vonmanuelschubert 01.11.2022

Filmanzeiger

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Auf dem Pornfilmfestival Berlin 2022 feierte die dokumentarische Arbeit NARCISSISM – THE AUTO-EROTIC IMAGES von Toni Karat ihre Premiere und fungierte zugleich als Eröffnungsfilm des diesjährigen Jahrgangs. Man darf in derlei Programmierungen, egal welches Filmfestival, nie zuviel hinein interpretieren, gar Botschaften oder Wegweisungen der Kurator:innen zu lesen versuchen. Das wird meistens nirgendwohin führen. Die filmische Bilanz eines Festivals schreibt sich am Ende und zumindest für das Pornfilmfestival gilt, dass die Opener üblicherweise vernachlässigbar sind. Von NARCISSISM lässt sich das nicht automatisch sagen. Allein schon, weil die Kurator:innen den Film während der Eröffnungszeremonie gleichsam als eine Art filmische Zusammenkunft der Pornfilmfestival-Familie annoncierten, geradezu ein Pornfilmfestival-Weihnachten: „Wir kennen hier alle Leute im Publikum und alle Leute auf der Leinwand“, stellte Kuratorin Manuela Kay klar.

NARCISSISM ist mit 90 Minuten Spielzeit die erste abendfüllende Arbeit von Toni Karat, nach mehreren Kurzfilmen. Der dokumentarische Film, zu dem auch ein gleichnamiger Fotoband gehört, versammelt zahlreiche Protagonist:innen der sexpositiven (Porno-)Community Berlins und des Pornfilmfestivals. Es ist eine Tendenz seit mehreren (prä-pandemischen) Jahren, dass sich die Gemeinde rund um das Pornfilmfestival ein Stück weit gegenseitig selber filmt. Wollte man es positiv lesen, wäre von einem Festival der Kollaboration zu sprechen. Nur muss mensch das nicht notwendigerweise positiv lesen und lassen manche der Arbeiten der Berliner Porno-Community seit einiger (prä-pandemischer) Zeit und trotz all der Diversität, die diese Community auszeichnet, eine gewisse Frische durch neue Gedanken, Bilder und Köpfe vermissen.

Allumfassender Diskurs

Zumindest der Kopf bekommt in NARCISSISM einiges zu tun. Angestupst von Oscar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“, lässt Toni Karat etwa zehn Protagonist:innen über ihr Selbstbild, den eigenen Narzissmus und Fragen von Fremdwahrnehmung, von Geschlechter- und Rollenbildern und von gesellschaftlichen Zuschreibungen vor der Kamera reflektieren. Körperform, Geschlechtlichkeit, Sexualität, Frisur, Hautfarbe, Herkunft, Aufwachsen, Älterwerden – kaum ein Bereich bleibt hier unberührt. Nichts weniger als den allumfassenden Diskurs scheinen sich Protagonist:innen und Filmemacher:in vorgenommen zu haben. Die Sprechenden sitzen dabei in einem selbst gewählten Outfit und mal mehr, mal weniger bekleidet auf einem leeren Dachboden eines Berliner Altbaus. In der Nachbarschaft leuten die Glocken der katholischen St. Christopherus Kirche zu Neukölln, hin und wieder wagt die Kamera den Blick durch die Dachluken und auf die Dächer der Stadt.

Still aus NARCISSISM – The Auto-Erotic Images | (c) Bild: Toni Karat/Melting Point Images

Was ist das eigentlich, Narzissmus? Ist das gut, ist das schlecht, sind derlei Wertungen sowieso egal? Wo grenzt sich Narzissmus von Selbstliebe ab? Oder bedingen sich beide? Diese vordergründigen Fragen sind in NARCISSISM schnell beiseite geräumt. Stattdessen übernehmen identitätspolitische Fragestellungen, Suchbewegungen und Selbstverortungen das Regiment. Neben naheliegenden Positionen der Selbstermächtigung des (weiblichen) Subjekts über eine objektifizierende (patriarchale) Gesellschaft, gerät das lesbische Suchen nach (Selbst-)Wahrnehmung ins Zentrum. Dies auch, weil Toni Karat die zu Beginn des Films postulierte Selbstzurückhaltung zunehmend aufgibt und vorgeblich widerwillig die eigene Person und deren Verortung als lesbischen, aber nicht geschlechterbinär lebenden Menschen thematisiert.

Es ist ein gewagt weitschweifender und von ausdrücklich aktivistischen Motiven getränkter Reigen der Gedanken und Positionen, welcher dem Publikum in NARCISSISM Stück für Stück vorgelegt wird. Zugleich ist das alles hier aber auch: ermüdend. Die Ermüdung resultiert aus der Form. Wir sehen die immergleiche Abfolge von Talking Heads auf einem immergleich tristen Dachboden, dazwischen werden Fotos aus dem zum Projekt dazugehörigen Bildband montiert, – hinzu gesellen sich ein paar dekorative Archivmaterialien. Wo die Protagonist:innen nicht sprechen, liefert Toni Karat auf der Tonspur Kommentierungen in einem unangenehm deutsch-schulmeisterlichen Duktus.

