Meerjunglesben spielen Poker, Donald Trump fickt Männer und Berlins Homos sind einsam. Ein Rundgang durch das 12. Pornfilmfestival als ausführlicher Longread.
Berlin taz | Honig läuft einen Körper hinab, langsam bahnt sich die transparent-goldene Flüssigkeit ihren Weg, vermischt sich mit dem Glitzer, der auf die Haut aufgetragen ist. Dicke und dünne Fäden zieht der Honig. Er scheint den Körper, dessen Wärme ihn immer flüssiger werden lässt, zu erkunden – Arme, Beine, Gesicht, Brüste, Vulva.
Hände kommen ins Spiel, verschmieren lustvoll, schließlich gleiten Zungen über die Haut, lecken den Honig. Längst ergänzt der Kopf von selbst, was die Augen auf der Leinwand sehen: Gerüche, Geschmäcker, Hautempfinden.
Der französische Kurzfilm HONEYDEW versteht es auf faszinierende Weise, den Genuss am sexuellen Spiel mit Honig eingängig zu machen.
Zu sehen war diese Arbeit in der Reihe „Fetisch Porn“ des Pornfilmfestivals Berlin 2017, welches am Sonntag, 29. Oktober 2017 im Berliner Kino Moviemento zu Ende ging. Lebensmittel bildeten eine Art thematischen roten Faden in dieser Kurzfilmrolle, wenngleich Arbeiten zu Fetischklassikern wie Spanking, SM und Bondage ebenfalls stark vertreten waren.
Die Butter im Arsch
Heraus stachen trotzdem die Beschäftigungen mit jenen Dingen, die wir täglich zu uns nehmen und die dabei unerwartet viel sexuelles Erregungspotenzial beinhalten. Früchte und Menschen in Folien, urindurchtränkte Baguettes in Pissoirs, Frauenkörper in Aspik – und Butter im Po: Im Film BREAKFAST IN BED findet kalte Butter aus dem Kühlschrank ihren Weg auf den Toast nur über einen Umweg, nämlich den Arsch. Wie praktisch, dass in den USA Butter in eher schmalerer, länglicher Form abgepackt wird und nicht so klobig wie bei uns.
Knapp 160 Filme zeigte das 12. Pornfilmfestival Berlin in sechs Tagen. 15 verschiedene Kurzfilmrollen, von den „Female Porn Shorts“ über „Discovery Porn Shorts“ bis zu den „Experimental Porn Shorts“, markierten dabei traditionell das Herz des Programms. Hinzu kamen zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme, darunter auch prominente Highlights der vergangenen Berlinale, wie etwa PIELES von Eduardo Casanova und THE MISANDRISTS von Bruce LaBruce oder Alain Guiraudies Wettbewerbsbeitrag im Filmfestival von Cannes 2016, RESTER VERTICAL.
Porno ist im Kontext des Pornfilmfestivals eher als Überbegriff zu verstehen, unter dem Filme einen Platz finden, die sich mit der schier endlosen Bandbreite menschlicher Sexualitäten und sexueller Identitäten auseinandersetzen.
Thinktank für alternative, sexpositive Bewegtbilder
Das Kurator*innen-Team um die Verlegerin Manuela Kay, den FilmproduzentInnen Paula Alamillo und Jürgen Brüning sowie dem Journalisten Jochen Werner legt dabei, und dies ist im Kontext des Festivalprogramms ebenfalls wichtig zu verstehen, wenig Wert auf die Abbildung aktueller Produkte der herkömmlichen (meint männlich-heteronormativ dominierten) Pornoindustrie. Schlichte Masturbationshilfen wird man(n) in diesem Festival also keine finden.
Seit seiner Gründung hat sich das Festival zu einer Art Thinktank und Bühne zugleich für alternative, sexpositive, unabhängig produzierte und vor allem feministisch sehr umtriebige pornografische (im weitesten Sinne) Bewegtbilder entwickelt.
