Gemäß Pressemitteilung des Deutschen Hanfverbandes (DHV) vom 20. April 2020 hatte Jugendrichter Andreas Müller vom Amtsgericht Bernau im September des letzten Jahres angekündigt, sich in zwei von ihm ausgesetzten Verfahren an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu wenden, um das aus seiner Sicht verfassungswidrige Verbot von Cannabis prüfen zu lassen. Müller hat den Normenkontrollantrag mit ausführlicher Begründung an das höchste deutsche Gericht am 20. April 2020 übermittelt.
In der Pressemitteilung des Amtsgerichts Bernau heißt es hierzu:
„Das Amtsgericht Bernau bei Berlin hat am 18. September 2019 zwei Strafverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz ausgesetzt und gemäß Artikel 100 Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Der Strafrichter hat erklärt, dass er alle Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes für verfassungswidrig hält, soweit sie Cannabisprodukte nach der Anlage I zu § 1 Abs. 1 Betäubungsmittelgesetz (BtmG) mit der Folge aufführen, dass der unerlaubte Verkehr mit diesen Stoffen den Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegt. Hilfsweise hält er (zumindest) die Strafvorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtmG in der Alternative des Erwerbens i.V.m. Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtmG für verfassungswidrig.“
Den Vorlagenbeschluss hat das Amtsgericht Bernau als PDF-Datei (141 Seiten, 1,4 MB) online für jedermann verfügbar gemacht.
26 Jahre nach de letzten Entscheidung zu Cannabis ist das Bundesverfassungsgericht nun erneut dazu aufgerufen, über die Verfassungskonformität des Cannabisverbots zu entscheiden. Der bekannte Richter hat sich damit gemäß Artikel 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) direkt an das Bundesverfassungsgericht gewandt, welches nun über den vorgelegten Normenkontrollantrag entscheiden muss. Mit den vorliegenden Fällen will Müller den Karlsruher Richtern aufzeigen, dass das Betäubungsmittelgesetz in Bezug auf Cannabis weder verhältnismäßig, noch geeignet, noch erforderlich ist.
Grundlage für den Normenkontrollantrag des Bernauer Richters ist eine Mustervorlage des Deutschen Hanfverbandes im Rahmen einer Justizoffensive. Der DHV fordert nun weitere Richter auf, sich der Initiative anzuschließen und das Cannabisverbot ebenfalls in Karlsruhe überprüfen zu lassen.
Der Cannabisbeschluss von 1994
Vor 26 Jahren wurde das strafrechtliche Cannabis-Verbot vom Bundesverfassungsgericht für verfassungsmäßig erklärt. Seither ist auch hier eine Basisbewegung entstanden, z.B. der Hanfverband. Nun drängt die Thematik in der westlichen Welt mit Macht auf die rechtspolitische Agenda. Auf der Basis einer Resolution des Schildower Kreises, eines lockeren Zusammenschluss von Experten im Drogenbereich, appellierten deshalb vor mehr als sechs Jahren 123 Universitätsprofessorinnen und -professoren des Strafrechts an die Abgeordneten des Bundestages. Sie fordern, der Aufforderung des BVerfG von 1994 nun endlich nachzukommen: zwecks Reform des BtMG soll das Parlament eine Enquête-Kommission zu den „beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen der Drogenprohibition“ einrichten. Das Parlament ist bis heute auf diese Forderung nicht eingegangen.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist bei zahlreichen Juristen auf Kritik gestoßen. Aus verfassungsrechtlichen und strafrechtstheoretischen Prinzipien ist die Legitimität der faktischen Kriminalisierung des Konsums bestimmter Drogen zu bestreiten: verletzt sind das Rechtsgutsprinzip, das Freiheitsprinzip aus Art. 2 Abs.1 GG und das Gleichheitsprinzip aus Art. 3 GG. Des weiteren verstößt die Drogenprohibition unter zweckrationalen Gesichtspunkten gegen das herausragende Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit. Aus diesem und seinen Unterprinzipien ergibt sich insbesondere, dass der Gesetzgeber nicht nur bei der Schaffung von Gesetzen, sondern auch im Verlauf von deren Anwendung eine Überprüfungspflicht hat. Er muss auf deutliche Veränderungen in der sozio-politischen Wirklichkeit und in der Wissenschaft, erst recht auf Fehlfunktionen eines Gesetzes reagieren. Vergleiche hierzu: Prof. Dr. jur. Dipl.-Psych. Lorenz Böllinger: Die Obsoletheit des Cannabisverbots; Beitrag zur Expertenanhörung Sitzung Gesundheitsausschuss des Bundestages, 27.06.2018
In der Entscheidung vom 09. März 1994 (BVerfGE 90, 145 – Cannabis) waren sich nicht alle Richter/innen einig. Es gab mehrere abweichende Meinungen zum Beschluss insgesamt, so von der Richterin Graßhof:
