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Der Bär flattert in munter östlicher Richtung.
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Mittwoch, den 10. August
Beim Frühstück lasen wir Zeitung, alles drehte sich um die aktuelle Banken- und Finanzkrise. Wir sprachen über ›Money‹, das Liza Minnelli und Joel Grey in ›Cabaret‹ sangen,
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zogen ›Leb’ wohl Berlin‹ von Christopher Isherwood aus dem Regal und stießen – tolle lege – auf das passende Zitat:
Am nächsten Morgen weckte Fräulein Schröder mich aufgeregt auf: »Herr Issyvoo, was sagen Sie dazu? Sie haben die Darmstädter und Nationalbank geschlossen! Es sollte mich nicht wundern, wenn da Tausende ruiniert sind! Der Milchmann sagt, in vierzehn Tagen haben wir Bürgerkrieg. Was sagen Sie bloß dazu?«
Sobald ich angezogen war, ging ich auf die Straße hinunter. Tatsächlich stand eine Menschenmenge vor der Bankfiliale Ecke Nollendorfplatz, Männer mit ledernen Aktentaschen und Frauen mit Einkaufsnetzen – Frauen wie Fräulein Schröder. Die Eisengitter an den Fenstern waren heruntergelassen. Die meisten Leute starrten gespannt und reichlich dumm die verschlossene Tür an. In der Mitte der Tür hing eine kleine Mitteilung, wunderschön in gotischen Buchstaben gedruckt wie die Seite eine Klassikerbandes. Die Mitteilung besagte, dass der Reichspräsident für die Depots garantiere. Alles war in schönster Ordnung, nur die Bank machte nicht auf.
Inmitten der Menge spielte ein kleiner Junge mit einem Reifen. Der Reifen rollte einer Frau an die Beine. Sogleich ergoss sich ein Redeschwall über ihn: »Du, sei bloß nicht so frech! Du unverschämter Knirps! Was willst du hier?« Eine andere Frau kam dazu und fiel über den erschreckten Jungen her: »Mach’, dass du wegkommst!« Und eine andere fragte wütend und sarkastisch: »Hast du vielleicht auch dein Geld auf der Bank?« Der Junge floh vor der angestauten Wut, die sich über ihn ergoss.
Am Nachmittag war es sehr heiß. Einzelheiten über die neue Notverordnung standen kurz und bündig als offiziöse Nachrichten in den frühen Abendblättern. Eine alarmierende Schlagzeile, blutrot unterstrichen, sprang in die Augen: »Totaler Zusammenbruch!« Ein Nazi-Journalist erinnerte seine Leser daran, dass morgen, am vierzehnten Juli, Nationalfeiertag in Frankreich sei; zweifellos, fügte er hinzu, würden die Franzosen im Hinblick auf Deutschlands Niedergang dieses Jahr besonders begeistert feiern. Ich ging in einen Laden für Reiseartikel und kaufte mir ein Paar Flanellhosen von der Stange für zwölf Mark fünfzig – als englische Vertrauenskundgebung. Dann setzte ich mich in die Untergrundbahn und besuchte Sally.
Sie wohnte nicht weit vom Breitenbachplatz in einem Block von Dreizimmerwohnungen, der als Künstlerkolonie gedacht war. Als ich klingelte, öffnete sie selbst.
»Tag, Chris, du altes Schwein!«
»Tag, Sally, mein Liebling!«
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Aus: ›Goodbye to Berlin‹, 1935 by Christopher Isherwood.
1945 by New Directions. Aus dem Englischen von Susanne Rademacher
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Donnerstag, den 11. August
Blick aus Jörgs Büro
Nachmittags wollten wir wegen der Buchmesse den Flug nach Frankfurt buchen und stellten fest, wir waren zu spät. Zum Spartarif gab es nur noch 6 freie Plätze, wir buchten sofort. Aber zurück müssen wir die Bahn nehmen, kein Flug zum Spartarif war mehr frei.
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Freitag, den 12. August
F. W. Bernstein brachte uns neue Zeichnungen für unser gemeinsames Buch ›Kriemhilds Lache‹ vorbei. Der Mann ist einfach Klasse! Unsere Geschichten kennen wir ja schon, aber F.W. Bernsteins Illustrationen überraschen uns immer wieder.
Danach arbeiteten wir weiter an den Texten. Abends um sechs hing bedrohlich eine Gewitterwolke über uns.
Blitz, Donner und Wolkenbruch, danach ein prächtiger Regenbogen. Wir wünschten uns was.
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Samstag, den 13. August
Die Wahlbenachrichtigungen trafen ein. Wir telefonierten mit Christiane Ensslin und Klaus Jünschke und diskutierten, ob man wählen gehen soll. Wir tun es aus Prinzip, Gewohnheit und anderen albernen Gründen, die in kein anarchistisches Weltbild passen.
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Sonntag, den 14. August
Heute wollten wir mal nichts tun, gingen spazieren, kaum einer war unterwegs bei diesem miesen Wetter. Danach sichteten wir die Bücherstapel, die sich angesammelt hatten und entdeckten schöne Texte. Barbara: ›Hypnose und Suggestion. Ein Überblick über den modernen Hypnotismus und die Suggestion und ihre praktische Bedeutung‹ von Dr. med. Hans-Theodor Sanders, Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Stuttgart 1921.
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Jörg: ›Die Nachtwandler. Das Bild des Universums im Wandel der Zeit‹ von Arthur Koestler, Scherz Verlag, Bern, München, Wien 1959. »Unser hypnotisches Geknechtetsein durch zahlenmäßige Aspekte der Realität hat unser geistiges Wahrnehmungsvermögen für nicht quantitative moralische Werte abgestumpft; die daraus abgeleitete Der-Zweck-heiligt-die-Mittel-Ethik mag ein Hauptfaktor unseres Verderbens sein. Andererseits kann vielleicht das Beispiel von Platons Kreisbesessenheit, von Aristoteles’ Pfeil, von Kanonikus Koppernigks achtundvierzig Epizykeln und seiner moralischen Feigheit, von Tychos Größenwahn, Keplers Sonnenspeichen, Galileis Tricks und Descartes’ Erbsenseelen eine ernüchternde Wirkung auf die Anbeter des neuen Baal ausüben, der mit seinem Elektronenhirn das moralische Vakuum regiert.« (März 1955 bis Mai 1956)
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Montag, den 15. August
Und immer noch Ärger wegen der defekten Fenster! Wir hatten dem Vermieter vorgeschlagen,, uns an den Reparaturkosten in Höhe von 1.988,- € mit 500,- € zu beteiligen, damit endlich Ruhe einkehrt. Die Rechtsanwältin unseres Vermieters fordert daraufhin eine Beteiligung von 1.500,- €. Einfach so!
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(CI / AK / BK / JS)