vonfini 26.09.2022

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Moral unterliegt in besonderem Maße der jeweiligen historischen Situation, sozialen Diskursen und materiellen Ressourcen. Dennoch geistert mit dem Glauben an den gesellschaftlichen Fortschritt auch eine Hoffnung nach moralischem Fortschritt umher. Nach diesem Glauben ist die Geschichte der Menschheit ein kontinuierliches Ansammeln von Gutem und ein stetiges Weglassen von Schlechtem hin zu einer verheißungsvollen Zukunft. Auch unsere moralischen Werte sollen in diesem Zusammenhang immer ausdifferenzierter und umfassender werden. Dass dies entgegen der Alltagsrealität der meisten Menschen läuft, zeigt sich insbesondere in Katastrophen und Krisenzeiten. Die soziale Kälte, die abseits der Energiekrise, den frühen Herbsteinbruch begleitet und bereits seit Beginn der Coronapandemie sehr spürbar geworden ist, können wir nicht mit moralischen Ansprüchen verdrängen, denn sie hat grundlegende materielle Unterschiede zur Ursache.

Was ist Moral?

Fragen der Moral sind wohl das, was die meisten Menschen als Hauptprojekt von Philosoph*innen wahrnehmen und leider auch das, worauf Philosophie in der Bildung oder im Journalismus reduziert wird. In der Ethik – einem von sehr vielen Teilbereichen der Philosophie – werden soziale Normen und Werte untersucht, reflektiert und auch gegeneinander angeführt. Moral bezeichnet die jeweilige Gesamtheit der sozialen Regeln, Normen und Werte, die dem Handeln von Individuen, Gruppen oder größeren Zusammenhängen von Gesellschaft konkret zugrunde liegen. Moral gibt jedem Individuum eines sozialen Zusammenhangs also eine Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“. Außerdem können auf Basis einer vorherrschenden Moral moralische Urteile über Individuen und ihr Verhalten gefällt werden: Dieses oder jenes Verhalten ist moralisch gut, schlecht oder auch indifferent. Moral organisiert also in gewisser Weise das Miteinander von Individuen und genauer: den individuellen Handlungsbereich, bei dem es darum geht, anderen zu helfen oder sie (nicht) zu verletzen. Insbesondere, wenn individuelle Interessen gegeneinanderstehen, soll Moral dem Verhalten Grenzen setzen und die Harmonie innerhalb der Gruppe wieder herstellen.

But… why?!

An dieser Stelle drängt sich dann auch für die meisten Menschen direkt eine erste Irritation auf, die auch von der Ethik nicht aufgelöst werden kann: Es gibt keine grundlegende Begründung für Moral, sondern moralische Werte werden sozial gesetzt. Es gibt bessere oder schlechtere Argumente für diese oder jene moralischen Werte, aber es gibt keine „richtige Moral“ und es gibt auch keine Form von moralischer Akkumulation, sodass nach und nach immer mehr moralische Werte aufgehäuft werden würden. Manchmal wird die goldene Regel (Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.) als universelle Moral propagiert, die in allen Kulturen und womöglich auch bei anderen Tieren  Anwendung findet. Wäre das der Fall, wären große Teile unseres Rechtssystems obsolet. In der Ethik wird häufig Tötung als gängiges Beispiel verwendet, um diese Probleme darzustellen: Das Töten von Menschen gilt in den meisten Moralsystemen als unmoralisch, denn es schadet anderen und destabilisiert das Sozialsystem. Befindet sich das Sozialsystem allerdings im Krieg sind einzelne Individuen von dieser moralischen Beurteilung ausgenommen: Soldat*innen dürfen Menschen töten und dürfen auch getötet werden ohne, dass dies einen Einfluss auf die moralische Regel als solche nimmt. Dies gilt auch beim sogenannten „Tyrannenmord“ (die Tötung eines Tyrannen/Diktators zum Wohle aller), wobei die mordende Person noch nicht mal Soldat*in sein muss, aber ihre Handlung trotzdem als moralisch gerechtfertigt gilt. In dem einen Fall ist es also schlecht Menschen zu töten und in dem anderen Fall ist es gut Menschen zu töten – und das kann sogar beides gleichzeitig sein. Je nachdem was ein Sozialsystem gerade also an Herausforderungen zu meistern hat oder wie die jeweilige historische Situation ist, werden bestimmte moralische Werte sozial als wichtig oder unwichtig gesetzt.

Außerdem sind Moralsysteme häufig parteiisch zugunsten der eigenen sozialen Gruppen, was an dem simplen Umstand liegt, dass sie – durch ihre fehlende Letztbegründung – von allen Individuen eines Sozialzusammenhangs akzeptiert und anerkannt werden müssen. Mitglieder eines anderen Sozialzusammenhangs unterliegen deswegen immer mindestens dem Vorurteil, dass sie einem anderen Moralsystem folgen. Das alte „wir vs. die Anderen“ beruht insofern nicht unbedingt nur auf der Fokussierung von äußeren Merkmalen, sondern auch auf der Befolgung anderer sozialer Regeln und moralischer Werte. Moralische Systeme sind jedoch kein bisschen angeboren, sondern müssen erlernt werden. Scheinbar hat der Mensch hierbei ein ebenso angeborenes Lernschema wie bei Sprachen, mit dem jedes moralische System erlernt werden kann – es jedoch analog zur ersten erlernten Sprache eine Art „Muttermoral“ gibt, die eine besondere Qualität im Verlauf des Lebens eines Individuums behalten wird. Moralsysteme funktionieren nach ihrem Erlernen selbsttätig einerseits über moralische Gefühle („Ich habe etwas falsch gemacht.“) und andererseits über sozialen Druck („Du hast etwas falsch gemacht.“). Ob und inwieweit eine individuelle Beurteilung und Reflexion von moralischen Urteilen weiterhin stattfindet, ist weiterhin ein Streitthema. Wer Menschen als rational fähige und eigenständige Wesen definieren möchte, legt auf diesen Punkt großen Wert.