Lesbischer Neid

Doch nicht nur die Form wird in NARCISSISM zum Problem. Es kommt der Moment, wo diese anfänglich faszinierende Arbeit auch inhaltlich Befremden auslöst. Da wird etwa lamentiert, dass lesbische Frauen im Patriarchat dermaßen unsichtbar gemacht wurden, dass man sie dereinst nicht mal beim Verfassen des berüchtigten und mörderischen §175 mitbedacht hat. Gefolgt von Austauschfantasien angesichts schwuler Bilderwelten (Was wäre, wenn man den Schwulen durch eine Lesbe ersetzte?) bis hin zu steilen Thesen über das Gedenken an lesbische Insass:innen im KZ Ravensbrück.

Still aus NARCISSISM – The Auto-Erotic Images | (c) Bild: Toni Karat/Melting Point Images

Lesbischer Neid auf die Schwulen, wie er sich in NARCISSISM Bahn bricht, ist indes ein altes Sujet. Und es mag natürlich auch einen wahren Kern haben, wenn kritisiert wird, dass es die schwulen Männer aufgrund ihres schieren Mannseins in kapitalistisch-durchwalkten Gesellschaften eventuell eine Nuance leichter hatten als die lesbischen Frauen, welche, so eine der zentralen Thesen in diesem Film, im kapitalistischen Patriarchat unsichtbar gemacht würden, da sie und ihre Körper für den Mann ökonomisch wertlos sind.

Doch mehr als eine Nuance ist es eben auch nicht. Und am Ende wurde die schwule Sichtbarkeit gegen das heteronormative Patriarchat erkämpft und nicht mit ihm. Schwule Freiheit und Safe Spaces gab es nicht als Geschenk von einem Penisträger zum nächsten – es braucht kein Studium der Rechtsgeschichte des § 175 zwischen 1872 und 1994, um dies zu begreifen.

Selbstermächtigung

Insofern verlässt mensch diese dokumentarische Arbeit mit einer gewissen Depression. Was als verheißungsvolle Erörterung des Narzissmus auch und gerade im Kontext von Selbstliebe/Masturbation beginnt, gerinnt zum kleinmütigen Traktat über lesbische Unsichtbarkeit, trotz faszinierender Protagonist:innen wie Autor:in Maja Buhmann, Filmemacher:in Marit Östberg, Künstler:in Aktivisti:in Del LaGrace Volcano, Performer:in Lexi Dark oder Journalist:in Walter Crasshole. Wenn Lesben nichts Besseres mehr einfällt, als sich an den Schwulen (und natürlich am Kapitalismus) abzuarbeiten, dann steht es um die lesbische Bewegung reichlich düster.

Die Schwulen haben sich ihren Teil der Welt durch Selbstermächtigung und das Schaffen eigener Sprachen, eigener Kulturen und natürlich eigener Räume erobert. Niemand hat ihnen irgendetwas geschenkt. Schon gar nicht heterosexuelle Cis-Männer. Wenn NARCISSISM zu etwas gut ist, dann dazu zu studieren, wie eine lesbische Opfererzählung funktioniert. Eine Opfererzählung, welche „die“ Lesben aller Geschlechter dringend ablegen und durch eigene Erzählungen und unbedingt laut ersetzen sollten. Eine stolze, selbstbewusste, selbstliebende, sexpositive und dann gerne auch narzisstische lesbische Zukunft muss erst noch geschrieben werden, denn die lesbische Gegenwart, das belegt Toni Karat mit und durch NARCISSISM eindrücklich, ist mehr als beschissen. _

NARCISSISM – The Auto-Erotic Images, 90′, dokumentarische Form, DE 2022, Toni Karat


Das Kino Moviemento spielt NARCISSISM – The Auto-Erotic Images ab 03. November 2022 für eine Woche exklusiv. Tickets gibts auf der Homepage des Moviemento.


Hintergrund: Zum 17. Mal lud das Pornfilmfestival Berlin vom 25.-30. Oktober 2022 zu filmischen Erkundungen menschlicher Sexualitäten und allem was damit in Zusammenhang kommt. Der Filmanzeiger berichtete über das Pornfilmfestival im Rahmen eines Dauerliveblogs mit Gedanken, Schnipseln und Texten zu den Filmen des Festivals.

Ausgewählte längere Texte dieses Dauerliveblogs sind inzwischen ausgekoppelt:

Nicht wandeln in Finsternis – die Filme von Matt Lambert

Wer behält das letzte Wort? – RUA DOS ANJOS von Renata Ferraz und Maria Roxo

Der Terror gegen die Frauen – Dokus zu Andrea Dworkin und Lydia Lunch


 

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