Ab 26. Januar 2023 tourt der Gewinner des Gilde-Filmpreises auf der Berlinale 2022 im Rahmen des Berlinale Spotlight: Generation Cinema Vision 14plus durch ausgewählte deutsche Arthouse Kinos. Die nachfolgende Filmkritik zu STAY AWAKE entstand während der Berlinale 2022.
or we’ll get stuck here.“
_Wenn die eigene Mutter von Schmerzmitteln schwer suchtkrank ist, wie lange sollte man sie als heranwachsender Sohn zu ihr halten und sie unterstützen? Unterstützen im Sinne, dass man sie nachts immer und immer wieder zugedröhnt einsammelt und in die Notaufnahme schafft. Unterstützen dabei, schon wieder einen neuen Entzug zu beginnen und dafür eine bezahlbare Klinik zu finden. Unterstützen im Sinne von, auf die Versprechen zu vertrauen, dass es diesmal klappt und das versprochene gemeinsame Abendessen endlich stattfindet. Unterstützen auch, indem man seine eigene Zukunft zurückstellt. Wie lange?
Für den 17-jährigen Ethan und seinen 19-jährigen Bruder Derek stellt sich diese Frage ganz konkret. Sie leben mit ihrer alleinerziehenden und süchtigen Mutter in einer Kleinstadt in Virginia, USA. Filmemacher Jamie Sisley stellt uns Ethan und Derek, seine beiden Hauptfiguren in STAY AWAKE, als enorm sympathische, kluge, sehr gut aussehende und verdammt selbstständige Typen vor. Junge Männer, denen man auf den ersten Blick tatsächlich kaum anmerken würde, was sie durchmachen.
Albtraum aus Abhängigkeit
Die Opioid-Krise wird oft als verdeckte Epidemie bezeichnet, weil sie nicht in jenem Maße explizit sichtbar ist wie andere Drogenkrisen. Die Menschen liegen, vereinfacht gesagt, nicht regungslos mit der Nadel im Arm in der Ecke. Dabei zieht diese Seuche seit Jahren quer durch die US-amerikanische Bevölkerung, hat längst sämtliche Schichten und Milieus durchdrungen, tausende Leben gekostet und noch mehr Familien zerstört hat. Filmemacher Jamie Sisley ist selber einer jener Söhne, die mit schmerzmittelsüchtigen Eltern zu kämpfen hatten. Dieser Film, sein Spielfilmdebüt, beruht lose auf seinen eigenen Erfahrungen.
Es gibt in STAY AWAKE eine Sequenz, die Ethans Zusammenbruch in einem Krankenhausfahrstuhl zeigt. Er kommt aus der Pathologie, wo er eine tote Frau identifizieren musste. Sie war nicht seine Mutter. Doch von einer dementsprechenden Erleichterung ist Ethan weit entfernt. Er ist – ist es Verzweiflung, die ihn da massiv überkommt? Die Erkenntnis, es geht weiter? Sie müssen die Suche nach ihrer Mutter fortsetzen, die wider aller Hoffnung erneut verschwunden ist und von der sie nicht wissen, wie es ihr geht. Und sie stecken weiterhin fest in diesem Albtraum aus Abhängigkeit.
„We need to do something, or we’ll get stuck here.“ – Ethan hätte ein Stipendium weit weg an der Ostküste in der Tasche, Derek könnte Karriere machen als Schauspieler. Sollen sie all das beiseiteschieben? Aber sie können doch ihre Mutter nicht einfach im Stich lassen. Oder doch?
Schert sie sich denn überhaupt noch darum, wie es ihnen geht und was sie ihnen antut? Es gibt zwischen den Jungs darüber einen Konflikt. Was tun? Dahinter steckt mehr, stecken auch die Schmerzen und Unsicherheiten des Erwachsenwerdens, die für sich genommen einen Menschen schon genug beschäftigen.
Es könnte alles so schön sein
Aus diesem Konflikt baut Jamie Sisley mit seinen beiden herausragenden Hauptdarstellern Fin Argus (Derek) und Wyatt Oleff (Ethan) ein facettenreiches und spannendes, weil ständig im Wandel begriffenes Kräfteverhältnis zwischen den Brüdern. Ethan, der Druck macht, voran geht, Hoffnung aufbaut, Lösungen sucht, der raus will. Derek, der sich verantwortlich fühlt, sich kümmert, aber auch resigniert scheint und vor der Konfrontation der Mutter ausweicht. Der aber vor allem immer wieder Ethan auffängt und als großer Bruder einfach da ist, wenn sich der aktuelle Hoffnungsschimmer schon wieder in Pillen aufgelöst hat.
