vonfini 07.09.2020

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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„Dass bei der Überquerung des Mittelmeers Menschen sterben, ist die Folge davon, dass Europa eine Festung um sich gebaut hat. Wenn dann die Leichen nicht geborgen und ihre Angehörigen nicht über ihren Tod informiert werden, damit sie trauern können, zeigt, dass das letzte bisschen Würde, das die EU noch hatte, mit diesen Menschen im Mittelmeer ertrunken ist.

Hinzu kommt, dass uns die italienische Zivilluftfahrtbehörde seit einigen Tagen keine Genehmigung für jede Art von Aufklärungsflügen mehr erteilt. Die Tatsache, dass diese italienische Behörde unser Flugzeug festsetzt und alles in ihrer Macht stehende tut, um unsere Mission aus der Luft zu stoppen, ist jedoch nicht hinnehmbar und inakzeptabel. Allen voran, da wir in den letzten 3 Monaten 47 Missionen geflogen sind und dabei aus der Luft mehr als 2500 Menschen in Seenot gefunden haben und somit massiv zur Aufklärung im zentralen Mittelmeer beigetragen haben. Solch ein politisches Vorgehen gegen unsere Luftaufklärung, willkürliche Verbote oder Festsetzung unserer Flugzeuge kennen wir sonst nur aus anderen Teilen dieser Welt. Mitten in Europa, im Rechtsraum der Europäischen Union, ist das ein Skandal.“
(Felix Weiss, Sea-Watch e.V.)

Seit 2017 wird die Flotte der zivilen Seenotrettung Sea-Watch e.V. durch Aufklärungsflugzeuge ergänzt. Durch sie können größere Seegebiete beobachtet und Schiffe in Not gezielter gerettet werden. Schiffe, die sich in den Seenotrettungszonen anliegender Staaten befinden, werden dort gemeldet, damit sie an Land gebracht werden. Man könnte meinen, dies führe zu einer gut koordinierten Rettung von Menschen in Seenot durch zivile und staatliche Rettungseinheiten. Der heute durch Amnesty International veröffentlichte „Malta-Bericht“ zeigt jedoch das absolute Gegenteil. Er zeigt, wie innerhalb der Europäischen Union nahezu täglich Menschenrechtsverletzungen durch Malta verübt werden. Malta gewährt fliehenden Menschen weder das Recht auf Leben noch das Recht auf Asyl, stattdessen werden Menschen in Seenot ignoriert oder der sogenannten „Libyschen Küstenwache“ überlassen.

Not our Business – Tötung im Dienste der EU

Seit 2017 stellt die EU mehr als 90 Mio. Euro für das Projekt „Unterstützung zu integrierten Grenzkontrolle und Migrationsmanagement“ in Libyen zur Verfügung. Die sogenannte Libysche Küstenwache ist insofern stets zu Diensten, wenn es darum geht, abgetriebene Boote Richtung Libyen aus dem Verkehr zu ziehen und zivile Seenotretter*innen in Lebensgefahr zu bringen. Dass Libyen als Failed State gilt und insofern keinen sicheren Abschiebeort für Geflüchtete darstellt, ignoriert die EU an dieser Stelle trotz der Bestätigung durch den Genfer Gerichtshof. Die Externalisierung der Europäischen Außengrenzen bleibt weiterhin die eleganteste Möglichkeit, sich aus den vielbesungenen Menschenrechten herauszuwinden.

Dank der Genfer Konvention und konkreter gefasst in Artikel 18 der Charta der europäischen Grundrechte haben in der EU Menschen auf der Flucht das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen, sobald sie einen Fuß auf europäischen Boden setzen. Da ein Asylantrag persönlich gestellt werden muss, können sie den Antrag nur in dem Staat stellen, in dem sie sich gerade befinden. Auch außerhalb der EU könnte ein Mensch einen „Antrag auf internationalen Schutz“ nach der Genfer Konvention stellen. Die Frage ist nur: An wen?

Die Aporien der Menschenrechte

Menschen, deren Menschenrechte verletzt werden, haben in den meisten Fällen vor allem ein Problem: Sie gehören keinem Staat an, der ihre Rechte garantiert/garantieren kann oder die Menschenrechte werden vom Staat selbst missachtet. Hierfür wird nicht selten eine Situation kompletter Rechtlosigkeit für bestimmte Menschen oder Gruppen geschaffen. Bekannteste Vertreterin dieser Aporie (= „Unmöglichkeit, eine philosophische Frage zu lösen, da Widersprüche vorhanden sind, die in der Sache selbst oder in den zu ihrer Klärung gebrauchten Begriffen liegen“) der Menschenrechte war die Philosophin Hannah Arendt, die selbst jahrelang staatenlos war: Wenn Menschenrechte tatsächlich für alle Menschen gelten sollen, müssen sie auch einen Schutz vor Staaten ermöglichen und damit können sie kaum als Rechte formuliert werden. Denn wie jedes Recht können sie nur durch Staaten oder Staatengemeinschaften garantiert werden. Somit sind Menschen, die staatenlos sind – wie Menschen auf der Flucht (nicht immer de jure, aber meistens de facto) – auch rechtlos. Menschen, die keine gleichwertigen Mitglieder einer Gemeinschaft sind und insofern keinen rechtlichen Bezugsrahmen haben, haben keine Rechte und noch weniger Menschenrechte. Nach Arendt haben sie das entscheidende Recht, Rechte zu haben, durch das Verlassen ihres Staates verloren. Sichtbar wird dieser Verlust an der bei und nach Menschenrechtsverletzungen immer wieder auftauchenden Frage: „Ist das ein Mensch?“ (formuliert von Primo Levi, Überlebender von Auschwitz).

