Zur Berlinale 2022 der Versuch eines fortlaufenden Schreibens und Denkens über die Filme der Berlinale 2022 und das Festival mitten in der Omicron-Wand. (msc)
22. Februar, 21:00 Uhr, Das Ranking
45 Filme aller Längen konnten zwischen dem 10. und 20. Februar 2022 gesichtet werden. Sie seien im Folgenden wertend kategorisiert:
# Schimmernd
AŞK, MARK VE ÖLÜM | Panorama
CAMUFLAJE | Forum
STAY AWAKE | Generation 14Plus
EUROPE | Forum
GEOGRAPHIES OF SOLITUDE | Forum
THE UNITED STATES OF AMERICA | Forum
DIE LEERE MITTE | Forum Special „Fiktionsbescheinigungen“
# Zeitlos
KALLE KOSMONAUT | Generation 14Plus
A LOVE SONG | Panorama
QUEENS OF THE QUING DYNASTY | Encounters
NUCLEAR FAMILY | Forum
SONNE UNTER TAGE | Forum Expanded
MUTZENBACHER | Encounters
MERRY CHRISTMAS DEUTSCHLAND … | Forum Special „Fiktionsbescheinigungen“
# Unverzichtbar
SORRY GENOSSE | PDK
BRAINWASHED: SEX-CAMERA-POWER | Panorama
SCALA | Forum
EINE DEUTSCHE PARTEI | Berlinale Special
LADIES ONLY | PDK
SOL IN THE DARK | Forum Expanded
BETTINA | Panorama
# Ordentlich
BASHTAALAK SA’AT | Forum
REWIND AND PLAY | Forum
CONCERNED CITIZEN | Panorama
SHABU | Generation KPlus
HAPERS COMET | Forum
EL VETERANO | Forum
GAZING… UNSEEING | Forum Expanded
SURFACE RITES | Forum Expanded
RONDO | PDK
JAIL BIRD IN A PEACOCK CHAIR | Forum Expanded
1341 FRAMIM MEHAMATZLEMA SHEL MICHA BAR-AM | Berlinale Special
FÜR DIE VIELEN – DIE ARBEITERKAMMER VON WIEN | Forum
NOTHING LASTS FOREVER | Berlinale Special
# Verzichtbar
IF REVOLUTION IS A SICKNESS | Forum Expanded
ZUM TOD MEINER MUTTER | Encounters
DREAMING WALLS | Panorama
TRÊS TIGRES TRISTE | Forum
KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA – DIE GREGORS | Forum
SUBLIME | Generation 14Plus
NELLY & NADINE | Panorama
VIENS JE T’EMMÈNE | Panorama
# Schrecklich
JOURNAL D’AMERIQUE | Encounters
À VENDREDI, ROBINSON | Encounters
A LITTLE LOVE PACKAGE | Encounters
––
Damit schließt der Dauerliveblog zur Berlinale 2022.
Die nächste Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin geht in irgendeiner Form vom 16. bis 26. Februar 2023 über die Bühne.
#20. Februar, 20:04 Uhr, Ein Glücksfall
Hedi und Karl-Heinz lieben sich leidenschaftlich. Nur können sie diese Liebe jenseits von Briefen nicht wirklich ausleben, denn Hedi wohnt in Jena und Karl-Heinz in Frankfurt/Main und wir schreiben das Jahr 1970. Was also tun?
Damals: Karl-Heinz und Hedi, so jung, so schön, so verliebt | Foto © Felix Pflieger/Nordpolaris/IFB 2022 |
Für den Antikriegs- und studentenbewegten Karl-Heinz ist der Entschluss schnell gefallen: Er siedelt in die DDR und zu seiner Hedi über. Nur findet die Stasi, dass Karl-Heinz sich viel besser als IM in Westberlin machen würde und umgarnt ihn nach allen Regeln der Stasi-Kunst, – während sie ihm die Einbürgerung in die DDR verweigert. Was also tun?
Auf eine Karriere als Spion im Dienst des MfS hat Karl-Heinz keine Lust, er will nur Hedi und sie will ihn. Sie schmieden einen Plan zur Republikflucht von Hedi. Aber der Plan ist so aberwitzig, dass er eigentlich scheitern muss. Sie ziehen es trotzdem durch und finden sich plötzlich inmitten eines hochgefährlichen Chaos wieder. Was also tun?
Für die 2021 an der HFF München diplomierte Dokumentarfilmerin Vera Brückner war die Antwort klar: Über diese aberwitzige Lebens- und Liebesgeschichte muss ein Film gemacht werden. Und wie richtig sie damit lag! Ihre dokumentarische Arbeit SORRY GENOSSE berichtet uns von Hedi und Karl-Heinz und ihrem wortwörtlichen Abenteuer auf dem Weg gen Westen.
Ein Glücksfall
SORRY GENOSSE ist Vera Brückners, wie man so sagt, erste abendfüllende Arbeit. Ob mensch diesen Dokumentarfilm nun mittags oder abends sieht, ist egal, das Erlebnis einer emotional klugen, visuell faszinierend treffsicher stilbewussten und dramaturgisch durch und durch unterhaltsamen Arbeit bleibt gleich.
Selten war in jüngerer Zeit hierzulande eine dermaßen erfrischende und kurzweilige Doku zu sehen. Das allzu oft bleischwere und problembärige Erzählen deutscher Dokumentarfilme ist Brückners Sache ausdrücklich nicht. Sie vermählt Amüsement mit Klugheit und kino-affiner Raffinesse. Vera Brückner ist ein Glücksfall für den deutschen Dokumentarfilm.
20. Februar, 18:30 Uhr, Kinomeister und Kinoabsteiger
„Mit dem diesjährigen Festival wollten wir Flagge zeigen für das Kino.“ – So ließen sich die Berlinale-Chefs Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian in der Abschluss-Pressemitteilung zitieren, die (so wie jedes Jahr) eine erfolgreiche Festival-Ausgabe verkündete.
Nun ist das Kino aber wesentlich mehr als eine Filmabspielverrichtungsanstalt. Kino ist für manche Lieblingszirkus, für einige unerlässlicher Denkraum, für andere Zuhause. In jedem Fall ein besonderer Ort, der von besonderen Menschen gemacht wird. Doch wie reagieren dieser Ort und diese Menschen auf die Herausforderung von 2G+, noch dazu im Festivalbetrieb?
Wer es bis zu diesem Anblick geschafft hatte, hatte das Gröbste nicht zwangsläufig hinter sich: Leinwanddekoration vor und nach jedem Screening | Foto: filmanzeiger |
Dazu eine kleine Versuchsanordnung: Interpretieren wir die vergangenen 10 Tage Berlinale doch mal als kleine Meisterschaft um das beste Kinoerlebnis, in der die wichtigsten Festivalkinos in der „1. Liga“ der Kombinierer von Crowdmanagement, CovPass- & Ticket-Check-In antreten. Wie sähe der Spielbericht nach dem letzten Spieltag 2022 aus und welches Kino wäre der Meister, welche Kinos wären abgestiegen?
+++ Hier ist das Filmanzeiger-Kinosportstudio mit dem Finale der Berlinale-Kinomeisterschaft 2022 +++
Nach einer furiosen 10-tägigen Saison hat das Kino Delphi aus der Yorck-Kinogruppe die Meisterschaft souverän für sich entschieden. Kein Kinoteam verstand es so elegant und schnell die Besucher:innen einzulassen, willkommen zu heißen und für ihren Corona-Schutz zu sorgen. Darüber hinaus wusste das Delphi die Räume stets mit zeitloser Eleganz und erfrischender Sauberkeit zu füllen. Glückwunsch an einen verdienten Kinomeister.
Dicht dahinter der Vizemeister der diesjährigen Saison, die Akademie der Künste am Hanseatenweg. Auch hier wusste das Team auf dem Platz den Ein- und Auslass souverän und reibungslos zu spielen. Zu keinem Zeitpunkt geriet die Mannschaft hier in Bredouille. Gleichwohl es in der Spitze doch etwas an Eleganz, Wärme und Willkommensgefühl mangelte, was auch durch die eindrückliche Raumgestaltung nicht völlig aufgefangen werden konnte.
Dritter Platz und Mittelfeld
Das kleinste der drei Treppchen konnte das Cubix aus der Cinestar-Gruppe für sich erobern. Hier war auf dem Platz eine reibungslose, schnelle und professionelle Erledigung der Sache zu beobachten. Doch das war auch ein bisschen das Problem: Mensch fühlte sich gelegentlich nur wie eine Sache, die durch die Gegend geschoben wurde. Schade. Leider ließen auch die Räume eine Wohlfühlatmosphäre deutlich vermissen, weshalb der Abstand zu den beiden Spitzenreitern durchaus deutlich ausfällt.
Im soliden oberen Mittelfeld behauptete sich das Kino Arsenal, dessen Service der Zugewandtheit im Delphi in kaum etwas nachstand. Leider verzettelte sich das kleine Kinoteam dabei gelegentlich im Kleinklein der 1-Personen-Betreuung und und provozierte somit Schlangen. Auch konnte das Arsenal in Sachen Raumqualität wenig anbieten. Der Eindruck eines lieblosen Kinobunkers sorgte für Bedrückung.
In den Abstiegsrängen
Kommen wir zu den Absteigern der 1. Liga der Berlinale-Kinomeisterschaft 2022: Knapp auf den Relegationsplatz gerettet hat sich das Kino International der Yorck-Kinogruppe. Es ist halt nicht alles Gold, was glänzt – auch nicht in einem prachtvollen Haus wie diesem.
Zwar gelang es dem Kinoteam gelegentlich einen reibungslosen Einlass zu gewährleisten. Doch scheiterten sie beim Auslass veritabel. Anstatt sich der in den Vorjahren erfolgreichen Strategie zu bedienen und das Publikum nach der Vorstellung über die Seitenausgänge herauszugeleiten, wurden die Besucher:innen durch den Haupteingang entlassen und damit direkt in die Arme der davor wartenden Gäste der folgenden Vorstellung. Dabei kam es außerdem auch noch zu Zeitverlust, der wiederum für Verspätungen beim nächsten Einlass sorgte. Chaos vorprogrammiert. Für einen Erstligisten keine würdige Vorstellung.