Diese jungen Kerle brauchen sich gegenseitig als Lotsen wie als Anker, damit sie nicht völlig verzweifeln.
Blendet man allerdings für einen Moment die Katastrophe aus, die ihre Mutter umfasst hat, stehen beide eigentlich an verheißungsvollen Punkten in ihren Leben. Derek wird zu wichtigen Castings eingeladen, Ethan hat das College-Stipendium sicher – und beide haben Freundinnen. Es könnte alles so schön sein, so gut, so normal und bilderbuchmäßig und kleinstadtidyllisch. Könnte.
In Ethans Fall geht die Freundin irgendwann verloren, weil er ihr nichts von seiner Bewerbung fürs College weit weit weg erzählt hat. Als sie mit ihm Schluss macht, bricht einiges an Wut über ihn aus ihr heraus. Sortiert man ihre Anwürfe auseinander, schnurrt das mit dem College schnell zur Nebensächlichkeit zusammen. Ihr geht es um Vertrauen. Doch wie soll ein Mensch vertrauen können, der bei jedem Nachhausekommen fürchten muss, dass seine Mutter sich schon wieder ein neues Rezept von dubiosen Ärzten besorgt und sich abgeschossen hat?
Die Zeichen lesen
Aber in der Schimpftirade steckt noch mehr: Wer die Zeichen zu lesen versteht, erkennt in Ethan plötzlich einen jungen Mann, der seine sexuelle Identität noch nicht gefunden hat. Das mit den Frauen scheint jedenfalls nicht so zu funktionieren. Dafür halten sich seine Augen immer stärker an einem Mitschüler fest.
Jamie Sisley belässt es bei diesen implizit-expliziten Hinweisen. Sie helfen uns, Ethan als Figur besser zu verstehen, aber eine Abhandlung über nicht-heterosexuelle Selbstfindung, ein explizierter Coming-Out-Film (mit seinen eigenen Genre-immanenten Formalismen) ist STAY AWAKE deshalb nicht. Gut so. Das hätte diese psychologisch klug gebaute und dramaturgisch beeindruckend treffsicher ausbalancierte Story überfrachtet.
STAY AWAKE zeichnet eine wundersame Schönheit aus. Wir sehen faszinierend durchkomponierte Bilder, die, würden sie nicht perfekt auf den Moment passen, zur Düsternis der Erzählebene in unangenehm scharfen Kontrast stünden. Die Lichtstimmung ist beinahe eine eigene Darstellerin, welche den Räumen eine süffige Haptik verleiht.
Bilder für die Leinwand
Es sind Kinobilder, ausdrücklich Bilder für die große Leinwand, wie sie wohl nur der US-amerikanische Film zustande bringt. Perfekt kadriert, rundheraus ikonografisch, nicht selten flirrend und von superdicht gewobener Atmosphäre. Bilder, die sich einprägen, die ihren Teil dazu beitragen, dass dieser Film noch lange im Kopf nachwirkt.
Ethan wird irgendwann eine Verzweiflungstat begehen, die ihre Familie de facto zerstört. Er ist am Ende, er erträgt es nicht mehr, er will nur noch, dass die Last von seinen Schultern genommen wird. Zu lange war er stark, hat sich nicht entmutigen lassen, trotz aller Rückschläge.
Ethans Tat ist eine Grenzüberschreitung, trotz allem. Im Grunde unentschuldbar. Doch die Verbindung zwischen diesen beiden Jungs ist nicht kaputt zu kriegen. Derek fängt seinen kleinen Bruder auf, wie er es schon so oft tun musste. Gibt ihm Halt, wo die Welt um sie herum wieder einmal kollabiert. Keine Wertung, keine Vorwürfe – dafür stilles Einverständnis.
STAY AWAKE | USA 2022 | Jamie Sisley | 94′ | Generation 14plus
Dieser Text wurde zuerst am 15. Februar 2022 während der Berlinale 2022 veröffentlicht. Im Rahmen von Berlinale Spotlight: Generation Cinema Vision 14plus, tourt STAY AWAKE ab 26. Januar 2023 für kurze Zeit durch ausgewählte deutsche Arthouse-Kinos. Darunter Filmtheater am Friedrichshain (Berlin), Thalia (Potsdam), Filmpalette (Köln) und Arthouse (Frankfurt/Main). Vision Kino bietet filmpädagogisches Begleitmaterial zur Kinotour.