vonmanuelschubert 22.10.2025

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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23. Oktober, 12:04 Uhr | BDSM als Heilung

Paul ist ein jüngerer Kerl in einer größeren Stadt in Kanada und er hat Probleme: Seit Jahren kapselt er sich ab. Er bewirtet seine Depression, kämpft mit Angststörungen und starkem Übergewicht. Er lebt in Games und im Netz, baut sich dort eine sichere Welt. Doch genau dieses Netz wird zum Werkzeug seines Ausbruchs: „Cleaning saved my life.“ – so beginnt er jedes seiner Instagram-Videos. Was nichts anderes bedeutet, als dass er Frauen unentgeltlich Putzdienste anbietet. Und wie alles andere filmt er diese Arbeiten mit seinem Smartphone und stellt sie online.

Still aus PAUL: Paul beim Putzen eines Badezimmers - schwarze Hornbrille, schwarzes Shirt, ein durchschnittlicher, geradezu langweiliger Kerl vom Äußeren her.
Still aus PAUL: Paul bei der Arbeit bzw. in Therapie | Foto: Coop Vidéo de Montréal

Der kanadische Filmemacher Denis Côté begleitet Paul für seine gleichnamige Dokumentation PAUL, die nach der Berlinale 2025 nun zum Glück noch einmal im Pornfilmfestival zu sehen ist, eine Zeit lang mit der Kamera. Er trifft auf einen jungen Mann, der sich mühsam, aber entschlossen aus seiner Misere kämpft. Die Putzdienste sind längst mehr als eine Beschäftigung – sie sind zu einem Rahmen geworden, in dem er gefordert und auch aufgefangen wird. Seine Dominatrixes lassen ihn nicht nur putzen, sondern kontrollieren auch sein Workout, sprechen mit ihm über sein Essverhalten, bringen ihm Yoga bei. Mal ist es eine Strafe, mal ein Ansporn – immer aber ein Spiel mit Kontrolle und Hingabe.

Arbeit am Ich

BDSM als Mittel gegen Angststörungen – das klingt ungewöhnlich, ergibt aber Sinn. Kein anderer Bereich der sexuellen Interaktion ist so stark an den Kopf gebunden, verlangt so viel Arbeit am Ich, um auf die nächste Stufe zu kommen. Was in einer Session funktioniert, strahlt in den Alltag aus.

Paul, dessen Insta-Name schlicht „Cleaning Simp Paul“ lautet (also ungefähr Putzknecht Paul), ist noch mitten im Prozess. Aber so ist das eben mit Heilung – sie dauert. Côtés Dokumentation zeigt, wie gut ihm die Arbeit für und mit seinen Dominatrixes tut und wie sehr sie ihm hilft, seine Ängste Stück für Stück zu überwinden.

Mit einem fast beiläufigen Flow zieht Côté uns in diesen Prozess hinein. Sein Film verweilt nie zu lange an einem Punkt, sondern bleibt in Bewegung – genau wie Paul selbst. So macht er eine zutiefst persönliche Reise sichtbar, wie auch spürbar – und zeigt dabei, wie sehr BDSM einem Menschen helfen kann.


22. Oktober 2025, 15:23 Uhr | Narbengewebe

Narben sind in den Arbeiten auf dem Pornfilmfestival ein durchaus bekanntes Sujet. Und meistens sind es Filmemacher:innen, die die Vernarbtheit von Körpern – von ihren Körpern – zum Thema ihrer filmischen Arbeit machen.

„I’m proud of the scars we bear“, gibt ein:e der Performer:innen gleich zu Beginn des britischen Beitrags THE SHAPE OF US von Filmemacher:in Roxy Nova zu Protokoll. Wir sehen zwei weibliche Körper, die auf jeweils unterschiedlichste Weise geprägt und verändert wurden. Nicht allein Schmuck: Da sind Tattoos – und derer viele. Aber da sind eben auch Narben.