Als Absteiger dieser Saison stehen die Urania und das Cinemaxx am Potsdamer Platz fest, wenngleich sich die Urania noch die Blechmedaille des Liga-Vorletzten anheften darf. Zwar üppig mit Mitarbeitern ausgestattet, zeigte sich das Team sehr damit beschäftigt, falsch interpretierte Einlassregeln zu exekutieren und durch unnötige Diskussionen lange Staus zu produzieren, was üppige Verspätungen beim Programmstart verursachte. Auch kommt die Urania räumlich kaum um den Fakt herum, dass sie als Kino eher ungeeignet ist.
Verdientes Tabellenschlusslicht
Verdientes Tabellenschlusslicht ist das Cinemaxx am Potsdamer Platz und das ist einem als Filmfestival-Kino konzipierten Haus eigentlich unwürdig. Wer den unübersichtlichen CovPass-CheckIn samt semi-gut trainierter Mitarbeiter:innen überwunden hatte, durfte sich zum Kino durch ein Wirrwarr scheinbar wahllos platzierter Absperrbänder kämpfen, deren Beachtung von grimmigen Securitys mit stählerner Stimme durchgesetzt wurde. Dumm nur, dass die Positionierung der Absperrbänder keinerlei Sinn ergab. Auch sonst lässt sich zur Wegeleitung nur sagen, dass sie inexistent war.
Wer es einmal in den Saal geschafft hatte, durfte dann noch übereifrige Helfer:innen beobachten, die das Publikum sitzplatztechnisch maßregelten. Die Spitze der Minderleistung ergab sich aber beim Auslass. Anders als beim Kino International sorgte die Programmplanung im Cinemaxx überwiegend für leere Foyers und Eingangsbereiche.
Dumm nur, dass man die Leute nicht durch diese luftigen Foyers entließ, sondern durch enge, verwinkelte Notausgangskorridore auf die Straße scheuchte, was den Covid-Schutz ad absurdum führte. Wer klug war, ersparte sich das Kriechen durchs Gedärm des Kinobetonbunkers und erbat sich den Gang aufs Klo im Foyer. Leider zeigten sich Toilettenanlagen in einem dermaßen ekelhaften Zustand, dass das Bahnhofsklo des Bahnhof Zoo in den 1970ern vergleichsweise wie eine Wohlfühloase gewirkt haben muss. Der heruntergekommene und ungepflegte Zustand war allerdings auch im Rest des Gebäudes deutlich sichtbar. Das Cinemaxx am Potsdamer Platz ist der absolut verdiente Absteiger der 1. Liga der Berlinale-Kinomeisterschaft 2022.
Gratulation ans Delphi.
20. Februar, 17:09 Uhr, Wenn der Penis Regie führt
„Was bleibt von Hollywoods Filmindustrie übrig, wenn man alle Triebtäter entfernt? Nichts.“ – In der dokumentarisch-essayistischen Arbeit BRAINWASHED: SEX-CAMERA-POWER versucht sich Filmemacherin Nina Menkes an nicht weniger als einer kompletten Dekonstruktion des Filmemachens wie wir es kennen.
Unter Anderem an LADY FROM SHANGHAI und Rita Hayworth veranschaulicht Nina Menkes die genderstereotypische Beleuchtung von Frauen im Film | Foto: Menkes Film/IFB 2022 |
Sie findet dabei eine durch und durch machistisch geprägte, international seit Jahrzehnten alles durchdringende Filmsprache vor, die Frauen und den weiblichen Körper systematisch zu Objekten degradiert und (so ihre nicht von der Hand zu weisende Argumentation) faktisch als Beutegut für sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen inszeniert. Dabei findet sie Belege für ihre filmhandwerklich versierten und sauber durchdeklinierten Thesen gleichermaßen in C-Movies wie in zahllosen legendären Oscar- und Goldene-Palme-Gewinnern namhafter Regisseure UND Regisseurinnen.
Bei der filmhandwerklichen Täterschaft bleibt sie allerdings nicht stehen, sie weitet den Blick und entblößt mit frappierender Überzeugungskraft, wie Frauen hinter der Kamera seit Einsetzen des Tonfilms aus der Filmwirtschaft heraus gedrängt wurden und werden.
Was sie in ihrer visuell leider unauffälligen, dafür filmmusikalisch etwas überambitionierten Arbeit aber auch sehr unmissverständlich offenlegt, ist eine wichtige Lektion für die MeToo-Bewegung: Es darf nicht (nur) darum gehen, mehr Geld respektive 50 Prozent eines in jeder Hinsicht abstoßenden Kuchens einzufordern. Es ist nichts weniger als die komplette Transformation der kulturellen Praxis des Filmemachens überfällig. Und heteronormativ geprägte Männer werden dabei die Lösung wohl kaum sein.
20. Februar, 14:17 Uhr, Liebe
Vielleicht liegt es am letzten Tag und meiner Müdigkeit, vielleicht auch nicht, aber ich habe A LOVE SONG im Berlinale-Panorama als ein Juwel von US-Erzählkino erlebt. Ich war sehr gerne Gast dieses Roadtrips im Nirgendwo der keinen Meter fährt, dafür aber emotional enorm unterwegs ist. Und ganz nebenbei auch noch eine Hommage ans gute alte Radio liefert.
19. Februar, 23:34 Uhr, (…)
Müdigkeit.
Ich kriege keine gerade Zeile mehr hin. Dabei gäbe es noch soviel zu berichten.
Trotz aller Widrigkeiten, es fühlt sich so an wie ein guter Festivaljahrgang.
18. Februar, 23:55 Uhr, Traditionspflege (2)
Die Jury des Teddy Award hat gesprochen und wenig überraschend die eher mäßigen unter den nicht-heterosexuellen Filmen des diesjährigen Berlinale-Jahrgangs prämiert:
- Bester dokumentarischer Film: NELLY & NADINE (Gedanken dazu siehe weiter unten)
- Bester fiktionaler Film: TRÊS TIGRES TRISTE (Gedanken dazu siehe weiter unten)
- Bester Kurzfilm MARS EXALITÉ
18. Februar, 19:03 Uhr, Sanierungsbedürftige Dramaturgie
Mit Ihrer dokumentarischen Arbeit DREAMING WALLS (Panorama) demonstrieren die Filmemacherinnen Amélie van Elmbt und Maya Duverdier wie man eine spannende Story insbesondere dramaturgisch gegen die Wand fahren kann.
Ihr Film will die letzten der alten Bewohner:innen des Chelsea Hotels in Manhattan, New York City und ihren Alltag auf einer Großbaustelle porträtieren, denn das Gebäude, einst Inkubator einer legendären wie längst verblichenen Community von Künstler:innen, Outcasts und Queers, wird seit bald einem Jahrzehnt luxussaniert.
In einer Mixtur aus dokumentarischer Beobachtung, Archivmaterial und Inszenierung mittels 16-mm-Filmmaterial sollen hier Geister und Geschichten dieses Ortes zum Klingen gebracht werden. Problem nur, dass die beiden Filmemacherinnen erschreckend uninspiriert und ungeschickt mit ihrem Material umgehen. Wo Erklärung und Kontextualisierung notwendig gewesen wäre, wird Bedeutsamkeit behauptet, wo Zuhören und Zuschauen angesagt gewesen wäre, wird die Kamera mit banalem Bildertrash gefüttert. Dazwischen irren Protagonist:innen herum wie bestellt und nicht abgeholt.
Dokumentarfilmtrash
Das ganze Elend wird garniert mit einer schrecklich arrhythmischen Dramaturgie, die sich viel Mühe dabei gibt, Momente der Kontemplation und Erkenntnis gar nicht erst entstehen zu lassen, sondern erratisch Bildschnipsel an Bildschnipsel, Gedanken an Gedanken zu heften offenbar in der Meinung, es entstünde dabei Wichtigkeit und Erkenntnis.
Es tut einem in der Seele weh anzusehen, wie hier kostbares Filmmaterial und (inzwischen verstorbene) einzigartige Vertreter:innen einer längst untergegangenen Epoche für Dokumentarfilmtrash verheizt werden.
18. Februar, 14:49 Uhr, Kinos kann man abreißen, Erinnerungen nicht
Gibt es etwas Deprimierenderes, als den Abriss eines Kinos im Kino zu verfolgen? Wohl kaum. Die Sektion Forum der Berlinale präsentierte trotzdem Ananta Thitanats SCALA. Zurecht.
Sie dokumentiert in ruhigen und konzentrierten Bildern, wie das beeindruckende Lichtspielhaus „Scala“ in Bangkok Stück für Stück abgebaut wird. Es beginnt mit einem fantastischen Kronleuchter im prachtvollen Foyer, den die Arbeiter behutsam zerlegen und verpacken. Im Verlauf bleibt kein Ort unangetastet. Der riesige Kinosaal wird entkernt, die Leinwand fehlt bereits, als der Film einsetzt. Sitze, Verkleidungen, Deko, Klos, Technik, Projektoren – Stück für Stück wird der Ort Kino allem entledigt, was ihn zum Kino macht. Nur die Menschen, die darin arbeiten und ausdrücklich auch leben – mit der Küchenzeile gegenüber dem Projektor, dem Selbstversorger-Garten auf dem Dach und dem Bett unter der Lüftungsanlage – scheinen bleiben zu wollen.
Doch es gibt für sie an diesem Platz keine Zukunft. Ihr letzter Dienst, den sie ihrem Kino noch erweisen können, ist, es so behutsam wie möglich zu demontieren. Und dabei die Erinnerungen zu pflegen, die sich an diesem Ort in ihre Leben eingekerbt haben. Danach, nach – wie wir lernen – Jahrzehnten im „Scala“, bleibt das Leben für sie, die sie alle auch längst älter geworden sind, ungewiss.
Wir sehen einen kraftvollen Film, der einem beeindruckenden Kinoort und seinen Bewohner:innen ein würdiges Denkmal setzt. Man kann den Ort abreißen, aber das Kino existiert trotzdem weiter – in diesem Film und in den Erinnerungen der Menschen, die das „Scala“ jahrzehntelang zu dem machten was er war. Im Oktober 2021 wurde das entkernte Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Nach 52 Jahren als eines der wenigen eigenständigen Lichtspielhäuser in Bangkok.