Und das Publikum, in seiner Gesamtheit mindestens so divers wie die Filme und ihre Macher*innen, scheint diesen Ansatz anzuerkennen, jedenfalls hangelt sich das Festival seit Jahren von einem Besucherrekord zum nächsten. Rund 9.000 Tickets wurden für den Festivaljahrgang 2017 gelöst, in dem erneut Filme aus den Kategorien Spielfilm, Kurzfilm und Dokumentarfilm mit den Pornfilmfestival Awards prämiert wurden.
Frauen, die aufs Kinderkriegen verzichten
Der undotierte Dokumentarfilmpreis, vergeben durch das Kurator*innen-Team, ging an die italienische Arbeit LUNADIGAS. Auf Sardinien nennt man Schafe, die keine Kinder bekommen können, „Lunàdigas“. Die Filmemacherinnen Nicoletta Nesler und Marilisa Piga wählen diesen Begriff als Selbstbezeichnung für einen Umstand, der in Italien keinen Namen hat und nicht thematisiert wird: Frauen, die darauf verzichten, Kinder zu bekommen.
In der katholisch-konservativen Gesellschaft des Landes nach wie vor ein Unding, über das besser zu schweigen ist. Doch die Filmemacherinnen finden für ihre emotional äußerst kluge und warmherzig erzählte Dokumentation eine große Bandbreite an Frauen, die ihre Kinderlosigkeit sehr wohl zu thematisieren wissen. Fragen der (sexuellen) Selbstbestimmung werden genauso kritisch erörtert wie grassierende Vorurteile und scheinbar ewig währende Geschlechterstereotype.
Nicoletta Nesler und Marilisa Piga gelingt ein intellektuell äußerst anregender Film, der es noch dazu regelrecht virtuos versteht, immense Mengen von Stimmen und Meinungen zu transportieren, ohne dass sich Redundanzen oder Langeweile einstellen. Damit wird die LUNADIGAS auch über das primäre Thema hinaus sehr sehenswert.
Sonnenstrahlen brechen sich auf spuckefeuchtem Penis
Mit 500 Euro sind jeweils die Preise für den besten Kurzfilm und den besten Spielfilm dotiert. Die Kurzfilmjury, 2017 bestehend aus den Festivalmacher*innen Ingo Candy (London Porn Film Festival), John Bandalu (Q! Filmfestival Jakarta) und Yavuz Kurtulmus (Transition Queer Minorities Festival Wien), kürte die deutsche Produktion FLOWER von Matt Lambert zum Sieger.
In einem eher durchschnittlichen Wettbewerbsjahrgang, dessen Filme über weite Strecken zu bemüht und wenig lebendig wirkten, konnte sich der Filmemacher mit seiner Arbeit für das schwule Pornolabel Helix durchsetzen. Lambert erzählt binnen 17 Minuten von einer Gruppe junger Männer (im Pornoslang einfach nur „Twinks“ genannt) und ihrem gemeinsamen Wochenende zwischen Party, Punkrock und intensivem Sex miteinander.
Dabei findet er atmosphärisch äußerst dichte und flirrende Bilder, die die frappierende Makellosigkeit und Schönheit seiner Performer genauso feiern wie deren gleichermaßen verspielte und zärtliche sexuelle Interaktionen. Wenn sich warmes Sonnenlicht auf einem spuckefeuchten, kondomfreien Penis bricht, der für einen kurzen Moment aus einem makellosen Arsch gezogen wurde, nur um dann erneut lustvoll hineingestoßen zu werden, dann kann man das, durchaus nicht zu Unrecht, als visuellen Overkill abtun und als Kitsch. Oder man schließt sich dem Votum der Jury an und feiert mit FLOWER eine der im Wortsinne schönsten filmischen Darstellungen schwuler Sexualität seit Jahren.
Mit dem Hang zur Groteske
Für einen ebenfalls eher diskussionswürdigen Kandidaten entschied sich die Spielfilmjury um die Journalistin und taz-Autorin Jenny Zylka, die Designerin Petra dos Santos und den Mitbegründer des Filmkritikportals critic.de, Frederic Jaeger.