„[Abs. 194] Durch Strafrecht kann der Gesetzgeber daher den Zweck eines Rechtsgüterschutzes nur verfolgen, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Dieser Maßstab unterwirft eine Strafnorm der verfassungsrechtlichen Überprüfung auf zwei Ebenen: Es geht einmal darum, ob in dem Straftatbestand zum Schutze des jeweiligen Rechtsguts Strafe angedroht werden kann. Zum anderen stellt sich die Frage, ob Art und Höhe der angedrohten Strafe den Anforderungen der Verfassung standhalten (vgl. dazu auch BVerfGE 37, 201 [212]). Hierbei ist – worüber im Senat Einigkeit besteht – die Prüfung der Verhältnismäßigkeit auf drei Stufen vorzunehmen. Zunächst muß das strafrechtliche Verbot geeignet und erforderlich sein, das Rechtsgut zu schützen; auf der dritten Stufe ist danach zu fragen, ob die Maßnahmen zum Schutze des Rechtsguts den Betroffenen nicht unzumutbar belasten.“
Auch eine abweichende Meinung des Richters Sommer ist dem Beschluss beigefügt:
„[Abs. 231] Nach den Feststellungen des Senats (vgl. Beschluß C.I.2.c und 3) ist diese Gefahreneinschätzung heute umstritten: Die von Cannabisprodukten ausgehenden Gefahren für die durch das Betäubungsmittelgesetz geschützten Rechtsgüter stellten sich als geringer dar, als der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes angenommen habe. Die unmittelbaren gesundheitlichen Schäden bei mäßigem Genuss seien als eher gering anzusehen. Während körperliche Abhängigkeit weitgehend verneint werde, sei die Möglichkeit einer leichten psychischen Abhängigkeit kaum umstritten; gleichwohl werde das Suchtpotential der Cannabisprodukte als sehr gering eingestuft.
[Abs. 232] Nach meiner Auffassung kann auf der Grundlage dieses Standes wissenschaftlicher Erkenntnis die Gefahreneinschätzung durch den Gesetzgeber, die freilich nur eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegt (vgl. BVerfGE 88, 203 [262 f.]), in bezug auf Cannabisprodukte nicht länger unverändert zugrunde gelegt werden. Der einer Beobachtungs-, Prüfungs- und Nachbesserungspflicht unterliegende Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 65, 1 [55 f.]; 88, 203 [309 f.]) muss bereits gegenwärtig Korrekturen – und zwar an den zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellten materiellen Straftatbeständen – vornehmen, um einen Verstoß gegen das Übermaßverbot zu beheben; eine bloße weitere Beobachtung und Prüfung in der Zukunft (vgl. Beschluß C.I.6.) genügt nicht. [Abs. 234] Als Folge der Weitergabe von Cannabis (Handel, Abgabe) können auch nicht in vollem Umfang verantwortungsfähige Abnehmer gefährdet werden.“
Das oberste deutsche Gericht entschied zwar, dass das Cannabisverbot durch den Ermessensspielraum gedeckt sei, den das Grundgesetz dem Gesetzgeber einräumt, beschränkte jedoch gleichzeitig die kriminellen Sanktionen, die bei der Durchsetzung des Gesetzes eingesetzt werden dürfen und verpflichtete die Bundesländer zur effektiven Angleichung der Strafverfolgungspraxis. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Ausland zu berücksichtigen um in Zukunft zu entscheiden, ob das Strafrecht tatsächlich das geeignetste Mittel ist um die angestrebten Schutzfunktionen zu erreichen.
Ignorierung des Beschlusses durch den Gesetzgeber
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte sich, wie bereits erwähnt, 1994 mit dem Cannabis-Verbot beschäftigt. Es ist vor allem darauf hin zu weisen, dass das BVerfG in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1994 dem Gesetzgeber aufgegeben hat, anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse das Cannabis-Verbot regelmäßig zu überprüfen und ggf. nachzubessern oder aufzuheben. Dieser Verpflichtung ist der Gesetzgeber bis heute nicht nachgekommen. Auch seitens der Bundesregierung erfolgte diesbezüglich – ausgenommen in Bezug auf Cannabis als Medizin – keinerlei Initiative zum Beispiel durch Erarbeitung einer Gesetzesvorlage. Ganz im Gegenteil, die Bundesregierung unterdrückte auf abenteuerlicher Weise im Jahr 2002 die Stellungnahme der Drogen- und Suchtkommission zur Verbesserung der Suchtprävention.
Nach der Jahrtausendwende gab es wiederum einen skandalösen Versuch seitens der Bundesregierung, wesentliche Informationen zur drogenpolitischen Realität zu unterdrücken. Das Bundesministerium für Gesundheit hatte im Jahr 1999 eine Drogen- und Suchtkommission berufen, der hochkarätige Expertinnen und Experten aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaften, Sozialwissenschaften sowie ein Vertreter der Betroffenen und ein Journalist und Praktiker angehörten. Das 14-köpfige Gremium hatte sich am 8. Dezember 1999 in Berlin konstituiert. Die Aufgabe der Kommission war es, Empfehlungen zur Verbesserung der Suchtprävention auszuarbeiten. Des Weiteren sollte die Kommission dazu beitragen, einen neuen Nationalen Aktionsplan Drogen und Suchtmittel zu entwickeln, der die wichtigen Aspekte und Maßnahmen in diesem Bereich auf allen Ebenen umfassen sollte.
