Weil Rationalismus an sich ein hohes Gut im Normenkonzept von Linken ist, passieren Übergriffe und Gewalt häufig unter Drogeneinfluss oder im Schatten von Lust und Sexualität. Aber genauso in alltäglichen Beziehungssituationen, bei denen die Beziehungspartner*innen zu zweit alleine sind. Auch ohne Drogeneinfluss sind die Möglichkeiten die Selbstwahrnehmung von Beziehungspartner*innen durch emotionale Manipulation stark zu beeinträchtigen und sexuelle Gefälligkeiten zu erhalten, die eigentlich jenseits der Grenzen der betroffenen Person liegen, vielfältig. Hier sind Grenzen, Erinnerungen und Kommunikation häufig unklar, insbesondere im Nachhinein schwer nachzuvollziehen und noch schwieriger zu kommunizieren. Hier passieren Vergewaltigungen innerhalb von sozialen Beziehungen, unter mehr oder weniger konsensuellem Drogenkonsum und meistens im Rahmen einer romantischen Konstellation, weswegen wir den Begriff „Date Rape“ dafür verwenden. Der Begriff ist verhältnismäßig neu und es gibt bislang wenig Valides dazu, weder definitorisch noch in Bezug auf Zahlen. Vergleichbar war bisher maximal der rechtliche Umgang mit „Vergewaltigung in der Ehe“ (erst seit 1997 überhaupt eine strafrechtlich relevante Handlung, die ebenso geahndet wird wie Vergewaltigung außerhalb einer Ehe). Wikipedia sagt zu Date Rape: „Unter Date Rape wird ein erzwungener Sexualverkehr oder eine ungewollte sexuelle Handlung durch einen Bekannten im Zusammenhang mit einer ansonsten einvernehmlich eingegangenen Verabredung verstanden. Es ist eine spezielle Form der Vergewaltigung.“ Diese Beschreibung spiegelt unseres Erachtens nach in besonderem Maße viele der sexuellen Übergriffe, die innerhalb der linken Szene passieren, wieder.
Ein Bruchteil der Vorfälle wird öffentlich thematisiert, da auch auf der Seite der Opfer eine große Angst besteht, die eigene Szene moralisch zu beschmutzen und all den Gegner*innen da draußen Munition in die Hand zu geben. Das bedeutet, Empfindungen von Grenzübertritten werden häufig nicht thematisiert, denn es gibt keinen sozialen Rahmen dafür. Erst nach Beendigung der jeweiligen Beziehung, mit zeitlichem Abstand oder wenn bereits andere Vorwürfe formuliert wurden, kommen Erfahrungen von Date Rape an die Öffentlichkeit. Die Intention der Täterperson spielt für klassische Gerichtsbarkeit eine wichtige Rolle, ist für das Erleben des Opfers jedoch erstmal sekundär in der Gewalterfahrung und möglichen Traumatisierung, die damit einhergeht (nicht jede Gewalterfahrung führt zu einer Traumatisierung). Dementsprechend werden wir auf die Frage nach der Intention der Täterperson im Folgenden nicht weiter eingehen, sondern unsere Punkte setzen Opferzentrierung und auch die Definitionsmacht des Opfers voraus, insofern Traumatisierung das Erleben der eigenen Hilfslosigkeit bedeutet. Die Artikulation der Schwere eines solchen Grenzübertritts und die Definition der Vergewaltigung überlassen wir dementsprechend auch immer dem Opfer.