18. Februar 2022, 14:49 Uhr, Boomerkino
Einen assoziativen, aber auch reichlich gewollten Mix sehen wir in Arnaud des Pallières JOURNAL D’ AMERIQUE. Filmschnipsel amerikanischer Alltagskultur des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts laufen in schier endloser Montage und weitestgehend entkontextualisiert über die Leinwand, nur unterbrochen von tagebuchförmig geordneten und stummfilmartig eingesetzten Zwischentiteln.
Die Zwischentitel geben die Tagebucheintragungen eines alternden Mannes wieder – Kindheitserinnerungen, Jugend, Liebe, Alltag, Krieg, Vergessen und manches andere mehr. Doch diese Gedanken und Erlebnisse wirken so völlig wahllos und plattitüd, dass sie selbst dem Groschenroman zu egal sind.
Das Filmmaterial ist teils äußerst reizvoll, aber der Rest des Films wirkt eher wie eitles Boomerkino. Wer wählt sowas für die Berlinale und ihre Sektion Encounters aus? Alternde Männer?
18. Februar 2022, 01:00 Uhr Uhr, Traditionspflege
17. Februar 2022, 14:00 Uhr, Unbefriedigend
Wer dem steinalten Jean-Luc Godard knapp fünf Minuten beim Trinken von Rotweinschorle zuschauen und daraus irgendeine Bedeutung ableiten will, wird À VENDREDI, ROBINSON befriedigt verlassen. Wem das zu wenig ist, geht unbefriedigt aus diesem Film.
Es gibt aber auch noch ein paar hübsche Einzeiler zum Aufschreiben oder Aufdrucken auf ein Küchenkalenderblatt, diesen beispielsweise: „Fill my glass with wine, till my hourglas is full.“ Oder: „We are never sad enough, to make the world a better place.“. Oder auch: „Do you still believe in Cinema, Mr. Godard? – That’s a question, only the police would ask.“ Ebenso hübsch: „Cinema doesn’t ask questions. Therefore gives no answers.“
Was genau aber der eigentliche Antrieb von Filmemacherin Mitra Farahani für diesen Film mit zwei alten Männern, die sich E-Mails hin und her schicken, Jean-Luc Godard und Ebrahim Golestan, war, will sich nicht erschließen. Aus dem E-Mail-Wechsel zwischen den Beiden, der im Zentrum dieser (im weitesten Sinne) dokumentarischen Arbeit steht und bereits 2015 stattfand, lässt sich alles und nichts herauslesen. Er ist irrelevant, wie dieser Film.
16. Februar, 18:13 Uhr, Gift
Embedded in den Wahnsinn: In seiner dokumentarischen Arbeit EINE DEUTSCHE PARTEI legt von Simon Brückner mit eindrücklicher Präzision und Ruhe den Wesenskern der sog. Alternative für Deutschland (AfD) als menschenfeindliches Gebilde frei. Er zieht sich dafür komplett auf seine Bilder zurück, es gibt keinen Kommentar, keine Nachfragen, keine inszenatorischen Kunstgriffe oder Ähnliches. Seine Protagonisten sprechen für sich selbst. Er beobachtet sie bei Meetings, Fraktionssitzungen, Wahlkampfveranstaltungen, Parteitagen oder kleinen Zusammenkünften im privaten Rahmen. Politiker wie der Berliner Ex-Militär Georg Pazderski präsentieren sich erstaunlich offen und Simon Brückner fängt jene Offenheit gerne ein.
Dieser Ansatz der maximalen Zurückhaltung, die mutmaßlich der Schlüssel dafür war, um in einem Umfeld tiefen Misstrauens gegenüber Andersdenkenden überhaupt Zugang zu bekommen, ist kritisierbar. Zumal bei Protagonisten, die nicht dafür bekannt sind, Wort und Geist des Grundgesetzes sonderlich wertzuschätzen. Wo mündet die dokumentarische Beobachtung in das Kreieren einer Bühne zur Selbstdarstellung und Agitation? Wann wird der eigene Film zum Vehikel der anderen? Bei einem Sujet, wie es die rechtspopulistisch-neofaschistische sog. AfD darstellt, ist der Versuch der Vereinnahmung im Grunde vorprogrammiert. Was tun? Simon Brückner entschied sich für das einzig Richtige: Er vertraute dem, was in seinem Material steckte.
Etwa 500 Stunden Film sammelte sich im Laufe der Dreharbeiten an, Brückner und seine Schnittmeister:innen Sebastian Winkels und Gesa Marten destillieren daraus 110 Minuten. Was sie zutage fördern und herausschälen ist ein verstörendes Dokument von Menschen, die sich mit all ihrer Energie in eine düstere Parallelgesellschaft verbissen haben, in der Hass, Wahn und Misstrauen herrschen. Kräfte, welche sie mit enormen Furor gegen andere wie gegen die eigenen Leute lenken.
Es bedarf keiner politischen Haltung seitens des Publikums, um diesen Film zu verstehen, pure Menschlichkeit reicht. Die ungefilterte Düsternis dieses Milieus und der Menschen darin ist offenkundig und sie ist schier endlos. Jedem Menschen mit nur einem Hauch an Empathie wird unzweifelhaft gewahr, um was es sich bei der sog. AfD und ihren Parteigängern handelt.
Das Märchen von der bürgerlichen Partei entlarvt sich in EINE DEUTSCHE PARTEI als das, was immer war: Eine Lüge. Diese Partei und die Menschen darin, quer durch alle Generationen, sind bis in die Haarspitzen rechtsextrem gepolt. Damit wird für die übergroße Mehrheit der Gesellschaft jedoch ein gravierendes Problem erneut akut deutlich: Wie umgehen mit diesen Menschen, um ihr giftiges Handeln zu neutralisieren?
16. Februar 2022, 10:16 Uhr, Grauen im Verborgenen
Camuflaje | Foto: Alina Films/Off The Grid/IFB 2022 |
Campo de Mayo gilt bis heute als eine der wichtigsten Militärbasen Argentiniens. 1987 versuchten von dort aus Militärs einen Putsch gegen die wenige Jahre zuvor erste demokratisch gewählte Regierung des Landes anzustoßen, der scheiterte. Berühmter oder vielmehr berüchtigter ist der Komplex als zentrales Folterzentrum der neo-faschistischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983. Mehrere zehntausend Menschen verschleppte das Militär auf diese Basis und ließ sie dort „verschwinden“. Von unzähligen dieser Menschen fehlt bis heute jede Spur. Campo de Mayo war, wie es eine der Protagonist:innen in CAMUFLAJE formuliert, ein gigantisches KZ.
Wollte man die Anlage joggend umrunden, hätte man 17 Kilometer Strecke zu überwinden und wäre vier Stunden unterwegs. Félix Bruzzone hat diese gigantische Anlage bereits umrundet. Das Schicksal seiner Familie ist gezwungenermaßen mit diesem Ort verknüpft, seine Mutter „verschwand“ in Campo de Mayo. Nur durch einen Zufall entging er damals als Kleinkind der Entführung zusammen mit seiner Mutter. Félix Bruzzone ist der zentrale Protagonist, gleichsam Ko-Autor in Jonathan Perels dokumentarischer Arbeit CAMUFLAJE.
Erinnerungskulturweltmeister
Seine Geschichte steht am Beginn dieses Film, wir erfahren sie im Gespräch mit seiner Großmutter. Sie spazieren gemeinsam durch einen Vorort. Laufen, Joggen, in Bewegung sein ist essenziell für diesen Film. Schon die erste und lange Einstellung beginnt mit zwei nackten Füßen, die über Asphalt joggen. Bewegung vermeidet Verdacht und schafft Sicherheit, erstmal losgehen, auf dem Weg wird sich das Ziel schon finden.
Aus deutscher Perspektive irritiert der Zustand von Campo de Mayo wie wir ihn in CAMUFLAJE sehen können. Wir sind Aufarbeitungs- und Erinnerungskulturweltmeister, ehemalige Tatorte sind bei uns längst Gedenstätten, Mahnmale, Erinnerungsorte. Wohl dokumentiert, gut erhalten, der Öffentlichkeit zugänglich, Pflichtprogramm für Schulklassen. Campo de Mayo ist ein mehr schlecht als recht umzäunter Dschungel und eine aktiv genutze Militärbasis, die irritierenderweise tagsüber auf einer öffentlichen Straße durchfahren werden kann – Anhalten verboten. Diese Durchfahrtsstraße existierte auch zu Zeiten der Diktatur schon, war ganz normal nutzbar – während irgendwo verborgen im Dickicht Menschen zu Tode gefoltert wurden.
Camuflaje | Foto: Alina Films/Off The Grid/IFB 2022 |
Jonathan Perel nähert sich diesem Ort durch seinen Protagonisten und dessen verschiedene Begleiter. Zunächst wird nur darüber gesprochen, wird der Ort umschlichen, umfahren. Wir hören Gespräche über Gewesenes, Erinnerungen, verwoben und verwickelt mit Alltagsgeplauder. Erst mit einem Dinosaurierer-Forscher, der aus dem ganzen Komplex ob dessen reicher Flora und Fauna am liebsten ein Naturschutzgebiet machen würde, treten wir erstmals ein. Und sehen: nichts. Jedenfalls nichts, was wie ein Tatort von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aussieht. Dafür immens viel Vegetation. Wollte man die schreckliche Floskel des „Gras drüber wachsen lassens“ an einem realen Beispiel studieren, Campo de Mayo wäre ideal.