Sie prämierten die argentinische Produktion LA NOCHE des Filmemachers Eduardo Castro. Castro, der auch die Hauptrolle spielt, erzählt darin von einem schwulen Mann in seinen Vierzigern, der, getrieben von Alkohol und Drogen, durch die Bars und Stundenhotels eines in seiner Tristesse kaum wiederzuerkennenden Buenos Aires streift. Stets auf der Suche nach Sex und vor allem: Geborgenheit. Doch beides will sich nicht einstellen.
Teilweise dokumentarisch anmutend, teilweise mit dem Hang zur Groteske inszeniert, ist LA NOCHE eine Herausforderung für die Geduld des Publikums. Eduardo Castro wählt für seine Erzählung den Weg der radikalen Entschleunigung. 135 Minuten währt dieser Film, der sich für Hauptfigur und Publikum gleichermaßen zur peinvollen und frustrierenden Odyssee entwickelt. LA NOCHE – der vielleicht störrischste Film im Festival.
Die Mondfrau bearbeitet einsam ihre Möse
Es hätte im diesjährigen Spielfilmprogramm des Pornfilmfestivals Berlin bessere Kandidaten für den Hauptpreis gegeben. Etwa den schwedischen Beitrag WHO WILL FUCK DADDY von Lasse Långström. Im Zwischenreich von Farce und Fabel mäandert dieses verwunschene Werk umher, das sich zugleich auch als Kapitalismuskritik und Mittelfinger gegen sexuelle Normativitäten aller Art gibt.
Da fabuliert eine silbergrauhaarige Schamanin in einem Dress, welches jedem Kate-Bush-Musikvideo der 1980er Paroli bieten kann, über das Ende des Alphamannes und die Vernichtung aller Bärte. Da sitzt die Mondfrau auf ihrem Mond am Himmel und bearbeitet sich, irgendwie einsam und irgendwie notgeil, die Möse. Und treibt ein Girlboy im knappen goldenen Höschen auf einer gigantischen Seerose über einen verwunschenen Fluss, an dessen Ufer drei bärbeißige Meerjunglesben Zigarren rauchend Poker spielen.
WHO WILL FUCK DADDY ist überbordend in seinem Ideenreichtum, seinen Finten und Fährten und vor allem seiner aufwändigen wie fantasievollen Ausstattung – inklusive plüschigem Märchenwald. Ein visueller Trip, nein, eher ein wahnsinnig gewordenes Stück Film. Traumhaft.
Peitschenhiebe auf den Oberkörper
Aus Thailand, einem Land unter Militärdiktatur, stammt Oompon Kitikamaras PLAYBOY (AND THE GANG OF CHERRY), der ebenfalls preiswürdig gewesen wäre, die Jury entschied sich hier immerhin noch für eine lobende Erwähnung. PLAYBOY (AND THE GANG OF CHERRY) zeigt sich als Orgie der körperlichen und psychischen Gewalttätigkeiten, in deren Zentrum die junge Titelfigur „Playboy“ steht.
Seine Geilheit erreicht erst dann den Siedepunkt, wenn heftige Peitschenhiebe auf seinen Oberkörper niederprasseln und ihn schmerzerfüllt in die Knie zwingen. So irritierend dieses Werk auch ist, seinem Sog kann man sich kaum entziehen. Reflektiert es auf seine Art doch auch eine Gesellschaft, die mit schier endlosen Konflikten zwischen Tradition und Emanzipation, zwischen Stadt und Land, Demokratie und Diktatur zu kämpfen hat. Der atemberaubende Mut und die Radikalität von PLAYBOY (AND THE GANG OF CHERRY) stellte vieles in den Schatten, was im diesjährigen Festivalprogramm aus Europa zu sehen war.
Schwule Träume vom heteronormativen Ideal
Als Beispiel sei diesbezüglich stellvertretend die Arbeit DON’T LOVE ME genannt. Anderthalb Stunden lang lamentieren zwei vergleichsweise wohlsituierte schwule Expats darin über ihre Einsamkeit in einem grauen, kalten Berlin. Und träumen vom (heteronormativen) Ideal der monogamen Paarbeziehung samt Kind.