Definitionsmacht und Opferzentrierung
Definitionsmacht ist ein Gegenbegriff zur juridischen Form der Verfolgung von Straftaten, wo es darum geht, das Erlebte auf einer Art objektiven Skala zu verorten, nach der dann bestimmte Sanktionen entschieden werden können. Im Sinne der Definitionsmacht soll stattdessen die von Gewalt betroffene Person selbst definieren, welche Form von Übergriffigkeit sie erlebt hat und dabei die Begriffe wählt, die für sie das Geschehene am besten beschreiben. Auch soll die betroffene Person die konkreten Konsequenzen für die Täterperson benennen. Das bedeutet konkret: Es passiert an Sanktionen gegenüber der Täterperson nur das, was die betroffene Person möchte. Wichtig für diese Perspektive ist die Einschätzung, dass das Erleben und insbesondere das Leiden einer Person nicht objektiv messbar ist, sondern dieselbe Übergriffigkeit bei jedem Menschen verschiedene Gefühle auslösen und unterschiedliche Folgen haben kann. Dies macht eine Form objektiven Umgangs mit sexueller Gewalt nahezu unmöglich, allerdings würden wir auch genau das als enormen Vorteil von Opferzentrierung sehen: Dem Opfer wird die eigene Handlungsmacht zurückgegeben, anstatt dass weitere Erfahrungen von Hilflosigkeit, Rechtfertigungsdruck und Abhängigkeit auf die erlebte Gewalt folgen. Mal ganz abgesehen davon, dass ein objektiver Umgang voraussetzen würde, dass es objektive Instanzen und Strukturen gäbe, die nicht von patriarchaler Normierung betroffen sind. Dass dies nicht der Fall ist, zeigen Studien darüber, wie viel weniger Strafanzeigen gegen männliche Familienangehörige zu einer Verurteilung geführt haben, als die Gerichte noch primär von Cis-Männern besetzt waren und es Jahre der Verwaltung braucht, um Ergänzungen hinzuzufügen, was überhaupt als sexualisierte Gewalt im juridischen Sinne gewertet wird. Auch im linken Lifestyle sind viele der zentralen Positionen weiterhin durch Cis-Männer besetzt und Aufklärung über sexualisierte Gewalt beschränkt sich häufig auf das Schlagwort „Vergewaltigung“ – weswegen wir auch hier nicht auf eine objektive Behandlung von sexualisierter Gewalt hoffen können.
Dennoch kann das Hochalten der Definitionsmacht dazu führen, dass die betroffene Person keinerlei Unterstützung erfährt, sondern in große, überforderte Augen blickt, die aus vermeintlicher Rücksichtnahme keine Nachfragen stellen oder konkrete Hilfe leisten können. Es ist besonders schwierig mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt zu sprechen, weil es hier schnell dazu kommen kann, dass eine Einflussnahme das Erlebte verändert, aktualisiert oder verdrängt. Dies sollte aber nicht dazu führen, dass nichts geäußert wird, nicht nach den Bedürfnissen der betroffenen Person gefragt wird und mögliche Hilfsangebote nicht vorgeschlagen werden. Genau an dieser Stelle bietet sich ein gemeinsamer Gang zu einer Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an, denn dort sind Menschen angestellt, die in diesen Gesprächen ausgebildet sind. Auch wäre es ein Fortschritt, wenn sich insbesondere Mitglieder von Awarenessstrukturen aber eigentlich jede Person, die in einem unübersichtlichen, sozialen Konstrukt an einer solidarischen Gesellschaft arbeitet, entsprechende Fortbildungen besucht. Dies gehört genauso zur sexuellen Aufklärung wie die Verwendung eines Kondoms. In dem Buch „Antisexistische Awareness“ von Ann Wiesental werden erste Vorschläge dazu gemacht, wie Gespräche mit betroffenen Personen aber auch mit Täter*innen unter Beachtung von Definitionsmacht aussehen können.
Offen sprechen, Dinge benennen
Ein zentraler Punkt in Sachen Prävention ist deswegen: das Sprechen. Verletzungen und Übergriffe werden immer passieren, solange Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen aufeinandertreffen – in der linken Bubble, in der befreiten Gesellschaft und in jeder Beziehung. Mit der Vorstellung durch die Welt zu laufen, dass wir ein Leben frei von emotionalen Verletzungen in absoluter sozialer Harmonie führen könnten, ist weder realistisch noch zielführend. Denn über dieses moralische Ideal kreieren wir einen sozialen Raum der Angst, in dem wir außerdem verlernen, Aftercare für erlittene Verletzungen zu betreiben und für irgendetwas Verantwortung zu übernehmen. Wichtig für diese Einschätzung ist: Nicht jede Verletzung führt zu einem Trauma! Ein Trauma entsteht nur dann, wenn eine belastende Erfahrung oder eine Situation von der betroffenen Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann.