Einer der Körper trägt gleich fünf größere Narben mit sich, doch diese zu zählen, obliegt nicht uns als Zuschauenden. Wir sehen auch nicht unbedingt alle fünf Narben in dieser enorm sinnlichen und beinahe hypnotischen Arbeit. Wir erfahren von ihrer Anzahl fast beiläufig und doch eindrücklich: „One for each scar“, sagt die Dom zu ihrer Sub, während sie ihr mit der Peitsche – noch – zärtlich über Rücken und Arsch streicht.

Körper in engster Nähe

Dass narbengeprägte Körper selbstverständlich ebenso begehrenswert sein können wie die weniger oder nicht vernarbten, ist eigentlich eine Binse. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es umso schöner oder wichtiger, diese Körper ebenso auf der Leinwand in einem lustvollen Kontext repräsentiert zu sehen wie die anderen.

Der Kontext ist hier der einer BDSM-Session. Es beginnt indes enorm zärtlich: Berührungen, Streicheln, Küssen, Umarmen, Körper in engster Nähe, sich gegenseitig genießend. Der Bildhintergrund, ein sonnendurchflutetes BDSM-Studio, macht uns derweil langsam bewusst, wohin sich dieses kuschelnde Duo bewegen wird – oder bewegen könnte.

Denn Filmemacher:in Roxy Nova führt uns klar vor Augen: Im Idealfall ist der Prozess einer BDSM-Session keinesfalls gradlinig. Es ist ein großer und verschlungener Dialog – ein Dialog, der durch stetiges, aufrichtiges wie neugierig-erregtes Fragen erkundet, wohin die Reise geht: wo das Gegenüber gerade steht, wie es sich fühlt und was als Nächstes kommen könnte.

Tanz um die Begierden

Die Vokabel „Consent“ ist aus progressiven Sexdiskursen schon lange nicht mehr wegzudenken und meint nicht weniger als: Nur Ja heißt auch Ja. In einem BDSM-Kontext ist dies die Grundlage von allem – im alltäglichen „Rein-Raus“ nicht unbedingt. Dabei sollte es in jeder sexuellen Interaktion stattfinden, auch wenn es ein Aufwand ist.

Gleichwohl ist es eine lohnenswerte Anstrengung, wie Roxy Nova und ihre Performer:innen in THE SHAPE OF US veranschaulichen. Der Dialog der beiden Performer:innen nimmt hier bisweilen fast etwas Rhythmisches an. Es ist wie ein sanfter Tanz um die Begierden – und darum, wie sie auf gewinnbringend schmerzvolle Weise befriedigt werden können. Und zu diesem Dialog gehört es eben auch, anzusagen, wie viele Peitschenhiebe als Nächstes zu erwarten sind: fünf – für jede Narbe einen.

THE SHAPE OF US ist eine fantastische filmische Miniatur über die Schönheit des Dialogs im Sex und eine Feier der alltäglichen, der schönen Körper jenseits der Schönheitsnormen – ein ungemein starker Beitrag in einem fast durchweg eindrucksvollen und sehr musikalischen Jahrgang der lesbischen Kurzfilme beim Pornfilmfestival 2025.


21. Oktober 2025, 23:48 Uhr | Pornobums im Prenzlberg

DTM! – Diese Abkürzung, die die beiden international gefeierten Dragkünstler:innen Trixie Mattel und Katya Zamolodchikova in ihrem Podcast The Bald and the Beautiful geprägt haben, steht für Doing Too Much. Übersetzt: Etwas – ein Projekt, eine Tat, ein Kunstwerk – wird so überengagiert mit Leben gefüllt, dass es daran zerbricht oder mindestens dysfunktional wird. Zu viel des Guten. Viel zu viel.

„Doing Too Much“ – irgendwie trifft dies auch auf Annapurna Srirams FUCKTOYS zu – den Eröffnungsfilm des Pornfilmfestivals Berlin 2025 und Gewinner des „Special Jury Award for a Multi-Hyphenate“ (sic!) beim SXSW-Festival in den USA.