In eine ähnliche Kerbe schlägt das deutsch-japanische Festival-Eigengewächs BERLIN DRIFTERS. Hier begegnen sich zwei Japaner zufällig in Berlin und teilen für eine Weile die Wohnung. Während der ältere allmählich Gefühle für seinen Mitbewohner entwickelt, die aber unbeantwortet bleiben, vögelt sich der Youngster nach Herzenslust durch die Stadt. Über 20 mal wird in den 120 Minuten Laufzeit von BERLIN DRIFTERS Sexuelles explizit abgebildet. Das dürfte ein Rekord sein, selbst für das Pornfilmfestival.
Rekordverdächtig auch die zahllosen szenenbekannten Gesichter und Orte, die im Film zu sehen sind. Kochi Imaizumi könnte mit seinem Film eine Art neues Genre, begründet haben: den schwulen Berliner Heimatfilm. Ein Genre welches, will man neben BERLIN DRIFTERS auch DON’T LOVE ME als Vertreter dessen lesen, nur dann stimmig ist, wenn mindestens eine der Figuren an Einsamkeit leidet und sich Sex nur mit einem festen Partner wünscht. Irgendwie waren wir da schon mal weiter.
Notgeile Zombies und die Abwesenheit des Politischen
In einem weiteren Aspekt enttäuschten die Produktionen aus Berlin im diesjährigen Programm: Politik. Selten zuvor zeigte sich die rund um 12 Jahre Pornfilmfestival gewachsene, queere Porn-Familie so apolitisch und fast ausschließlich introspektiv. An der Community zwischen Berlin-Kreuzberg und -Neukölln scheinen die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die sich auch in Deutschland in den letzten Jahren bemerkbar gemacht haben, vorbeizugehen.
Die Frauenfeindlichkeit und krasse Homophobie der AfD? Nichts. Der grassierende Rassismus in Deutschland? Nichts. Die Gentrifizierung Berlins? Fast nichts. Denn einen Hoffnungsschimmer gab es dann doch mit der kurzen Klamotte ZOMBIE QUEER PUNK URBAN POST PORN HORROR SHOW (sic!) in der Reihe „Berlin Porn Shorts“.
Darin folgen wir einem Rudel notgeiler Zombies, die sich an den allgegenwärtigen Baustellen in Berlin vergehen. Man kann es auch anders formulieren: Die einstmals durch profitsüchtige Investoren vertriebenen Mieter*innen kehren als Zombies zurück und fallen über alles her, was dort gerade rumsteht. Und sei es nur ein Baugerüst.
Putin und Trump ficken einen Mann
Die vorgestellten Produktionen aus den USA reflektieren politische und gesellschaftliche Entwicklungen intensiver. Der experimentell angelegte Film BORDERHOLE („Political Porn Shorts“) lässt nackte Körper Löcher unter die Grenze zwischen den USA und Mexiko graben. In der Arbeit DISGRUNTLED zerfickt eine Frau auf rabiate Weise eine Trump-Puppe.
In TRUMP N‘ DUMP, produziert vom schwulen Pornolabel Dark Alley und zu sehen in der Reihe „Gay Porn Shorts“, kehrt ein junger Zeitreisender aus dem Jahr 2020 ins Jahr 2017 zurück, wo er zunächst in einem Trump-Hotel absteigt und sich auf Trumps Bestseller The Art of the Deal einen runterholt. Ohne viel Federlesen wird er dann von einer Horde Männer durchgenommen. Einer der Ficker scheint Donald Trump zu sein, einer Barack Obama, ein anderer ist mal Hillary, mal Bill Clinton und selbst Wladimir Putin darf seine Ladung Sperma in den Arsch des armen Zeitreisenden absetzen. Gedreht wurde diese aberwitzige Orgie nach Aussage der Filmemacher übrigens tatsächlich in einem Trump-Hotel und zum Zeitpunkt der Amtseinführung Donald Trumps.