Wir müssen deswegen offen über Vorfälle sexualisierter Gewalt reden und nicht aus vermeintlichem Schutz von betroffenen Menschen in unklare oder sogar bedrohliche Begriffe abrutschen. Schwammige Beschreibungen und Triggerwarnungen reduzieren nachweislich nicht die Wirkung von Triggern, denn bei einer stark belasteten Person kann schon die Äußerung eines entsprechenden Themenfelds zu Flashbacks führen; konkrete Beschreibungen, die von der eigenen Erfahrung sehr weit abweichen, ggf. nicht. Contentwarnungen bieten für Betroffene einen deutlich besseren Schutz, denn sie ermöglichen es betroffenen Personen selbst einzuschätzen, ob sie sich mit dem präsentierten Content gerade beschäftigen wollen oder eben nicht. Je offener und klarer wir über Übergriffe und Vergewaltigungen reden lernen, desto eher ermöglichen wir es den Betroffenen, die passenden Hilfsangebote zu bekommen und das Erlebte zu bearbeiten. Es gibt eine ganze Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen und Verbände, die für jede Verletzung und Gewalterfahrung die passenden Therapieangebote und Hilfestellungen bieten. Es ist nicht notwendig, dass eine linke Szene amateurhaft hier das Rad neu erfindet.
Ein weiterer Aspekt, weswegen es für die Prävention von sexuellen Übergriffen hilfreicher ist, eine klare Sprache für Vorfälle zu entwickeln, anstatt in nebulöse Begriffswolken oder Schweigen zu verfallen, besteht darin, dass andere Menschen das Risiko, was von einer*m Täter*in für sie ausgeht, selbst einschätzen können müssen. Wird eine Person beispielsweise unter Drogeneinfluss übergriffig oder hat jemanden vergewaltigt, bedeutet dies unter Umständen kein Risiko für eine Person, die diese Person ausschließlich auf drogenfreien Plena trifft. Auch eine straffällig gewordene pädophile Person stellt für erwachsene Menschen erstmal keine Gefahr dar, sollte allerdings dringend und ohne Ausnahme von Kindern und Jugendlichen ferngehalten werden. Als Verfechter*innen einer moralisierten Weltvorstellung könnte man hier entgegnen, dass man „mit solchen Leuten nicht mehr zusammen Politik machen sollte“ – darauf würden wir erwidern, dass wir schon immer mit „solchen Leuten“ Politik machen oder selbst „solche Leute“ sind. Der Unterschied ist nur, dass wie es von manchen wissen und von anderen nicht.
Outings und Ausschlüsse von Täter*innen
Outings und Ausschlüsse allein führen ganz offensichtlich nicht dazu, dass sich die Situation grundlegend verbessert und in den betroffenen Räumen oder Gruppen weniger Übergriffe passieren. Denn das Problem wird nicht gelöst, sondern nur verschoben. Für Serientäter*innen ist dieses Vorgehen eine einfache Möglichkeit, die sozialen Strukturen innerhalb der linken Szene bewusst auszunutzen und sich darauf zu verlassen, dass ihnen maximal der soziale Ausschluss droht, jedoch keine strafrechtlichen oder sonstigen Konsequenzen. In jedem einzelnen Fall werden nämlich häufig neue, aus individuellen Gründen für das Thema engagierte Einzelpersonen „beauftragt“, den Fall zu bearbeiten. Hierzu wird dann mit den Opfern geredet (um deren Vorstellungen über den Umgang mit der Person bzw. unter Umständen auch konkrete Forderungen der Opfer zu erfahren und umzusetzen), Täter*innenarbeit geleistet (damit die Person sich möglichst bessert) und in manchen Fällen werden die hinzugezogenen Awarenessstrukturen auch zu kleinen Gerichtsinstanzen erhoben, die eine Einschätzung über den Fall abgeben sollen, die dann sozial umgesetzt wird. Damit ist außer dem unangenehmen Beigeschmack von Selbstjustiz nichts gewonnen. Die Awarenesspersonen sind schnell völlig überfordert mit der Aufgabe und können sie über kurz oder lang nicht ausführen, weil der soziale Druck und die damit einhergehende soziale Verantwortung häufig unvorbereitete und in jedem Falle nicht dafür qualifizierte Menschen trifft. Es hat seine Gründe, weswegen unzählige verschiedene Arten von Gerichtsinstanzen existieren, die sehr lange Ausbildungszeiten und soziale Distanz voraussetzen.