Der feine Unterschied zwischen Menschen und Bürger*innen

Arendts Forderung war deswegen, dass es übergeordnet zu den internationalen Vereinbarungen der einzelnen Menschenrechte als Rechte von Staatsbürger*innen, ein einzelnes und unveräußerliches Menschenrecht geben muss: Das Recht auf Staatsbürgerschaft. In Artikel 15 der Genfer Menschenrechtserklärung wurde dies als „Recht auf eine Staatsangehörigkeit“ formuliert, das jedoch in dieser Form keinen Anspruch von Staatenlosen auf Einbürgerung ermöglicht. Das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 versucht hier weitere Regelungen zu treffen, an die sich Staaten gegenüber Staatenlosen, die sich in ihrem Territorium befinden, halten müssen.

Ohne ein übergeordnetes Recht auf Staatsbürgerschaft sind Menschen, die den Staat verlieren oder verlassen, der eigentlich für die Durchsetzung ihrer (Menschen-)Rechte zuständig war, insofern weiterhin auf die Benevolenz (= Wohlwollen) von anderen Staaten angewiesen, wenn es um die Anerkennung ihrer Menschenrechte geht. Sie müssen darauf hoffen, von einem anderen Staat aufgenommen und angehört zu werden, um wieder Teilnehmende einer Rechtsgesellschaft zu sein. Die Formulierung von Menschen“rechten“ ist insofern auch nach den diversen Überarbeitungen der Genfer Konvention und anderer Abkommen irreführend.

Von Benevolenz keine Spur

In der EU besteht die einfachste Form, Menschen das Recht auf Asyl und damit auch die anderen Menschenrechte zu verweigern, darin, es ihnen unmöglich zu machen einen Fuß auf europäischen Boden zu setzen. Wer nicht um Asyl bitten kann, muss auch keins bekommen; wer sich als Staatenlose*r nicht in europäischem Territorium befindet, bekommt auch keine entsprechende Rechtsstellung. Was aber, wenn im Rahmen dieser Verweigerung an sich schon Verstöße gegen die Menschenrechte passieren? Menschen auf der Flucht sind keine gewöhnlichen Rechtssubjekte und insofern für andere Menschen extrem schwer anzuerkennen – denn schließlich umgibt sie ein Bereich der Rechtlosigkeit, dem sie sowohl ausgesetzt sind, der aber auch von ihnen ausgehen kann. Menschenrechtsverletzungen an tatsächlich oder vermeintlich Staatenlosen werden von anderen Menschen leichter begangen und von Staaten kaum verfolgt.

Nutzen sie selbst ihre mangelhafte Teilhaberschaft an der sie umgebenden Rechtsgemeinschaft, führt das allerdings zum endgültigen Ausschluss wegen rechtlichen Fehlverhaltens. Diese Argumentation steht genauso hinter den Einsätzen von Frontex und der Kriminalisierung von Seenotrettung (Inanspruchnahme und Beihilfe zur illegalen Einreise ist strafbar), wie hinter der Abschiebung von Menschen, die trotz des Dublin-Systems nicht im ersten Einreisestaat Asyl beantragen. Insbesondere die sogenannten Grenzstaaten der EU (also die Staaten, die eine Grenze haben, über die fliehende Menschen in das Territorium der EU gelangen könnten) werden durch das Dublin-System systematisch überfordert. Das führt dazu, dass diese Staaten nicht nur mit allen Mitteln versuchen fliehende Menschen von sich fern zu halten, sondern auch dazu, dass der Umgang mit ihnen innerhalb der Staatlichkeit jeglichen Rest an Menschlichkeit verliert.

#CrimesOfMalta

Der Bericht von Amnesty International über die Menschenrechtsverletzungen durch Malta ist ein Anfang, die rechtlosen Räume, die sich die EU zur Abwehr von fliehenden Menschen vorbehält, zu beleuchten. Es mangelt sicherlich nicht an politischen Möglichkeiten, sondern ausschließlich am politischen Willen, das Massensterben im Mittelmeer zu beenden. Wenn die EU ein Generationenprojekt aus den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Lockdowns machen kann, kann sie auch die weiterhin vorherrschenden Mängel an den Menschenrechten beheben. Alles andere ist Rassismus.

In den folgenden Artikeln werde ich jeden Dienstag gemeinsam mit Sea-Watch nacheinander 10 konkrete Fälle darstellen, in denen durch Malta direkt oder indirekt Menschenrechte verletzt wurden. Durch diese #CrimesOfMalta ensteht eine Chronik der Menschenrechtsverletzungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, damit wenigstens niemand sagen kann: „Wir haben von nichts gewusst.“

#CrimesOfMalta I: RCC Malta – zu busy für Seenotrettung

#CrimesOfMalta II: Wie viele Zeichen ist ein Menschenleben wert?

#CrimesOfMalta III: Schwimmwesten statt Asyl

#CrimesOfMalta IV: I will stay with you, no problem.

#CrimesOfMalta V: Zurück zur „Müllhalde“ Europas

#CrimesOfMalta VI: Schleusung von Menschen ist Staatssache

#CrimesOfMalta VII: Menschenrechte oder Heldentum?

#CrimesOfMalta VIII: Seid Ihr endlich tot?

#CrimesOfMalta IX: Glück auf Leben

#CrimesOfMalta X: Wofür es zivile Seenotrettung braucht

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