Schildkröten und Schießanlagen
Ein Fittnesstrainer hat den Ort noch tiefer durchdrungen, kennt sich aus, weiß wo die Schießanlage zu finden ist und wo es Schildkröten zu gucken gibt. Drei jungen Künstlerinnen haben verfallene und von der Natur überwucherte Gebäudeanlagen erkundert und beschreiben den Ort wie ein gruseliges Labyrinth. Und schließlich jemand, der sich tatsächlich mit Aufarbeitung befasst, eine ältere Frau, Vorsitzende eines Erinnerungsvereins, die den gesamten Komplex gerne in einen Mahn- und Gedenkort umgewandelt sehen würde, doch das gestaltet sich schwierig. Campo de Mayo ist eine Militärbasis, sie zu betreten, wie Félix Bruzzone und seine Begleiter:innen es tun, illegal. Die Angst entdeckt zu werden sitzt uns Zuschauern hier irgendwann genauso im Nacken wie den Protagonist:innen.
Nur zu einem Anlass sind Zivilisten offiziell zugelassen: Für einen Hindernis-Marathon durchs Unterholz der Anlage öffnen die Militärs den Ort, bieten gar Schießtraining als eine der Challenges für die Läufer:innen an. Der Name der Veranstaltung: „Killer Race“.
Camuflaje | Foto: Alina Films/Off The Grid/IFB 2022 |
CAMUFLAJE ist ein gleichermaßen fassungslos machendes wie beeindruckendes Porträt von Menschen, die nicht stillstehen können. Die kein „Gras über die Sache wachsen“ lassen wollen, die sich die Erinnerung und Aufarbeitung individuell aus dem Dickicht herausschlagen, wo sie kollektiv bzw. staatlicherseits nicht geleistet wird. Eine Marathonaufgabe. Zum Glück hat Jonathan Perel sie dokumentiert.
15. Februar 2022, 22:24 Uhr, Wider aller Hoffnung
Fin Argus, Wyatt Oleff in STAY AWAKE | Foto: Stay Awake LLC/IFB 2022 |
Wenn die eigene Mutter von Schmerzmitteln schwer suchtkrank ist, wie lange sollte man sie als heranwachsender Sohn zu ihr halten und sie unterstützen? Unterstützen im Sinne, dass man sie nachts immer und immer wieder zugedröhnt einsammelt und in die Notaufnahme schafft. Unterstützen dabei, schon wieder einen neuen Entzug zu beginnen und dafür eine bezahlbare Klinik zu finden. Unterstützen im Sinne, auf die Versprechen zu vertrauen, dass es diesmal klappt und das versprochene gemeinsame Abendessen endlich stattfindet. Unterstützen auch, indem man seine eigene Zukunft zurückstellt. Wie lange?
Für den 17-jährigen Ethan und seinen 19-jährigen Bruder Derek stellt sich diese Frage ganz konkret. Sie leben mit ihrer alleinerziehenden und süchtigen Mutter in einer Kleinstadt in Virginia, USA. Filmemacher Jamie Sisley stellt uns Ethan und Derek, seine beiden Hauptfiguren in STAY AWAKE, als enorm sympathische, kluge, sehr gut aussehende und verdammt selbstständige Typen vor. Junge Männer, denen man auf den ersten Blick kaum anmerken würde, was sie durchmachen.
„We need to do something“
Die Opioid-Krise wird oft als verdeckte Epidemie bezeichnet, weil sie nicht in jenem Maße explizit sichtbar ist wie andere Drogenkrisen. Die Menschen liegen, vereinfacht gesagt, nicht regungslos mit der Nadel im Arm in der Ecke. Dabei zieht diese Seuche seit Jahren quer durch die US-amerikanische Bevölkerung, hat längst sämtliche Schichten und Milieus durchdrungen, tausende Leben gekostet und noch mehr Familien zerstört hat. Filmemacher Jamie Sisley ist selber einer jener Söhne, die mit schmerzmittelsüchtigen Eltern zu kämpfen hatten. Dieser Film, sein Spielfilmdebüt, beruht lose auf seinen eigenen Erfahrungen.
Es gibt in STAY AWAKE eine Sequenz, die Ethans Zusammenbruch in einem Krankenhausfahrstuhl zeigt. Er kommt aus der Pathologie, wo er eine tote Frau identifizieren musste. Sie war nicht seine Mutter. Doch von Erleichterung ist Ethan weit entfernt. Er ist – ist es Verzweiflung, die ihn da wie eine Naturgewalt überkommt? Die Erkenntnis, es geht weiter? Sie müssen die Suche nach ihrer Mutter fortsetzen, die wider aller Hoffnung erneut verschwunden ist und von der sie nicht wissen, wie es ihr geht. Und sie stecken weiterhin fest in diesem Albtraum aus Abhängigkeit.
Wyatt Oleff in STAY AWAKE | Foto: Stay Awake LLC/IFB 2022 |
„We need to do something, or we’ll get stuck here.“ – Ethan hätte ein Stipendium weit weg an der Ostküste in der Tasche, Derek könnte Karriere machen als Schauspieler. Sollen sie all das beiseiteschieben? Aber sie können doch ihre Mutter nicht einfach im Stich lassen. Oder doch? Schert sie sich denn überhaupt noch darum, wie es ihnen geht und was sie ihnen antut? Es gibt zwischen den Jungs darüber einen Konflikt. Was tun? Dahinter steckt mehr, stecken auch die Schmerzen und Unsicherheiten des Erwachsenwerdens, die für sich genommen einen Menschen schon genug beschäftigen.
Es könnte alles so schön sein
Aus diesem Konflikt baut Jamie Sisley mit seinen beiden herausragenden Hauptdarstellern Fin Argus (Derek) und Wyatt Oleff (Ethan) ein facettenreiches und spannendes, weil ständig im Wandel begriffenes Kräfteverhältnis zwischen den Brüdern. Ethan, der Druck macht, voran geht, Hoffnung aufbaut, Lösungen sucht, der raus will. Derek, der sich verantwortlich fühlt, sich kümmert, aber auch resigniert scheint und vor der Konfrontation der Mutter ausweicht. Der aber vor allem immer wieder Ethan auffängt und als großer Bruder einfach da ist, wenn sich der aktuelle Hoffnungsschimmer schon wieder in Pillen aufgelöst hat. Diese beiden Jungs brauchen sich gegenseitig als Lotsen wie als Anker, damit sie nicht völlig verzweifeln.
Blendet man allerdings für einen Moment die Katastrophe aus, die ihre Mutter umfasst hat, stehen beide eigentlich an verheißungsvollen Punkten in ihren Leben. Derek wird zu wichtigen Castings eingeladen, Ethan hat das College-Stipendium sicher – und beide haben Freundinnen. Es könnte alles so schön sein, so gut, so normal und bilderbuchmäßig und kleinstadtidyllisch. Könnte.
Fin Argus und Wyatt Oleff in STAY AWAKE | Foto: Stay Awake LLC/IFB 2022 |
In Ethans Fall geht auch noch die Freundin irgendwann verloren, weil er ihr nichts von seiner Bewerbung fürs College weit weit weg erzählt hat. Als sie mit ihm Schluss macht, bricht einiges an Wut über ihn aus ihr heraus. Sortiert man ihre Anwürfe auseinander, schnurrt das mit dem College schnell zur Nebensächlichkeit zusammen. Ihr geht es um Vertrauen. Doch wie soll ein Mensch vertrauen können, der bei jedem Nachhausekommen fürchten muss, dass seine Mutter sich schon wieder ein neues Rezept von dubiosen Ärzten besorgt und sich abgeschossen hat?
Die Zeichen lesen
Aber in der Schimpftirade steckt noch mehr: Wer die Zeichen zu lesen versteht, erkennt in Ethan plötzlich einen jungen Mann, der seine sexuelle Identität noch nicht gefunden hat. Das mit den Frauen scheint jedenfalls nicht so zu funktionieren. Dafür halten sich seine Augen immer stärker an einem Mitschüler fest. Jamie Sisley belässt es bei diesen implizit-expliziten Hinweisen. Sie helfen uns, Ethan als Figur besser zu verstehen, aber eine Coming-Out-Story ist STAY AWAKE deshalb nicht. Zum Glück. Das hätte diese psychologisch klug gebaute und dramaturgisch beeindruckend treffsicher ausbalancierte Story überfrachtet.
STAY AWAKE zeichnet eine wundersame Schönheit aus. Wir sehen faszinierend durchkomponierte Bilder, die, würden sie nicht perfekt auf den Moment passen, zur Düsternis der Erzählebene in unangenehm scharfen Kontrast stünden. Die Lichtstimmung ist beinahe eine eigene Darstellerin, welche den Räumen eine süffige Haptik verleiht. Es sind Kinobilder, ausdrücklich Bilder für die große Leinwand, wie sie wohl nur der US-amerikanische Film zustande bringt. Perfekt kadriert, rundheraus ikonografisch, nicht selten flirrend und von superdicht gewobener Atmosphäre.
Maskottchen, Glücksbringer oder nur Amaturenbrettdekoration im Familienauto? | Foto: Stay Awake LLC/IFB 2022 |
Ethan wird irgendwann eine Verzweiflungstat begehen, die ihre Familie de facto zerstört. Er ist am Ende, er erträgt es nicht mehr, er will nur noch, dass die Last von seinen Schultern genommen wird. Zu lange war er stark, hat sich nicht entmutigen lassen, trotz aller Rückschläge. Ethans Tat ist eine Grenzüberschreitung, trotz allem. Im Grunde unentschuldbar. Doch die Verbindung zwischen diesen beiden Jungs ist nicht kaputt zu kriegen. Derek fängt seinen kleinen Bruder auf, wie er es schon so oft tun musste. Gibt ihm Halt, wo die Welt um sie herum wieder einmal kollabiert. Keine Wertung, keine Vorwürfe, dafür stilles Einverständnis, denn Derek weiß, dass sie nun endlich frei sein können.
14. Februar 2022, 23:50 Uhr, Vergessen
In TRÊS TIGRES TRISTE hat der Virus keinen Namen, aber sein Symptom ist klar: Vergessen. Sao Paulo in einer Gegenwart, die der unsrigen nahezu identisch ist. Eine Pandemie hat die Menschheit befallen, alles einstmals Gekannte ist dadurch in eine neue Realität katapultiert, 1,5 Millionen Menschen sind tot und wenn die Menschen nicht sterben, so wird ihr Gedächtnis zumindest weitestgehend ausgelöscht. Erst fehlen nur ein paar Worte, dann geht der eigene Namen verloren, schließlich alles Andere.
