vonmanuelschubert 12.07.2022

Filmanzeiger

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Anlässlich des Arsenal Sommerfests 2022 eine Erinnerung an die faszinierende dokumentarische Arbeit und geradezu immersive Filmerfahrung GEOGRAPHIES OF SOLITUDE von Jacquelyn Mills, die beim Forum 2022 Prämiere feierte. Am 16. Juli 2022 besteht die Chance auf ein (Wieder-)Sehen im Kino Arsenal.


_Jacques Cousteau steht am Strand, ihm gegenüber eine junge Frau. Er fragt sie: „Do you love this Island?“ Sie antwortet: „Certainly, it’s home I suppose.“ – 1981 entstand diese Aufnahme am Strand von Sable Island, einem Eiland hundert Kilometer vor der Küste Nova Scotias im Atlantik. Wir sehen dieses Archivmaterial irgendwann im Verlauf von GEOGRAPHIES OF SOLITUDE. Einer, in Ermangelung passenderer Worte, Dokumentation über die Insel und ihre einzige menschliche Bewohnerin. 32 Kilometer lang, nur 1,6 Kilometer breit, ist Sable Island eine sturmzerzauste Ansammlung von Sanddünen, hohem Gras, kleinen Teichen, zahllosen Seehunden – und Pferden. Zwischen all dem: Zoe Lucas, die Frau aus der Jacques-Cousteau-Doku.

Die Story von GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist schnell umrissen: eine einsame Insel, eine Wissenschaftlerin und ihr Leben miteinander. Aber hier passiert natürlich wesentlich mehr und es drängen sich ob dieser kuriosen Paarung Fragen auf. Wie kommt die Frau zu dieser Insel? Warum lebt sie dort seit über 30 Jahren und allein? Und wie füllt sie ihren Tag?

Der Insel zuhören

Als Kunststudentin, die bei einem Naturschutzprojekt aushelfen wollte, landete Zoe Lucas Anfang der 1970er an diesen Ort – und blieb. Bis heute. Das hatte sie nicht geplant, es, wie sie es sagt, passierte einfach. Diese biografischen Dinge finden in GEOGRAPHIES OF SOLITUDE Erwähnung, sie sind aber nicht der Kern der Sache. Oder anders gesagt: Es geht hier nicht um Menschen allgemein und auch nicht um einen Menschen im Speziellen. Sollte der Begriff Biopic Anwendung finden, so beträfe er eher Sable Island, denn Zoe Lucas.

Man müsste dann konstatieren, dass die Insel irgendwie Besitz ergriffen hat von ihr. Was die Insel mit Zoe Lucas schaffte, gelingt allerdings auch diesem Film mit seinem Publikum. GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist eine die Zeit vergessen machende und immersive Erfahrung, wie es sie selten als Bewegtbild zu sehen gibt. Es kratz, knackt, knirscht, gluckst, tropft, raschelt und rauscht in diesem Film. Filmemacherin Jacquelyn Mills erkundet Sable Island nicht nur mit ihrer 16-mm-Filmkamera, sie hört ihr zu. Mittels spezieller Mikrofone gräbt sie sich förmlich ein in diesen gefühlt lebensfeindlichen Flecken Erde, der sich erstaunlich voll von Leben zeigt.

Plastik von Sable Island – wortwörtlich festgehalten auf 16-mm-Film | Foto: Jacquelyn Mills/IFB 2022

Dieses Leben einfach bloß abzubilden, ist Jacquelyn Mills Vorgehen dabei nicht. Sie holt es wortwörtlich in und auf den Film, erkundet Sand, Gräser und Pflanzen en détail, folgt Insekten in Supernahaufnahmen, arbeitet Kieselsteinchen, Pflanzenteile oder kleinste Wassertierchen in das 16-mm-Filmaterial ein und vergrößert es somit um ein Vielfaches. Sie entwickelt den Film in Seegras oder Pferdemist, sie übersetzt das Gekrabbel von Ameisen in Musik, sodass die Insekten ihre eigene Filmmusik komponieren.

Und sie arbeitet mit dem Licht, wie es auf der Insel vorhanden ist. Mal strahlende Sonne, die mit der Kameralinse und den Möglichkeiten der Farbwiedergabe von 16-mm-Film spielt, mal Sturm, der Sand wie Schnee aufscheucht und die Sicht verdeckt. Nachts dann in ultraklaren Sternennächten, scheint der Mond so hell, dass Jacquelyn Mills damit den Film belichten kann, was faszinierend surreale Bilder erzeugt. Das sind alles keine Spielereien, es sind notwendige Schritte, um die Insel als eigenen Organismus zu verstehen.

Ein Feind

Zoe Lucas ist eine äußerst akribische Sammlerin und Chronistin dieses Organismus. Mit GPS-Gerät bewaffnet und unter Zuhilfenahme riesiger Excel-Tabellen registriert sie penibel seit gefühlter Ewigkeit jede Entwicklung an diesem Ort. Ob Parasitenbestand im Pferdemist oder ausschließlich auf der Insel vorkommende Insektenarten, ihr entgeht nichts. Auch nicht ein schier endlos auf Sable Island einwirkender Feind: Plastik.

Genau hier wird dieser Film beklemmend und düster. Zoe Lucas sammelt jeden Tag angeschwemmten Plastikmüll ein. Sie sortiert ihn, wäscht ihn, katalogisiert und archiviert ihn. Säckeweise Plasteschnüre, eimerweise Überreste von Luftballons, Tüten, Kabel, Shampooflaschen, Etiketten, Mikroplastik – akkurat nach Größe und Farbe auseinanderdividiert. Es hat etwas manisches, etwas verzweifeltes.

Und mehr noch, sie kartografiert anhand der Etiketten und Aufdrucke, woher ein Plastikteil stammt, wie weit es durch den Ozean getrieben sein muss. Dann schreibt sie den Absendern. Informiert sie darüber, dass ihr Müll, ihre Halloween-Weihnachts-Valtentinstag-Hochzeits-Wahlkampf-Luftballons in 2000 Kilometer Entfernung an einer nahezu unberührten Insel anlandeten und klärt sie darüber auf, dass es ihr Plastikmüll ist, der Vögel und Fische umbringt. Denn die unerbittliche Archivarin des Lebens und Sterbens auf Sable Island weiß auch, was sich in den Mägen von über 70 Prozent aller toten Vögel findet, die auf der Insel ankommen. Es ist Plastikmüll. GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist so gesehen auch eine berückende Anklage der Umweltzerstörung durch den Menschen.


PS: Im Rahmen des Arsenal Sommerfests werden sechs ausgewählte Arbeiten aus dem Berlinale Forum und Forum Expanded 2022 gezeigt. GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist dabei am 16. Juli 22 um 20 Uhr im Kino Arsenal zu sehen. Hingehen!

PPS: Sable Island auf Google Maps: https://goo.gl/maps/tRUDjtWu4hxL9vHi9


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