Sozial entsteht außerdem noch ein weiterer Effekt: Insbesondere andere Cis-Männer machen sich in einer Art ritterlicher Selbstaufopferung an die konsequente Verfolgung der Täterperson und verdrängen darüber eigene Täterschaften. Wie erwähnt, haben wir keinen Zugriff auf sowas wie „objektive“ Zahlen, dennoch können wir sehr klar sagen, dass wir kaum männlich sozialisierte Personen über 25 Jahren kennen, die nicht schon mal in ihrem Leben die sexuellen Grenzen einer Partner*in übertreten haben – und genauso kennen wir keine weiblich sozialisierte Person, die in ihrem Leben noch keine Erfahrung von Date Rape gemacht hat. Installieren wir also „den Täter“ als besondere, seltene Form des sozialen Fehlverhaltens, verschleiern wir damit, dass nahezu jeder Cis-Mann in unserem Umfeld ein*e Täter*in ist oder es noch wird. Auf diese Weise werden notwendige Schutz- und Verteidigungsmechanismen von FLINTA* eher abgebaut, denn „der Täter“ ist ja dann erstmal weg und „die anderen Cis-Männer würden sowas ja nie tun“. Auf Seiten der betroffenen FLINTA* folgt einem Outing häufig eine anhaltende Identifizierung als Opfer sowie der entsprechende Umgang des Umfelds – eine Verarbeitung ist auf diese Weise kaum möglich.
Der feministische Dienst von Cis-Männern besteht bei Outings und Ausschlüssen in der Jagd nach Täterpersonen, wobei sie ihre eigene Täterschaft verleugnen können und sich vor allem nicht um Prävention bemühen müssen. Die insbesondere emotionale Carearbeit, die notwendig ist, um sexuelle Übergriffe zu vermeiden oder im Nachgang zu behandeln, wird meist ausschließlich von FLINTA* geleistet, genauso wie sich Awarenessgruppen weiterhin größtenteils aus FLINTA* zusammensetzen und um erlittene Gewalterfahrungen kreisen. Dementsprechend halten wir herzlich wenig von Cis-Männern, die in rachegetriebener Verteidigung der Körper von FLINTA*-Opfern andere Cis-Männer verfolgen, sie „aus der Stadt jagen wollen“ oder ihnen auflauern. Körperliche Gewalt kann in solchen Fällen notwendig sein, kann und muss aber auch im Sinne der zu erlebenden Handlungsmacht durch die betroffene Person selbst ausgeübt werden. Nur dann kann sie (wenn überhaupt) zu einer produktiven Bewältigung des erlittenen Traumas beitragen. Wir können deswegen nur jeder FLINTA* weiterhin wärmstens raten, wenigstens Grundlagen der Selbstverteidigung zu lernen oder noch besser: kontinuierlichem Kampfsport nachzugehen. Hierbei spielt die körperliche Disposition keine Rolle, denn es geht darum, Mechanismen zu entwickeln, die von Ohnmacht oder zu spätem Handeln befreien, insofern „Aktion mit direkter (körperlicher) Reaktion“ als geübteres Muster im Kopf vorhanden und trainiert ist. Der Effekt auf das eigene Sicherheitsgefühl ist immens und immer wieder zählt der Punkt: Eine patriarchale Welt ist für FLINTA* eine gewalttätige; Pazifismus kann deswegen mindestens verletzen und im schlimmsten Falle töten.
Natürlich übertreten auch FLINTA* die Grenzen von anderen Menschen und begehen Date-Rape. Cis-Männer werden jedoch zu sexueller Dominanz erzogen und insbesondere Cis-Frauen zur Passivität. Abgesehen von den üblichen Mechanismen klassischer „Jungen/Mädchen-Erziehung“ wird mit Begriffen wie „Penetration“ (im Gegenzug dazu: Circlusion – als kleiner Exkurs) diese Verteilung der aktiven und der passiven Parts vorgegeben.
Darin liegt deswegen auch ein gewisser sexueller Reiz, diese sehr früh einsetzende Prägungen zu erfüllen und dem sozialen Druck, der mit der männlichen Rolle einhergeht zu entsprechen. Auch ist das alte „Nein-Nein-Doch“-Spiel zur Umwerbung einer Frau noch nicht besonders lange aus der Mode, weswegen Cis-Männer und Cis-Frauen hier weiterhin besonders anfällig sind.
Teil I: Tätervorwürfe, Definitionsmacht und allgemeine Ratlosigkeit
Teil III: Konsens-Basics VOR, WÄHREND und NACH sexuellen Handlungen
Originaltext: https://de.indymedia.org/node/238565