Die Regierung, angeführt von einem proto-faschistischen Präsidenten, verkündet nun, dass in der Pandemiebekämpfung die Goldene Phase starten wird, aber sie unterschlägt, was das genau bedeutet. Derweil versuchen eine junge Transfrau, ein junger schwuler Künstler/Sexarbeiter und dessen gleichaltriger Neffe (fragen Sie nicht), ihre Leben irgendwie weiterzuleben.
Sex im Netz
Küssen ist verboten, Sex(-arbeit) ins Internet ausgelagert, Jobs sind nicht zu bekommen, die Miete bleibt aber weiterhin hoch. Menschen vergessen alles, nur der Kapitalismus vergisst nichts. Nebenbei bleiben die „alten“ Viren bestehen: Malaria, Dengue, Hepatitis, Masern, Mumps, Röteln, – HIV. Für unsere Hauptfiguren in TRÊS TIGRES TRISTE ist HIV kein Problem mehr, dank ihrer Medikamente. Der Neue, der Vergesslichkeitsvirus zwingt derweil zu Abstand, Maske und Desinfektion.
Das ist so in etwa die Ausgangslage dieser Geschichte und schon ein Stückchen mehr. Konkreter wird es in Gustavo Vinaigres drei müden Tigern eigentlich kaum. Dieser Film mäandert herum, verschwatzt sich munter, obwohl doch eigentlich Maskenpflicht herrscht und niemand das Genuschel des Gegenübers versteht. Irrlichtern wäre ein zu scharfes Wort für die Geschichte in TRÊS TIGRES TRISTE. Es gibt schon auch eine Continuity in diesem Streifen, aber die ist eher rudimentärer Natur.
Vielleicht ist das auch das Problem mit diesem Film – jedenfalls wenn man ihm im Kontext der früheren Arbeiten von Gustavo Vinaigre betrachtet, allen voran dem herausragenden A ROSA AZUL DE NOVALIS (Forum 2019). Dessen intellektuelle Schärfe und dramaturgische Präzision erreichen die drei müden Tiger leider nie. Die Pandemie, sie verzehrt auch von den Besten das Beste.
14. Februar 2022, 19:31 Uhr, Liebespaket
Möchte man über A LITTLE LOVE PACKAGE etwas Gutes sagen, dann muss man von der Patina mancher der Drehorte schwärmen. Diese alten Wiener Kaffeehäuser, Geschäfte, Keller und Wohnungen in denen Generationen von Menschen Zeit verbracht haben, lebten, aßen, stritten, rauchten und dabei immer auch etwas von sich zurückließen an diesen Orten. Gelebtes Leben, manifestiert für die Ewigkeit.
Will man Negatives über A LITTLE LOVE PACKAGE sagen, bleibt festzustellen, dass dieser Film eine vollkommen sinnentleerten, lärmende, montagetechnisch schreckliche und darstellerisch unsympathische Lebenszeitverschwendung ist.
14. Februar 2022, 16:43 Uhr, Pudern, Ficken, Remmeln, Bimsen, Petschieren, Stemmen
Keine Heimlichkeiten, keine Scham, der Prozess des Drehens in all seinen Tücken ist Teil des Bildes – fast wie ein Antidot scheinen Ruth Beckermann und ihr Team die Transparentmachung ihrer Arbeit dem Stoff, genauer dem Buch entgegen zu halten, um das es in MUTZENBACHER geht: „Josefine Mutzenbacher oder Die Lebensgeschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“. Ein im selben Moment abstoßendes wie faszinierendes Werk aus dem frühen 20. Jahrhundert, dessen Inhalt, dessen Sound und Schreibweise Männer des 21. Jahrhunderts nachhaltig ins Grübeln stürzt.
Beckermann gelingt dabei mit ihrer dokumentarischen Arbeit das furiose Kunststück, die Transformationen von Männlichkeit, männlichen Rollenverständnissen und männlicher (Hetero-)Sexualität durch die Jahrzehnte hindurch und in all ihren mehr oder minder dunklen Schattierungen sichtbar zu machen. Im Grunde eine Dekonstruktion von Männlichkeit (durch Männer), die vielleicht aber, möchte mensch fast meinen, schon in jenem skandalumwitterten Buch (das mutmaßlich von einem Mann geschrieben wurde) selbst angelegt war.
Selten so einen im besten Sinne verstörenden Film erlebt.
14. Februar 2022, 14:15 Uhr, Liebe
„Wir sind das Volk“
„Wir sind ein Volk“
„Wir sind ein blödes Volk“
– Schlesinger
Aufgeschnappt in Lutz Pehnerts Doku-Porträt-„Liebesliedfilm“ über die ostdeutsche Singer/Songerwriterin Bettina Wegner.
13. Februar 2022, 23:31 Uhr, Besitz ergreifen
Jacques Cousteau steht am Strand, ihm gegenüber eine junge Frau. Er fragt sie: „Do you love this Island?“ Sie antwortet: „Certainly, it’s home I suppose.“ – 1981 entstand diese Aufnahme am Strand von Sable Island, einem Eiland hundert Kilometer vor der Küste Nova Scotias im Atlantik. Wir sehen dieses Archivmaterial irgendwann im Verlauf von GEOGRAPHIES OF SOLITUDE. Einer, in Ermangelung passenderer Worte, Dokumentation über die Insel und ihre einzige menschliche Bewohnerin. 32 Kilometer lang, nur 1,6 Kilometer breit, ist Sable Island eine sturmzerzauste Ansammlung von Sanddünen, hohem Gras, kleinen Teichen, zahllosen Seehunden – und Pferden. Zwischen all dem: Zoe Lucas, die Frau aus der Jacques-Cousteau-Doku.
Die Story von GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist schnell umrissen: eine einsame Insel, eine Wissenschaftlerin und ihr Leben miteinander. Aber hier passiert natürlich wesentlich mehr und es drängen sich ob dieser kuriosen Paarung Fragen auf. Wie kommt die Frau zu dieser Insel? Warum lebt sie dort seit über 30 Jahren und allein? Und wie füllt sie ihren Tag?
Besitz ergreifen
Als Kunststudentin, die bei einem Naturschutzprojekt aushelfen wollte, landete Zoe Lucas Anfang der 1970er an diesem Ort – und blieb. Bis heute. Das hatte sie nicht geplant, es, wie sie es sagt, passierte einfach. Diese biografischen Dinge finden in GEOGRAPHIES OF SOLITUDE Erwähnung, sie sind aber nicht der Kern der Sache. Oder anders gesagt: Es geht hier nicht um Menschen allgemein und auch nicht um einen Menschen im Speziellen. Sollte der Begriff Biopic Anwendung finden, so beträfe er eher Sable Island, denn Zoe Lucas.
Man müsste dann konstatieren, dass die Insel irgendwie Besitz ergriffen hat von ihr. Was die Insel mit Zoe Lucas schaffte, gelingt allerdings auch diesem Film mit seinem Publikum. GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist eine die Zeit vergessen machende und immersive Erfahrung, wie es sie selten als Bewegtbild zu sehen gibt. Es kratz, knackt, knirscht, gluckst, tropft, raschelt und rauscht in diesem Film. Filmemacherin Jacquelyn Mills erkundet Sable Island nicht nur mit ihrer 16-mm-Filmkamera, sie hört ihr zu. Mittels spezieller Mikrofone gräbt sie sich förmlich ein in diesen gefühlt lebensfeindlichen Flecken Erde, der sich erstaunlich voll von Leben zeigt.
Dieses Leben einfach bloß abzubilden ist Jacquelyn Mills Vorgehen dabei nicht. Sie holt es wortwörtlich in und auf den Film, erkundet Sand, Gräser und Pflanzen en détail, folgt Insekten in Supernahaufnahmen, arbeitet Kieselsteinchen, Pflanzenteile oder kleinste Wassertierchen in das 16-mm-Filmaterial ein und vergrößert es somit um ein Vielfaches. Sie entwickelt den Film in Seegras oder Pferdemist, sie übersetzt das Gekrabbel von Ameisen in Musik, sodass die Insekten ihre eigene Filmmusik komponieren.
Plastik von Sable Island – wortwörtlich festgehalten auf 16-mm-Film | Foto: Jacquelyn Mills/IFB 2022 |
Und sie arbeitet mit dem Licht, wie es auf der Insel vorhanden ist. Mal strahlende Sonne, die mit der Kameralinse und den Möglichkeiten der Farbwiedergabe von 16-mm-Film spielt, mal Sturm, der Sand wie Schnee aufscheucht und die Sicht verdeckt. Nachts dann in ultraklaren Sternennächten, scheint der Mond so hell, dass Jacquelyn Mills damit den Film belichten kann, was faszinierend surreale Bilder erzeugt. Das sind alles keine Spielereien, es sind notwendige Schritte, um die Insel als eigenen Organismus zu verstehen.
Der Feind
Zoe Lucas ist eine äußerst akribische Sammlerin und Chronistin dieses Organismus. Mit GPS-Gerät bewaffnet und unter Zuhilfenahme riesiger Excel-Tabellen registriert sie penibel seit gefühlter Ewigkeit jede Entwicklung an diesem Ort. Ob Parasitenbestand im Pferdemist oder ausschließlich auf der Insel vorkommende Insektenarten, ihr entgeht nichts. Auch nicht ein schier endlos auf Stable Island einwirkender Feind: Plastik.
Genau hier wird dieser Film beklemmend und düster. Zoe Lucas sammelt jeden Tag angeschwemmten Plastikmüll ein. Sie sortiert ihn, wäscht ihn, katalogisiert und archiviert ihn. Säckeweise Plasteschnüre, eimerweise Überreste von Luftballons, Tüten, Kabel, Shampooflaschen, Etiketten, Mikroplastik – akkurat nach Größe und Farbe auseinanderdividiert. Und mehr noch, sie kartografiert anhand der Etiketten und Aufdrucke, woher ein Plastikteil stammt, wie weit es durch den Ozean getrieben sein muss. Dann schreibt sie den Absendern. Informiert sie darüber, dass ihr Müll, ihre Halloween-Weihnachts-Valtentinstag-Hochzeits-Wahlkampf-Luftballons in 2000 Kilometer Entfernung an einer nahezu unberührten Insel anlandeten und klärt sie darüber auf, dass es ihr Plastikmüll ist, der Vögel und Fische umbringt. Denn die unerbittliche Archivarin des Lebens und Sterbens auf Sable Island weiß auch, was sich in den Mägen von über 70 Prozent aller toten Vögel findet, die auf der Insel ankommen. Es ist Plastikmüll. GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist so gesehen auch eine berückende Anklage der Umweltzerstörung durch den Menschen.