Die Kurzdoku CRUISING ELSEWHERE („Gay Porn Shorts“) blickt zurück und erzählt von einem legendären Cruisingort in Kalifornien – der Wohler Bridge und der sich darunter ausbreitenden Flussaue, welche ein äußerst beliebter Ort für schwulen Sex unter freiem Himmel war.
Während die Kamera den Ort in seiner heutigen Gestalt vorsichtig erkundet, berichten Männer auf der Tonspur über ihre Erlebnisse und Erinnerungen an diesen einstmals offenbar geradezu magischen Ort. Aids setzte dem freizügigen Ficken ein Ende und, schlimmer noch, die Behörden nahmen diesen Anlass dankbar auf, um das Gelände soweit wie möglich fürs Cruising unattraktiv zu machen.
Ahnungslosigkeit über weibliche Sexualität
Bis tief zurück in die 1990er reicht das Engagement der Filmemacherin und Aktivistin Dorri Lane. Mit dem Vertrieb selbst gedrehter Aufklärungsfilme versuchte sie der krassen Ahnungslosigkeit über weibliche Sexualität auch und gerade unter Frauen etwas entgegenzusetzen.
Sexualaufklärung mittels VHS-Kassette
Dabei ging es zunächst um nichts weniger als die Vermittlung von Basiskenntnissen, etwa zur Frage: „How to find your G-Spot?“. 1992 entstand das gleichnamige Video auf Super-VHS, welches im Festival im Rahmen einer Hommage für Dorri Lane gezeigt wurde. Das avisierte Publikum vor Ort in San Francisco wollte anfänglich wenig von alldem wissen, wie Dorri Lane berichtet.
Dafür traten die Videos schnell ihren Siegeszug zu feministisch-lesbischen Communitys rund um die Welt an, und auch viele Männern kauften die Kassetten und schrieben unzählige dankbare Briefe zurück. Wie Dorri Lane damals heraus fand, waren Männer sehr daran interessiert, alles über die Vulva zu erfahren und wie sie ihren Partnerinnen durch die richtige Stimulation mehr Befriedigung verschaffen konnten.
Geborgenheit für sterbende Aids-Kranke
Die 90er, so erzählte es Dorri Lane, stellten auch für lesbische Frauen und ihre Sexualität keine ungefährliche Zeit dar. Es gab Lesben, die sich mit HIV infiziert hatten. Safer-Sex-Aufklärung war dringend geboten, und Dorri Lane leistete sie, etwa mit dem Titel HOW TO HAVE A (safer) SEX PARTY, der im Rahmen der Hommage und in Ausschnitten ebenfalls aufgeführt wurde.
Doch HIV prägte das Leben der Sexualaufklärerin noch in anderer Form: Sie stand damals schwulen Männern in den letzten Stunden ihres Lebens bei: „They were our Brothers“. Männer, die von ihren Familien verstoßen wurden, weil sie Aids-krank waren. Sie sollten nicht allein sterben, so gibt es Lane mit brüchiger Stimme in einem voll besetzten Saal im Kino Moviemento zu Protokoll. Sie sollten körperliche Wärme und Geborgenheit spüren – und dafür kletterte Dorri Lane nötigenfalls auch schon mal mit ins Krankenbett: „I was called a death angel.“
Über zwanzig Jahre später hat sich der Schrecken von HIV nahezu vollends verzogen. Was sich bis heute kaum geändert hat, ist der Aufklärungsbedarf in Sachen weiblicher Sexualität. Dorri Lane produziert allerdings keine Videos mehr, damit hatte sie schon Mitte der 90er Jahre aufgehört.
Sie reist heutzutage von Kongress zu Kongress. Denn ausgerechnet in Wissenschaft und Medizin ist es um das Wissen über den G-Punkt mindestens so schlecht bestellt wie um die Verortung der Quelle der weiblichen Ejakulation. Nach wie vor viel zu tun für diese sympathische Ikone.
1.000 Sexfilme in 17 Jahren
Kein Pornfilmfestival ohne Retrospektive, die in diesem Jahr dem japanischen Regisseur Tatsumi Kumashiro (1927–1995) gewidmet war, und dem, was man „Roman Porno“ nennt . Beim Roman Porno treffen einige Besonderheiten aufeinander. So hat dieses Genre etwa nichts mit dem zurselben Zeit in den USA und Europa aufkeimenden „Golden Age“ des Pornos oder überhaupt mit Porno zu tun.
