlich gut.

    • Guter Punkt. Adressdaten sind erstmal nur personenbezogene Daten. Und die genannten Dienste sind alle DSGVO-kompatibel. Zu medizinischen Daten werden sie erst, wenn das Testergebnis mit im System gespeichert wird.

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