13. Februar 2022, 20:01 Uhr, andere Realität
Auf Twitter* …
*Mehr über diesen Film in den kommenden Tagen an dieser Stelle – wenn ich es zeitlich schaffe.
13. Februar 2022, 13:49 Uhr, Chatrian hat recht
Sinngemäß wiedergegeben, was Filmemacherin Alice Agneskirchner vor Beginn der Weltpremiere ihrer Dokumentation KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA – DIE GREGORS sagte, findet Carlo Chatrian diesen Film zu lang – 155 Minuten Lauflänge.
Nach diesen 155 Minuten muss man sagen, er hat recht. Anzufügen wäre, dass der Film einen außerdem auch noch mit dem Gefühl entlässt, dass vielzuviel fehlt. Und das die Gregors solch einen Film nicht verdient haben.
Die Gregors bei den Dreharbeiten im Archiv des Kino Arsenal | Foto: Thomas Ernst/IFB 2022 |
KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA will die Geschichte des (legendären) Forums- und Kino-Arsenal-Gründerehepaars Erika und Ulrich Gregor erzählen. Wenn man ehrlich ist, misslingt Filmemacherin Alice Agneskirchner das. Oder funktioniert nur insofern, dass Alice Agneskirchner Glück gehabt hat mit ihren beiden Protagonist:innen. Denn die Gregors, längst hochbetagt, strahlen Film und Kino förmlich aus. Ihre Erinnerungen, aber vor allem die Fähigkeit das alles auch noch abzurufen, sind atemberaubend. Dieser Film lebt einzig vom Gedächtnis der Gregors und ihrer durch und durch sympathischen Aura – wir erleben zwei spleenige Nerds, im allerbesten Sinne zelluloidvergiftet bis in die Haarspitzen. Erste Botschafter des Kinos und seiner ihm eigenen Kraft.
Das Drumherum dieses Films ist zu vergessen. Aus mehr oder minder wichtigen Gründen honoriges Personal der (deutschen) Filmgeschichte spricht Oneliner in die Kamera über ihre Beeinflussung durch die Arbeit der Gregors, dazwischen filmgeschichtliche Wichtigkeit insinnuierende Filmschnipsel. Und gelegentlich darf Senta Berger als Erzählstimme zeithistorische Informationshäppchen ins Mikrofon raunen. Das ist alle so erkenntnisarm, wie es irrelevant und filmisch schrecklich langweilig ist.
Jenseits der Gregors ist KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA so unbeschreiblich weit weg vom Kino, stinkt so sehr nach den miefigen Büroetagen deutscher Fernsehanstalten, dass er den Gregors in ihrer aktiven Zeit wohl nicht in ihr Cinema, ins Arsenal gekommen wäre. Und wie gesagt, Chatrian hat recht.
13. Februar 2022, 10:41 Uhr, Neues Zeitalter
Ich covere die Berlinale mit diesem Blog seit … lange. Ich verfolge die Berlinale noch länger, Kosslicks erstes Jahr als Chef war auch mein erstes Jahr als Zuschauer. In all den Kosslick-Jahren habe ich es nie erlebt, dass die Forums-Leitung und die Berlinale-Leitung zusammen auf der Bühne standen, um einen Film zu präsentieren. Und ich habe auf der Berlinale wirklich sehr viele Vorführungen erlebt.
Mit dem Wechsel in den Leitungspositionen der Berlinale und der Forums-Sektion haben sich die Dinge spürbar verändert. Nun passiert es, dass Christina Nord als Forums-Leiterin und Carlo Chatrian als künstlerischer Direktor der Berlinale gemeinsam Filme präsentieren. Mensch muss dies im historischen Kontext betrachten, denn das Forum, obwohl seit 1971 Teil des Festivals, stand und steht im Grunde bis heute in (filmischer) Abgrenzung zur Berlinale als Wettbewerbsfestival. Und unter Kosslick schien diese Abgrenzung zur Kluft zu werden.
Umso wohltuender, diese beiden Filmnerds nun gemeinsam da vorne stehen zu sehen.
12. Februar 2022, 22:15 Uhr, Boys don’t cry
Zwei Teenager, beste Freunde seit Kindertagen, geraten in emotionalen Trouble miteinander, als der eine sich in den anderen verliebt. Frage: Siegt die Liebe, oder stirbt die Freundschaft? Für einen Coming-of-Age-Film ist das eine recht klassische Geschichte, nein, eigentlich ist es schon ein meterdick mit Staub bedecktes Topoi des Queer Cinema. Unglücklicherweise findet der argentinische Filmemacher Mariano Biasin in seinem Film SUBLIME auch keine irgendwie neuen, wenigsten spannenden oder sonst wie zum Affizieren einladenden Anknüpfungspunkte. Dafür lässt er sich mit 100 Minuten Spielzeit erdrückend lange Zeit, um die Geschichte von Manu und Felipe zur erwartbaren Klimax zu führen.
Auch die eigentlich spannende Idee über das Spielen und Schreiben von Musik, beide Jungs sind die Gitarristen in einer Schülerband, einen erzählerischen Zugang zu bauen, will nicht zünden. Dafür wird das Einstiegsriff von „Boys don’t cry“ von The Cure ausdauernd und bis zur Unkenntlichkeit gequält. Einer der wenigen Lichtblicke in SUBLIME ist noch Hauptdarsteller Martín Miller, der sich als bildhübscher Wuschelkopf beachtlich tapfer durch die emotionalen Zumutungen durchagiert, die das Drehbuch für seinen Manu vorsieht.
Defekto ein prototypischer Fall für die Sektion Panorama, ist Mariano Biasins Arbeit aber Teil der Auswahl für die Jugendfilmsektion Generation. Wie allerdings heutige Vertreter:innen der Generation Z diesen verstockten und aus der Zeit gefallenen Streifen durchhalten sollen, bleibt das Geheimnis des Auswahlteams. Aber im Grunde ist das auch egal. SUBLIME wird in Deutschland vom Salzgeber Filmverleih herausgebracht und in dessen Programmreihe Queerfilmnacht findet der Film sicherlich ein dankbares (etwas älteres) Publikum, welches die elegische Ausbreitung von Gefühlswallungen junger Schwuler noch zu goutieren weiß.
12. Februar 2022, 13:45 Uhr, Schnulzenalarm
12. Februar 2022, 09:35 Uhr, Zweiundfünfzig mal USA
52 Bundesstaaten oder staatenähnliche Gebietskörperschaften haben die USA, 52 statische Einstellungen hat Jamens Bennings neuester Streich UNITED STATES OF AMERICA. Jede dieser Einstellungen ist in etwa 1 Minute 55 Sekunden lang oder kurz. Jede diese Einstellungen wirkt auf den ersten Blick, als ob die Kamera wahllos in die Landschaft gehalten wurde. Nicht jede dieser Einstellungen zeigt den Ort, den der Prätext verheißt.
Doch beim (in Ermangelung einer treffenderen Beschreibung, der Mann ist soviel mehr als das) experimentellen Dokumentarfilmemacher James Benning ist nie etwas wahllos und jedes Bild genau ausgewählt. So auch hier. Da die wenigsten Menschen außerhalb der USA wirklich en détail mit den USA vertraut sind, erschließt sich UNITED STATES OF AMERICA nicht unbedingt und schon gar nicht schnell. Umso mehr ist man darauf zurückgeworfen, sich aus den Sequenzen und dem Gezeigten selber einen Reim zu machen.
Wir sehen also schier unendlich viele Landschaften, nicht wenige davon erstaunlich verdorrt und leblos. Wir sehen Industriekomplexe, Hafenanlagen, von der Kamera aus dem urbanen Zusammenhang herausgelöste Gewerbegebäude, Vorort-Villen, Windräder, Kühltürme, Tagebaue, endlos lange Güterzüge (James Benning ist ein Eisenbahn-Nerd und hat über Güterzüge einen eigenen, sehr empfehlenswerten Film gemacht), Küstenstreifen, Brücken, tote Tankstellen, Kriegsschiffe, Kakteen, Radaranlagen, den Himmel, den Mond, Sonnenblumen.
Die eigene Geschichte der Tonspur
Die visuelle Ebene ist bei James Benning aber niemals der alleinige Erzähler, die Tonspur hat mitunter ihre eigene Geschichte beizusteuern. Zumeist ist es On-Location-Sound der uns verrät, was sich hinter der Kamera abspielt. Etwa, dass das vermeintliche Naturidyll vor der Kamera neben einer Schnellstraße oder in Nachbarschaft an einer Munitionstestanlage liegt. Wir sehen die Klangquellen dabei nie, die Kamera bleibt, wo sie ist. Unser Kopf muss Klang und Bild zusammenbauen, um sich verorten zu können.
Hin und wieder übernimmt auch Foundfootage die Tonspur. In UNITED STATES OF AMERICA hören wir Politiker, die über den militärisch-industriellen Komplex sprechen, wir hören schwarze Bürgerrechtsaktivisten, die über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung mit einem Journalisten diskutieren, wir hören einen Native, der vom Zwang zur Assimilation der Native Americans durch die Weißen berichtet. Und wir hören Musik, Musik aus dem Radio, mal alte Schlager, mal aktuelle Popsongs. Zur Erinnerung in James Bennings Filmen passiert nie etwas zufällig oder zur Dekoration.