Eher schon handelt es sich hier um Sexfilme, die sich an literarische Formen und Erzählweisen anlehnen. Produziert wurden diese Werke von der Nikkatsu Corporation, die bis Anfang der 1970er noch als arriviertes japanisches Filmstudio tätig war und sich dann komplett auf die Produktion von Sexfilmen umstellte.
In 17 Jahren, bis 1988, entstanden über 1.000 der Roman Pornos, viele davon gedreht von Tatsumi Kumashiro. Der Filmemacher verstand es dabei virtuos, den großen und professionellen Apparat des Studios zu nutzen, um teilweise atemberaubende Kinobilder zu schaffen und zugleich gesellschaftliche Fragen und linke Positionen in seinen Werken zu verhandeln. Fünf seiner Werke präsentierte das Festival.
Momente der intensiven Liebe zum Kino
Darunter auch TAMANOI, STREET OF JOY deutlich. Hier erzählt Kumashiro von einem Bordell im Tokioter Rotlichtviertel Tamanoi, kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes zum Verbot von Bordellen 1958. Die Frauen in diesem Film sind starke, wiederständige Charaktere, die irgendwie versuchen mit den Höhen und Tiefen ihrer Schicksale zurechtzukommen.
So etwa Kimiko, die zu Beginn das Bordell verlässt, um zu heiraten. Später jedoch, sexuell frustriert, ihrer Ehe den Rücken kehrt, um sich den anderen Mädchen wieder anzuschließen und endlich wieder Befriedigung zu finden. Oder Shimano, deren Liebe zu einem spielsüchtigen Gangsterboss kein gutes Ende zu nehmen scheint. Und Naoko, deren Ziel es ist, den Rekord von Kimiko, 26 Freier an einem Tag, zu brechen.
Momente der intensiven Liebe zum Kino als Ort und Film als Medium umschließen diesen gleichsam lakonischen wie melancholischen Reigen. Das Festival erhielt für die Retrospektive ausgesprochen gut erhaltene 35mm-Filmkopien, deren Schärfe und lebendige Farben die ganze Faszination der Roman Pornos hervorragend erfahrbar machten. Die Retrospektive des Pornfilmfestivals wurde dadurch zu einem Trip in ein faszinierendes Kapitel der Filmgeschichte und zu einem Fest für Freunde des Kinos. Mehr kann man sich kaum wünschen. |
Eine gekürzte Fassung dieses Textes finden Sie auch auf taz.de.
• Zum 12. Mal fand das Pornfilmfestival Berlin statt. Knapp 160 Filme kamen zwischen dem 24. und 29. Oktober 2017 im Kino Moviemento und im Spektrum Art Space zur Aufführung. Mit rund 9.000 Besucher*innen wurde der Zuschauer*innenrekord vom Vorjahr gebrochen.
• Drei Awards für den besten Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilm wurden von drei Jurys vergeben. Die Preise für Kurz- und Spielfilm waren mit je 500 Euro dotiert.
• Bester Kurzfilm: FLOWER (D 2017) von Matt Lambert.
• Bester Spielfilm: LA NOCHE (ARG 2016) von Edgardo Castro
Lobende Erwähnungen für PLAYBOY (AND THE GANG OF CHERRY) (TH 2017) von Oompon Kitikamara und MY BODY MY RULES (FRA 2017) von Émilie Jouvet.
• Bester Dokumentarfilm: LUNÀDIGAS (IT 2016) von Nicoletta Nesler & Marilisa Piga
• Das 13. Pornfilmfestival Berlin findet voraussichtlich vom 23.-28.10.2018 statt.
• Mehr Infos: www.pornfilmfestivalberlin.de
Titelbild: Filmstill aus Vem Ska Knulla Pappa (Who will fuck daddy?); (c) Bild: Antiffa Vänsterfitta/Valand Academy Film