Gerichte haben 2018 bundesweit in 5.104 Verfahren Maßnahmen zur Überwachung der Telekommunikation nach § 100a StPO angeordnet. Gegenüber 2017, wo 5.629 Verfahren betroffen waren, bedeutet dies einen Rückgang um 9,3 %. Die Zahl der in den Verfahren ergangenen Überwachungsanordnungen ist allerdings um 4,4 % von 18.651 auf 19.474 gestiegen. Wie in den vergangenen Jahren waren es überwiegend Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz (knapp 45 Prozent), die den Anlass für die Überwachungsmaßnahmen lieferten. Ermittlungen im Zusammenhang mit Kinderpornografie waren in 0,2 % der Fälle Anlass für die Anordnung von Überwachungsmaßnahmen. Nicht enthalten in diesen Zahlen sind Abhörmaßnahmen der in- und ausländischen Nachrichtendienste. Die entsprechende Statistik wurde am 22. Januar 2020 vom Bundesamt für Justiz veröffentlicht.
Instrumentalisierung der Kinderpornografie
Vor gut zehn Jahren (2009) als Ursula von der Leyen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend war und das Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen (kurz Zugangserschwerungsgesetz – ZugErschwG) vorbereitete, bekam von der Leyen den Spitznamen „Zensursula“ . Kritiker sahen in dem Gesetz eine massive Einschränkung der Grundrechte, da die zur Sperrung errichtete Infrastruktur problemlos für weitere Zensur-Maßnahmen verwendet werden könne, indem sie eine Kontrolle unliebsamer Inhalte ermögliche und „Echtzeitüberwachung“ umsetze. Das 2010 in Kraft getretene Gesetz wurde de facto nicht angewendet und im Dezember 2011 vorzeitig aufgehoben. Die Infrastruktur für eine „Echtzeitüberwachung“ wurde dennoch weiter ausgebaut und es wurden große Anstrengungen unternommen, um den sogenannten „Bundestroyaner“ einsatzfähig zu machen.
In den Plenarprotokollen des Bundestages wurde im Jahr 2009 das Wort Kinderpornografie über 200 mal erwähnt, die Worte Betäubungsmittelgesetz (BtMG) respektive Betäubungsmittelgesetzes insgesamt jedoch nur 7 mal. Auch in den großen Massenmedien wurde massiv Propaganda für die Verschärfung der Überwachung der Telekommunikation gemacht aufgrund der angeblich weit verbreiteten Kinderponografie. Mit diesem Framing sollte die Akzeptanz für mehr Überwachung in der Bevölkerung gefördert werden. Der Hauptgrund für die anvisierten Maßnahmen – Ermittlungen in Sachen BtMG – wurde selten bis nie in diesem Zusammenhang genannt.
Lauschende Drogenfahnder
In Deutschland wurden in den letzten Jahren knapp die Hälfte aller Überwachungsmaßnahmen von Telekommunikation im Justizbereich bei Drogendelikten durchgeführt. Das geht aus den jährlichen Statistiken des Bundesjustizamts (BfJ) hervor. Den Jahresübersichten des Bundesministeriums für Justiz kann entnommen werden, aufgrund welcher einzelnen Katalogtat des § 100a Strafprozessordnung (StPO) die Überwachungen angeordnet wurden. Die meisten Abhörmaßnahmen wurden wegen Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz aufgrund von § 100a Abs. 2 Nr. 7a und Nr. 7b StPO angeordnet. Im Jahr 2010 wurden hierzu 6.880 Fälle registriert (33,7 % aller Fälle). Im Jahr 2018 waren es 8.746 Fälle (44,9 % aller Fälle) und im Jahr 2017 waren es 8.827 Fälle (47,4 % aller Fälle). Im Zusammenhang mit der Verbreitung, dem Erwerb und dem Besitz von Kinderpornographie wurden im Jahr 2010 lediglich 19 Fälle registriert (0,1 % aller Fälle). Im Jahr 2018 waren es 46 Fälle (0,2 % aller Fälle) und im Jahr 2017 waren es 39 Fälle (0,2 % aller Fälle). Kinderpornographie spielte in den letzten Jahren bei der Telekommunikationsüberwachung in der Praxis nur eine marginale Rolle, ganz im Gegensatz zur medialen Berichterstattung bezüglich dieses Themenkomplexes.