Moral vs. Materie

Ein weiterer problematischer Aspekt von Moralsystemen liegt darin, dass sie relativ instabil sind, insofern sie auf individuellen Ressourcen basieren. Wie vermutlich schon ersichtlich geworden ist, halte ich Ethik als nicht sonderlich lohnendes Gebiet. Allerdings gibt es einen Theorieansatz, den ich durchaus überzeugend finde: Die schwimmende Pyramide von Frans de Waal. Frans de Waal erforscht seit den 70er Jahren hauptsächlich das Sozialverhalten von Primaten, was innerhalb der Ethik auf verschiedene Reaktionen getroffen ist. Auf andere Aspekte seiner Forschung möchte ich an dieser Stelle deswegen nicht eingehen, sondern ausschließlich die schwimmende Pyramide als Abstraktionsmodell nutzen. Die Stufen der Pyramide sind bei Frans de Waal evolutionär vorbestimmt, ich würde hier durchaus individuelle Unterschiede sowie weitere Abstufungen vermuten. Die verschiedenen Stufen bezeichnen das, was ein Individuum in sein moralisches Handeln miteinbezieht oder wessen Interessen es mitberücksichtigen kann bei einer Entscheidung. Ganz oben auf der Pyramide steht bei de Waal das Individuum selbst, darunter kommen die Familie und der Clan, danach die lokale Gemeinschaft, gefolgt vom Stamm oder der Nation, danach die Menschheit und erst ganz am Ende alle anderen Lebensformen. Umgeben ist die Pyramide von den zu Verfügung stehenden Ressourcen, d.h. je nachdem wie viele Ressourcen das Individuum hat (oder empfindet) desto mehr oder weniger von der Pyramide kann es in seine moralischen Überlegungen miteinbeziehen. Oder simpler ausgedrückt: Je mehr Ressourcen einem Individuum zu Verfügung stehen, desto moralischer kann es sich gegenüber mehr Menschen und anderen Wesen verhalten.

Die Moral dem Marketing, die Ressourcen allen

Insbesondere in den letzten Wohlstandsjahrzehnten hat sich in westlichen Gesellschaft eine Überbewertung von Moral etabliert. Auf der Ebene von moralischen Regeln und Werten wurden viele ursprünglich mal linke Werte und Ideale übernommen. Das fängt bei Werten der Diversität und Geschlechtergerechtigkeit an und geht bis zu Veganismus und ökologischer Nachhaltigkeit. Auch das hat jetzt wenig mit Fortschritt zu tun, sondern mit den Mechanismen des Kapitalismus, der die Werte übernimmt und verstärkt, die Arbeitskraft hervorbringen und Wachstumsmärkte erschließen. Luc Boltanski und Ève Chiapello wiesen diesen Mechanismus immer wieder einen „neuen Geist des Kapitalismus“ hervorzubringen bereits Ende der 1990er Jahre nach, als moralische Werte und Ideale der 68er-Bewegung in die neue Struktur postmodernen Wirtschaftens überführt wurden. Die formulierte Kapitalismuskritik wurde somit wirkungslos, weil Ideale wie mehr Gestaltungsspielraum, mehr Autonomie, weniger Hierarchien und mehr Individualismus scheinbar umsetzbar wurden. Diversität und ökologische Nachhaltigkeit sind die moralischen Elemente, die den heute neuen Geist des Kapitalismus kennzeichnen. Womit erneut sichtbar geworden ist: Mit Moral kann man keine materiellen Unterschiede beheben – ganz im Gegenteil verdecken moralische Werte materielle Unterschiede und machen es unmöglich sie grundlegend zu verändern. Wer also das soziale Miteinander grundlegend und nachhaltig verbessern möchte, arbeitet lieber an der Umverteilung von materiellen Ressourcen oder der Bildung kleiner, sozialer Zusammenhänge, die entsprechende materielle Ressourcen für ihre Mitglieder erkämpfen, als an der Ausdifferenzierung von moralischen Werten. Denn die Moral bezieht sich bei größerem Wohlstand zwangsläufig auf weitere Kreise und ist gerade wegen ihrer Abhängigkeit von individuellen Ressourcen eine schwankende Genossin. Kapitalismuskritik ist ein politischer Kampf und kann keine reine Marketingkampagne bleiben. Das merken wir spätestens jetzt mit dem beginnenden Einbruch des westlichen Wohlstands.

Kleiner Tipp gegen einsetzende Hilflosigkeit: Die Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) ist ein Zusammenschluss von unabhängigen, basisdemokratischen Gewerkschaften. An vielen Orten versuchen die lokalen FAU-Gruppen derzeit in Form von aktiven Nachbarschaften oder konkreten Arbeitskämpfen Individuen zu schützen und den Folgen der Wirtschaftkrise etwas entgegenzusetzen.

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