Bennings Filme sind Puzzel, UNITED STATES OF AMERICA, der eine Art Update oder Remake eines gleichnamigen Films von Benning aus 1975 ist, darf diesbezüglich als exemplarisch gesehen werden. Seine Filme werfen uns auf unsere eigene Beobachtungsgabe und unsere Erinnerung zurück. Sie sind insofern auch – im besten Sinne – Schulen der Wahrnehmung. Eine Erzählung nach herkömmlicher Lesart, gar einen gestaltlichen Erzähler gibt es nicht. Es braucht ihn auch nicht. James Bennign vertraut seinem Publikum in seiner Fähigkeit, sich schon irgendwie einen Reim auf die Sache zu machen und das zurecht. Selbst wenn man nicht weiß, dass Sequenz Nummer 38 die Kühltürme eines ehemaligen und umstrittenen AKWs zeigt, so weiß zumindest der mit der kollektiven deutschen Erinnerung vertraute Kopf, dass derartige Kühltürme für etwas stehen, was mit gesellschaftlicher Veränderung zu tun hat, die nicht ohne Widerstand errungen wurde. Im Heute der Klimakrise erst recht.
Kartografen des Anthropozäns
Und im Grunde ist dies die auf die Schnelle und Kürze des Blog-Formats heruntergebrochene Quintessenz von James-Benning-Filmen, zumindest von UNITED STATES OF AMERICA: Menschen mache sich Landschaft untertan. Sie besetzen (nicht nur) ihre Lebensräume vollumfänglich, sie prägen und codieren diese mit Menscheitsgeschichte in all ihren uferlosen Exzessen, bis auch das unscheinbarste und Schneeumwehteste Tal seine Unschuld verloren hat, weil es einst Versteck für einen Terroristen war.
Mensch könnte James Benning also vielleicht als Kartografen des Anthropozäns bezeichnen und Dabei seine Filme uns das Hinsehen und Lesen. Aber was wir dabei Entdecken in der ungestörten Friedlichkeit von einer Minute und 55 Sekunden pro Einstellung, gibt vor allem Zeugnis davon, wo Menschen untereinander und gegenüber der Natur mehr als nur übergriffig wurden. James Benning ist dabei kein filmischer Ankläger, kein Kämpfer für die Entrechteten. Derlei aktivistische Aufgeregtheit ist ihm fremd (was ihn im Herzen des aktivistischen Films, der Berlinale, zu einem Novum macht). Er dokumentiert was er sieht, keine Deutung, keine Erklärung. Nichts. Bild und Ton sprechen für sich. Es ist an uns, hinzuschauen. Wir tragen die Verantwortung. James Benning ist vielleicht einer der Letzten der Revolutionär:innen des Weltkinos.
11. Februar 2022, 16:55 Uhr, Juwelendiebe
Die Diamantenindustrie, die sicherer Quelle für ungezählte Streitigkeiten über Vermögenaufteilungen im Scheidungsfall, sie ist am Ende. Nicht weniger arbeitet Filmemacher Jason Kohn in seiner Dokumentation NOTHING LASTS FOREVER (Berlinale Special) heraus. In schnellen Schnittfolge und prägnanten Sätzen seiner irgendwie immer auch etwas sinistren aber durchweg spannenden Protagonist:innen, zeichnet er das Bild einer Industrie, die mit erstaunlicher Hybris davon überzeugt war ihren Markt und die Köpfe der Konsument:innen komplett unter Kontrollen zu haben. Nur um plötzlich schmerzlich zu realisieren, dass die Produktion synthetischer Diamanten ihre über ein Jahrhundert alte und mächtige Industrie unaufhaltsam zerstören wird. Kohn lässt dabei aber durchscheinen, wie wenig Schade es um den Untergang dieser Industrie wäre.
Kinematografisch auf der unauffälligen Seite, filmmusikalisch überambitioniert, in jedem Fall snackable und unbedingt streamingfreundlich bereitet Jason Kohn sein Recherchewerk von 10 Jahren hier dokumentarisch auf. Man könnte sagen, typisch amerikanisch. Das ist kein Vorwurf, schließlich sichert er sich sehr effektiv die Gefolgschaft seines Publikums. Und das ist etwas, das sich nicht wenige Dokumentarfilmemacher:innen (nicht nur) in Europa ebenfalls zum Ziel machen sollten.
Gleichwohl lässt einen dieser Film irgendwie ratlos zurück. Vielleicht, weil gerade aus den USA inzwischen zu viele ähnlich gestrickte Arbeiten erschienen sind, die sich an irgendeinem in jeder Hinsicht fragwürdigen Protagonisten des kapitalistischen Systems abarbeiten. So unterhaltsam NOTHING LASTS FOREVER auch ist, nach Ende des Films bleibt es einem auch reichlich egal, ob die Diamantenindustrie nun überlebt. Oder von schlauen wie verbissenen Geeks plattgemacht und für das nächste Geschäftsmodell aus dem Weg geräumt wird. Das Grundproblem heißt Kapitalismus und es ist weiterhin unangetastet.
11. Februar 2022, 14:23 Uhr, Krieg
„Kriege gebildeter Völker sind weniger grausam.“
Clausewitz, preußischer Generalmajor #Ukraine #Russland #USA
Aufgeschnappt in Raoul Pecks MERRY CHRISTMAS DEUTSCHLAND ODER VORLESUNG ZUR GESCHICHTSTHEORIE II, zu sehen im herausragenden Forum-Sonderprogramm „Fiktionsbescheinigungen“. Unterlegt hatte Raoul Peck seine kleine, aber spannende Fingerübung von 1984 über Deutschland und den Krieg mit diesem Stück von Vivaldi: „Juditha triumphans“ …
11. Februar 2022, 10:25 Uhr, Kinopriester
Wer sich dieser Tage kritisch zu den Omicron-Festspielen positioniert, macht sich nicht unbedingt Freunde. So gerieten etwa die Filmjournalistinnen Anna Wollner und Wenke Husmann für ihre Argumentation gegen die Ausführung der Berlinale 2022 in Präsenz unter Feuer, auch und gerade durch manche Teile der Filmwirtschaft und der cinephilen Community in sozialen Netzwerken.
Es müsse doch jetzt endlich mal Schluss sein mit der Panikmache und Angst, krawehlte es da. Und die Normalität müsse wieder zurückkehren. Film bräuchte das Kino, die Menschen bräuchten das Kino. Was erdreisten sich die Streaming-Banausen, die ja sowieso am liebsten alles nur noch von Zuhause gucken wollen, Forderungen nach Absage eines Kinofestivals zu stellen? Dazu ein paar Gedanken.
Fakt ist: Niemand braucht das Kino, nichtmal der Film. Kino als Ort funktioniert für Menschen dann, wenn es ein Safe Space ist, der rein physisch, aber auch seelisch und gedanklich für ein paar wenige Stunden eine Form von Sicherheit und Geborgenheit vermittelt und einlädt, der Realität zu entfleuchen. Wie das mitten in einer Infektionswelle mit einer hochansteckenden Virusvariante gelingen soll, zumal bei einer Bevölkerung, die alles andere als psychisch stabil auf die Pandemie reagiert hat, bleibt das Geheimnis der Kinofreunde. Von der simplen Tatsache abgesehen, dass 120 Minuten Film plus FFP2-Maske auf der Nase und hinter den Ohren kurz vor Folter anzusiedeln sind.
Kino-Einheitsfront
Vielleicht wähnen sich die Kinofreunde als stählerne Elite, die sich von einem „Schnupfen“ (der binnen zwei Jahren 119.679 Menschen in diesem Land umbrachte) doch die geliebte Blackbox nicht nehmen lässt? Gerne wird beim Versuch der Fürsprache einer Berlinale in Präsenz auch noch auf die Verordnungslage verwiesen und Karl Lauterbach zitiert, der das Kino als sicher befand. Was bei dieser Verantwortungsverlagerung dann aber unterschlagen wird, Lauterbach attestierte die relative Sicherheit des Kinos im Sommer 2020 – da war Lauterbach noch einfacher MdB mit drohendem Mandatsverlust und von Delta wie Omicron keine Spur.
Das virologische Argument schreckt unsere liebe Kino-Einheitsfront also kaum, dafür treibt sie der Glaube umso mehr. Und Gläubige scheinen die Kinofreunde und Cinephilen zu sein. Sie sind vom Glauben getragen, dass Film nur im Kino wirklich rein und wahr sein kann. Sie verteidigen die Erzählung vom magischen Kulturort mit Zähen und Klauen. Sie sprechen direkt oder indirekt jeder filmischen Seherfahrung schonmal die Gültigkeit ab, wenn sie nicht im Kino stattgefunden hat. Diese Gläubigen sind derzeit an vielen Ecken im und rund um das Festival zu finden, sie scharen sich ums Kino wie Priester ums Gotteshaus.
Aber sie sind eine Kirche ohne Kirchenvolk.
Das Kirchenvolk, die Zuschauer:innen, kaufen die eine Predigt vom Kino schon längst nicht mehr. Sie bedienen sich dort, wo es ihnen passt. Sie patchworken ihre Seherfahrungen nach Belieben, nicht erst die Pandemie hat sie dazu veranlasst. TikTok und Youtube auf dem Smartphone, Lieblingsserien per Großstreamer auf dem Smart-TV und eben auch, wenn man Lust drauf hat, einen mehr oder minder „großen“/„spannenden“/„interessanten“ Film im Kino. Alles bunt durcheinander, alles auch mit großer unideologischer Selbstverständlichkeit nebeneinander.
Wenn die sog. Filmkultur bei diesen Menschen ankommen möchte (das „Wenn“ ist hier ein eigener Problembereich), muss sie sich in ihren Sehgewohnheiten öffnen, anstatt im elitären Elfenbeinturm Kino vor sich hin zu grummeln. Die ist das Letzte, was der einstigen Jahrmarktattraktion Kino passieren sollte – ein Elfenbeinturmdasein. Damit wird sich das Kino als Kulturtechnik irgendwann in Luft auflösen, wenn nur die letzten Boomer und cinephilen Millennials endlich ins Gras gebissen haben.