Die meisten Überwachungen der Telekommunikation wurden im Bereich Drogen angeordnet. Zu keinem anderen Bereich wurden so viele Überwachungsmaßnahmen angeordnet. Drogenkontrollmaßnahmen – nicht nur bei der Telekommunikationsüberwachung – sind jedoch als ineffizient und nutzlos zu klassifizieren, da sie ein großes Hindernis zur Einführung von neuen Strategien, um das Problem sowohl auf globaler wie auf lokaler Ebene anzugehen, darstellen. Es ist zu befürchten, dass die Verstärkung der aktuellen Politik zu einer Verschlechterung der Drogensituation beiträgt und zunehmend die Glaubwürdigkeit dieser Politik in der breiten Öffentlichkeit im allgemeinen schwindet. So erklärte beispielsweise der Ex-UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar bereits im Jahre 1998:
„Wir glauben, dass der weltweite Krieg gegen Drogen derzeit mehr Schaden anrichtet als der Drogenmissbrauch selbst… Die Fortsetzung unserer aktuellen Politik wird nur zu mehr Drogenmissbrauch, mehr Macht für Drogenmärkte und Kriminelle, mehr Krankheit und Leid führen.“
Und die Globale Kommission zur Drogenpolitik unter Federführung von Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annan ließ schon im Juni 2011 verlauten:
„Beendet die Kriminalisierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen, die Drogen gebrauchen und dabei anderen Menschen keinen Schaden zufügen.“
Zur Situation in den einzelnen Bundesländern
Im Schnitt gab es in Deutschland im Jahr 2018 pro 100.000 Einwohner 23,5 Anordnungen zur Überwachung der Telekommunikation. In Hessen, Hamburg und Berlin waren es mehr als doppelt so viele, im Saarland sowie in Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen waren es weniger als halb so viele.
Im Schnitt gab es in Deutschland im Jahr 2018 pro 100.000 Einwohner 10,6 Anordnungen zur Überwachung der Telekommunikation aufgrund von Ermittlungen in Sachen BtMG. In Hessen waren es mehr als dreimal so viele, in Hamburg mehr als doppelt so viele, in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen waren es weniger als halb so viele.
Betrachtet man die Relation der BtMG-Überwachungsanordnungen zu allen Überwachungsanordnungen, sieht man, das im Saarland mehr als zwei Drittel und in Hessen und Thüringen knapp zwei Drittel der Anordnungen Ermittlungen in Sachen des BtMG betrafen. Mehr als die Hälfte der Anordungen hierzu gab es in Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Bremen, Brandenburg und Hamburg. In Berlin und in Niedersachsen waren es jedoch nur gut ein Drittel.
Fazit
In Hamburg und in Hessen gab es mehr Anordnungen zur Überwachung der Telekommunikation, sowohl betreffend BtMG als auch insgesamt, als in allen anderen Bundesländern. Hamburg hatte 2018 auch den höchsten Repressionskoeffizienten von allen Bundesländern. In Hamburg wurden 726 BtM-Delikte pro 100.000 Einwohner registriert, mehr als doppelt so viele wie in Sachsen, Schleswig-Holstein, Brandenburg oder im Saarland. Die Zahl der erfassten BtM-Delikte lag 2018 mehr als 25 % über dem Vorjahresniveau. In keinem anderen Bundesland wurde eine so massive Zunahme festgestellt. Andy Grote (SPD) hat den Posten des Innen- und Sportsenators seit Januar 2016 inne. Aufgrund der hier gezeigten Daten kann Andy Grote mit Fug und Recht als der aktivste Repressionist in Deutschland bezeichnet werden. Ob sein Aktionismus jedoch hilft, die akuten Probleme zu lösen, ist eine ganz große Frage für viele Hamburgerinnen und Hamburger.
Vergleiche hierzu in diesem Blog
[11.07.2019] Mortlers Wirken im Lichte der Kriminalstatistik
[25.09.2018] Drogen im Fokus der Lauschangriffe
[09.02.2015] Lauschende Drogenfahnder
[14.01.2012] Drogen- statt Kinderpornofahndung
Oh wow, dann waren alleine 45% der Verstöße in dem Jahr Betäubungsmittel-Verstöße. Woran liegt das denn? Ich würde gerne mal mit einem Anwalt für Betäubungsmittel-Verstöße darüber sprechen. Das wäre sicherlich interessant.