Am 4. Juni 2002 hatte die Drogen- und Suchtkommission der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk (SPD), ihren Abschlussbericht zur Verbesserung der Suchtprävention übergeben. Damals hatte das Gesundheitsministerium zu diesem Anlass eine Pressemitteilung mit dem Titel „Politik der Bundesregierung sieht sich durch das Votum der Drogen- und Suchtkommission bestätigt“ veröffentlicht. Sowohl die Pressemitteilung (Nr. 13 vom 4. Juni 2002) als auch eine Vollversion des Abschlussberichtes der Drogen- und Suchtkommission konnte man über mehrere Monate hinweg auf der Website des Gesundheitsministeriums abrufen. Doch später auf einmal suchte man jedoch auf der Website des Ministeriums vergeblich nach diesen beiden Dokumenten. Sie wurden einfach wieder entfernt. Und damit dies nicht allzu auffällig erschien, wurde bei allen Pressemitteilungen der Drogenbeauftragten aus den Jahren 2001 und 2002 die Nummerierung ebenfalls entfernt. Mit nahezu akribischer Präzision wurden hier nach klassischer Geheimdienstmanier wie zu Stalins Zeiten in der Sowjetunion Dokumente aus Verzeichnissen entfernt, um das in diesen amtlichen Dokumenten transportierte Gedankengut besser ausmerzen zu können. Es sei hier angemerkt, dass die hierfür verantwortlichen Politikerinnen in Westdeutschland (BRD) und nicht in der DDR sozialisiert wurden.
Nach wie vor baute die amtliche Drogenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland auf die fachliche Unkenntnis der Bevölkerung und unterschlug deshalb systematisch wichtige Informationen, um den Stand der allgemeinen Unkenntnis nicht zu gefährden. Beispielsweise wurde im Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vom 29. April 2003 der Abschlussbericht der Drogen- und Suchtkommission vom Juni 2002 erwähnt (S. 21), jedoch ohne der Angabe einer Bezugsquelle und unter Unterschlagung wichtiger Empfehlungen der Kommission wie:
„Vielmehr ist besonderes Augenmerk auf mögliche schädliche Nebenwirkungen solcher Gesetze (z. B. Stigmatisierung bestimmter Personengruppen, negative Effekte durch Inhaftierungen etc.) zu richten. Zudem sollten Gesetze regelmäßig evaluiert und daraufhin überprüft werden, ob die in sie gesetzten Erwartungen auch tatsächlich erfüllt worden sind. Sollte die (unabhängige) Evaluation zu dem Ergebnis kommen, dass dies nicht der Fall ist, dann sind die Gesetze abzuschaffen, im Ausnahmefall auch zu ändern.“ [S. 30]
„Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren aus politischen Erwägungen mit dem § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10, 11 und 12 BtMG besondere Tatbestandsformen der Beihilfe zum Konsum geschaffen und mit Strafe bedroht, obwohl vonseiten der Strafverfolgung hier kein Bedürfnis bestand. So zeigen denn auch die Statistiken der Strafverfolgungsbehörden, dass diese Vorschriften nicht zu Verurteilungen führen, aber von den politischen Parteien bei der Bewertung von Drogenhilfe und Therapiemaßnahmen häufig zitiert werden. Die Lösung der Probleme wäre deshalb eine ersatzlose Streichung dieser Vorschriften.“ [S. 31]
Fazit
Die Erkenntnis, dass das BtMG „unrichtiges Recht“ ist, dass die Umsetzung dieses Rechts sozialschädliche Folgen hat und das die Prohibitionspolitik die Merkmale eines Verbrechens aufweist, lässt – um Gerechtigkeit und sozialer Frieden zu gewährleisten und Schaden vom Volk abzuwenden – nur eine logische Konsequenz zu: das BtMG muss aus wissenschaftlicher und rechtlicher Perspektive völlig überarbeitet werden respektive einige Passagen ersatzlos gestrichen werden, um Schaden vom Volk abzuwenden. Bei einer Novellierung des BtMG sollten auf jeden Fall die Förderung von Drogenkompetenz, Drogenmündigkeit sowie die Förderung zur Befähigung eines realistischen Risikomanagements implementiert werden und auf Strafmaßnahmen bei Handlungen, die keine Drittpersonen gefährden, völlig verzichtet werden.
Vergleiche hierzu: Hans Cousto (2010): Daten und Fakten zum deutschen Betäubungsmittelgesetz (BtMG) und Rechtsanwalt Volker Gerloff (2016): Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen: Legalisierung von Cannabis / Korrektur der Anlage I zum BtmG – Klage auf Cannabis-Legalisierung in Deutschland.
Hallo IndemFalllieberAnonym,
das stört den Hans hier schon lange und das kannst Du nachlesen, https://blogs.taz.de/drogerie/tag/drogentote/ und er weist genau das darin nach:
„Der grösste Teil der Drogentoten ist eine direkte Folge der Kriminalisierung“, der Repression.
Prohibition tötet.