Sriram, die in FUCKTOYS auch die Hauptrolle spielt, erzählt lose die Geschichte von AP. AP ist eine junge Sexarbeiterin mit einem großen Problem: Ein Fluch liegt auf ihr, ein ziemlich mieser noch dazu, und er wird ausdrücklich nicht gut enden. So prophezeit es ihr gleich zu Beginn eine Wahrsagerin aus den Sümpfen irgendwo im Süden der USA – hinreißend überzeichnet verkörpert übrigens von der US-Drag- und Bounce-Ikone Big Freedia. Um den Bann zu brechen, so die Seherin, braucht es ein wortwörtliches Opferlamm. Und 1.000 Dollar.

Visuelle Orgie

Damit ist die Story gesetzt. In den folgenden knapp hundert Minuten begleiten wir die junge AP und ihre:n Love Interest bei einem fiebrig-verpeilten Roadtrip auf der Suche nach Geld, einem Lamm – und der Flucht vor den näher rückenden Einschlägen des Fluchs.

Sriram entwickelt daraus eine satte visuelle Orgie. Gedreht auf 16-mm-Film, arbeitet sie mit einer Kamera, die große Gesten und Bilder keinesfalls scheut, sondern diese de facto sucht, die in Korn und Farbe badet – genauso wie in Genres und erzählerischen Topoi. Grindhouse trifft Sexploitation, trifft Roadmovie und Romanze, trifft Buddy-Movie und Thriller; experimentelle Filmkunst der 1970er kollidiert mit den glänzenden, allzu „kuratierten“ Streaming-Schauwerten unserer Gegenwart.

Dieser Film will sehr viel sein – und ist auch sehr viel, das sei betont. Doch etwas Entscheidendes fehlt: eine Geschichte, die trägt. Spielfilm, egal in welcher Form, bleibt eine erzählende Kunstform. Es geht um Figuren, um ihr Sein innerhalb einer Geschichte, um Resonanzräume, in denen Bild, Erzählung und Publikum miteinander verschmelzen. Dort verankern sich Filme in uns, dort schreiben sie sich ein – im besten Fall für immer. Oder wenigstens für länger. Doch dafür hat FUCKTOYS keine Zeit.

Herz des Festivals

Vor Beginn der Vorführung nutzten die Festivalkurator:innen die Bühne des ausverkauften Kino Colosseum in Prenzlauer Berg, wo das Pornfilmfestival 2025 eröffnete und erstmals in seiner Geschichte gastierte, um einen der ihren zu würdigen: Jürgen Brüning – Gründer, Organisator, Kurator, Mentor und Herz des Festivals seit nun zwanzig Festivaljahrgängen.

Mehr als folgerichtig verlieh das Festival seinen ersten Preis des Jubiläumsjahrgangs an eben jenen Jürgen Brüning. In seiner Laudatio auf einen „Anarchisten“, eingerahmt von einer Mini-Werkschau der Arbeiten des Produzenten und Filmemachers Brüning, sprach Filmemacher Wieland Speck, langjähriger früherer Leiter der Berlinale-Sektion Panorama, von einer Besonderheit der Filme, die unter Brünings Einfluss entstanden: Diese Filme bleiben. Sie sind nicht vergessen, wenn man das Kino verlässt. Sie schreiben sich ein. Sie begleiten uns.

Auf FUCKTOYS wird diese Eigenschaft kaum zutreffen. Keine Frage, dies ist ein wirklich toll gemachter Film – berauschend fotografiert, atmosphärisch dicht, mit einem herausragenden Ensemble. Aber eben: Er will zu viel.
Er überdreht, ohne daraus einen Mehrwert zu gewinnen. Lovestory, Milieustück, Mystery, Drama, Thriller, Roadmovie – Versatzstücke, geradezu atemlos und eng aneinandergereiht, bis nur noch das Ornament bleibt. Erstklassiges Film-Fastfood, kunstvoll serviert, abseits von Hollywood. Aber eben auch nur das. Schade.


21. Oktober 2025, 13:00 Uhr | Actionfilme

„Pornos sind Actionfilme und keine Dokumentationen“ 

Madita Oeming, Kulturwissenschaftlerin


 

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