Exklusion
Die Krux ist, mit ihrem Beharren auf Präsenz-Berlinale, mit dem Ausschließen von allem Digitalen zimmern Chatrian, Rissenbeek und Roth gerade fleißig mit an jenem Elfenbeinturm. Ein Elfenbeinturm, der ausschließt. Menschen ausschließt, die nicht in Berlin wohnen und sich die Reise hierher auch nicht leisten können. Menschen, für die die angebliche Barrierefreiheit moderner Kinoorte dann doch eine Welt voller Hürden ist. Menschen, die gerade mit ihren Kindern wieder einmal in Quarantäne hocken, weil die halbe Schule corona-positiv ist (und die den Stream der Generation Kplus gerade sehr gut gebrauchen könnten).
Menschen, die ob ihres Jobs einfach nicht die Zeit haben, sich zu einem exakten Zeitpunkt vor den Rechner zu setzen und in Sekundenbruchteilen zu versuchen, eine Berlinale-Karte zu kaufen (oder, stundenlang Schlange an analogen Kassenhäusern zu stehen). Menschen, die Schwellenängste gegenüber allem haben, was sie als elitär lesen und die lieber erst einmal im Privaten für sich ausprobieren würden, ob so etwas wie ein Filmfestival auch etwas ist, das sie meint.
Die Berlinale war schon vor der Pandemie ein exkludierendes Festival. Nach zwei Jahren Pandemie hätte man hoffen können, dass die filmkulturelle Elite der Republik endlich die Lektion gemeistert hat und Film als Geschichten erzählendes, als die Realität untersuchendes und durchdenkendes Medium begreift, welches den Menschen dort zugänglich gemacht werden muss, wo sie zuhause sind. Das Gegenteil ist der Fall. Das Festival, das sich auch und gerade dadurch zu unterscheiden versucht, ein dezidiertes Publikumsfestival zu sein, verschließt sich und baut durch die halbierte Saalbelegung noch eine weitere Hürde ein. Dabei hätte die Berlinale das Standing und die Anziehungskraft durchaus (gehabt), um den Kultuort Kino mit den digitalen Screens in Harmonie zu bringen – dauerhaft. Denn nichts anderes machen Menschen jenseits der cinephilen Elfenbeintürme jeden Tag – sie sehen Film wie und wo es ihnen passt. Dafür braucht es jetzt am (hoffentlich) Ende der Pandemie Angebote, doch die Berlinale steht mit leeren Händen da – und mit ihr nicht wenige Teile der Filmwirtschaft und der cinephilen Community.
10. Februar 2022, 22:55 Uhr, Panorama-Traditionspflege mit VIENS JE T’EMMÈNE
Es gibt sie noch, die guten Nachrichten von der Berlinale: Die Sektion Panorama pflegt ihre Traditionen. Wie in vielen Jahren zuvor präsentiert die Sektion auch 2022 wieder ein Werk als Eröffnungsfilm, von dem mensch sich wünscht, es schnell wieder zu vergessen. Alain Guiraudie erzählt in VIENS JE T’EMMÈNE von einem unscheinbaren Mann in den 30ern, der einfach nur eine Sexarbeiterin aufsuchen will, aber weil er gegen Prostitution ist, diese lieber zum privaten Treffen bittet.
Die Frau geht auf das Angebot ein und in der Folge lernen wir ihren akut eifersüchtigen Ehemann, einen jungen obdachlosen Araber und rauflustige alte Nachbarn kennen, die es liebend gerne mit einer gewalttätigen Jugendgang aufnehmen würde – neben diversen anderen Figuren. Angetrieben wird die Erzählung von einem Terroranschlag zu Beginn, dessen Ausläufer auf große Teile des Figurenensembles ausstrahlen – und sei es „nur“ in Form aufgestachelter Vorurteile biofranzösischer alter weißer Männer gegenüber jungen Arabern.
Alain Guiraudies Versuchsanordnung über die unkalkulierbaren Querschläger, die Vorurteile von Menschen mitunter produzieren, gerinnt recht schnell zu einer halbgaren Groteske, der es an Timing, Intelligenz und schauspielerischer Anziehungskraft mangelt. Zwar im Kern durchaus mit ein paar treffenden Beobachtungen, vermag es Guiraudie nicht, aus den Abgründen der heutigen französischen Gesellschaft irgendwie satirisches Potenzial zu schlagen und gewinnbringend aufzuarbeiten. Vielmehr wirkt das alles hier irgendwann sehr bemitleidenswert und könnte so auch in einem deutschen Fernsehkrimi stattfinden. Obwohl, nein, im deutschen Fernsehen sind Versuche von subtilem Humor verboten.
Aufhorchen ließen zu Beginn der Vorführung die einführenden Worte von Sektionsleiter Michael Stütz. Sinngemäß wiedergegeben, erklärte Stütz, er und der künstlerische Direktor der Berlinale, Carlo Chatrian, hätten den Film erstmals im Sommer 2021 sichten können und wären schnell einer Meinung gewesen, dass dieser Film unbedingt auf die Berlinale gehöre. Sollte Chatrian VIENS JE T’EMMÈNE tatsächlich für Berlinale-tauglich befunden haben, steht es um das Festival weitaus schlimmer als gedacht.
10. Februar 2022, 17.30 Uhr, Zuhause, #mütend
Sie tun es also wirklich, die bundeseigene Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH (KBB), die Trägerin der Internationalen Filmfestspiele, lässt das Festival starten.
Zur Vergegenwärtigung der Situation ein paar Zahlen – zusammengetragen von meinem taz-Kollegen Gereon Asmuth: der Tageswert an/mit Corona-Verstorbenen i. H.v. 238 lässt den 7-Tage-Mittelwert um rund 10 auf 159,9 hochspringen. Das sind 9,7 % mehr als vor 1 Woche. Der Tageswert an Neuinfektionen i.H.v. 247.862 Menschen lässt den 7-Tage-Mittelwert auf 192.397 steigen, was ein neuer Höchststand ist. Allerdings taugen die Infektionszahlen ob der Überlastung der Labore schon seit einigen Wochen nur noch als Gradmesser mit hoher Dunkelziffer. Die Hospitalisierunsgrate ist laut RKI am Donnerstag auf 6,23 gestiegen. Die Kliniken registrieren damit 24,6 % mehr corona-positive Patient:innen bei den Neuaufnahmen als eine Woche zuvor. Inklusive der fehlenden Nachmeldungen liegt die tatsächliche Rate bei über 11.
Die oberste Kulturpolitikerin des Landes, Kulturstaatsministerin Claudia Roth (B’90/Grüne), und Mariette Rissenbeek, kaufmännische Geschäftsführerin der Berlinale, tingeln seit Tagen durch die Medien, um das physische Stattfinden des Festivals genau in dieser Zeit zu rechtfertigen. Von der Wichtigkeit des gemeinschaftlichen Filmerlebnisses wird fabuliert, von unverzichtbaren Kinomomenten für die Filmteams und vom Stellenwert der Berlinale für die deutsche Filmwirtschaft, ja die Kulturnation Deutschland. Man brüstet sich mit einem angeblich ausgefeilten Sicherheitskonzept und gibt jedem willigen Mikrofon zu Protokoll, was wegen der Corona-Prävention alles weggelassen wird.
Die Werte der Berlinale
Doch einen entscheidenden Punkt umschiffen Roth und Rissenbeek dabei kontinuierlich: Die Werte, für die die Berlinale angeblich steht. Solidarität, Diversität, Nachhaltigkeit. Wie eine Monstranz trägt das Festival seit Jahren diese Werte vor sich her, wirft die filmkünstlerische Relevanz schon mal unter den Bus, wenn nur die insinuierte Wichtigkeit eines Films stimmt und fleißig Foto-Call-Momente produziert. Alles für die gute Sache. Die Berlinale 2022 ist keine gute Sache.
Die Klinikpersonale sind schon wieder und immer noch am Limit, die Betriebe der Daseinsvorsorge und kritischen Infrastruktur stecken ob der vielen Mitarbeiter:innen mit Corona arg in der Bredouille, Kitas und Schulen stehen genauso unter Druck – und die Berlinale rollt den roten Teppich aus. Die Belastungen der Mitarbeiter:innen der kritischen Infrastruktur und/oder die Zumutungen für Kinder und Eltern anzuerkennen, Selbstbeschränkung (als Festival und als Filmmenschen) zu üben und die Berlinale folgerichtig auf einen anderen Termin im Frühling zu verschieben, wäre ein Akt gelebter Solidarität gewesen.
Gescheitert bevor es beginnt
Stattdessen nun eine Filmparty als ob (fast) nichts wäre. Und eine Materialschlacht für die Herstellung einer Illusion von Sicherheit, – über die die hochstansteckende Omicron-Variante wohl nur müde lächeln dürfte. Den Müll für unzählige zusätzliche Tests und Masken für einen Moment beiseitegeschoben, was vom Klimaschutzversprechen der Berlinale noch übrig ist, wenn das Abstandsgebot dazu zwingt, die Pressevorführung eines Wettbewerbsfilms auf gleich sechs(!) Kinosäle aufzuteilen, bleibt das Geheimnis der Festivalmacher. Da dürfte auch der rote Teppich aus recycelten Fischernetzen nichts mehr retten. Die Berlinale auf einen Zeitpunkt zu legen, welcher weniger Aufwand für die Corona-Prävention erfordert, wäre aktiver Klimaschutz gewesen.
Das Präsenz-Festival Berlinale 2022 darf bereits als gescheitertes Festival betrachtet werden, noch bevor der rote Teppich überhaupt eröffnet ist. Gescheitert ist die Berlinale an ihren eigenen Werten, die sie mitten in der Omicron-Wand für fragwürdige kinematografische Gefühligkeit in die Tonne wirft. Gescheitert ist sie aber auch im harten Konkurrenzkampf der A-Festivals. Wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth, vermutlich unfreiwillig, in ihren Statements vor der Presse zugab, hätte Deutschland wichtigstes Kulturfestival bei einer Verschiebung Richtung Frühling oder Sommer Filmproduktionen an Cannes oder Venedig verloren.
Der filmkünstlerische Ruf der Berlinale ist mies, dafür hat der frühere Festivaldirektor Dieter Kosslick nachhaltig gesorgt. Und er wird nicht mehr nur filmkünstlerisch mies bleiben, dafür sorgen nun Roth und Rissenbeek mit ihren Corona-Festspielen. Es gibt kein richtiges Festival im falschen Moment. #mütend