vonfini 26.01.2023

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Ein weiterer Versuch, der Individualisierung zu entkommen, besteht für deutsche Linke seit einigen Jahren darin, nach Rojava oder auch: „die Autonome Adminstration Nord und Ostsyrien“ zu fahren. Ich begleite die Reise von Erik Hagedorn dorthin virtuell: Erik hat länger Politik und (im Nebenfach) Psychologie studiert, als es an den meisten Unis erlaubt ist, er interessiert sich für Sicherheitspolitik, Basisdemokratie und RPGs (Rollenspiele). Er arbeitet in Rojava journalistisch zu immerhin zwei dieser Themen. Seine Copingmechanismen für alles, was diese Welt so an Hässlichkeiten in der Hinterhand hält, sind schwarzer Humor und Zynismus, für die er schon öfters zurecht kritisiert wurde. Er arbeite dran, schreibt er. Erster Brief: Ankunft in Rojava

Contentwarnung: Krieg.

Zweiter Brief:

Die permanente Gleichzeitigkeit von Krieg und Frieden habe ich emotional immer mal wieder zu verdauen. Ich höre Explosionen oder Schüsse und gehe 20 Minuten später einkaufen. Zugegeben, die meisten Schüsse, die ich höre, sind Freudenschüsse. Und die meisten Explosionen sind Kinder mit Feuerwerk. Aber trotzdem lebe ich hier in einem halben Kriegsgebiet. Manchmal ist es auch ein ganzes. Ich habe immer wieder ein aufsteigendes Gefühl der Beklemmung, das Gefühl auf eine Bedrohung reagieren zu müssen. Dabei ist nichts zu tun, keine weitere Maßnahme zu ergreifen. Die Unsicherheit muss ertragen werden, sie gehört ganz allgemein zum Leben und hier besonders. Trotzdem ist das dieses innere Drängen, eine aufgekratzte Ruhelosigkeit. Es hilft, diesem Gefühl seine 5 Minuten am Tag zu geben, ein bisschen Angst aus dem Ventil zu lassen.

Angst vermittelt mir eine Gefahr die zwar existent, aber in diesem Fall nicht sonderlich groß ist. Ich müsste schon wirklich Pech haben, damit z.B. eine Drohne ausgerechnet mich tötet. Wenn ich meine Angst genauer betrachte, kommen viele kleinere Facetten zum Vorschein. Die große Angst setzt sich wie ein Mosaik aus unterschiedlichen Ursachen, Befürchtungen und kleineren Ängsten zusammen. Einiges davon kommt nicht einmal aus mir selbst. Wenn ich nachfühle, wo diese Emotionen herkommen, spielen Erwartungen von Freund*innen und Familie eine große Rolle. Die Angst um mich wird zur Angst von mir. Durch sorgenvolle Gesichter und belegte Stimmen nehme ich immer mal wieder etwas Angst zu mir. Aber um ehrlich zu sein, wäre ich auch ein wenig beleidigt, wenn meine Nächsten überhaupt keine Sorgen um mich hätten.

Aus der Emotion Angst entsteht Druck etwas zu tun, die Angst abzubauen. Mein Umgang damit sind Selbstgespräche. Ich frage mich wie sich die Angst zusammensetzt, wo sie herkommt, ob es sinnvoll ist etwas zu tun und habe am Ende des Austauschs mit mir selbst schon gar nicht mehr das Bedürfnis, irgendwas zu verändern. So bleibt den restlichen Tag reichlich Platz für all das nicht Angst behaftete, mit angemessener emotionaler Begleitung. Die Medaille der Gleichzeitigkeit von Krieg und Frieden hat zwei Seiten und ich gucke lieber auf die Schöne. Einer der Menschen die hier kennengelernt habe, hat auf die Frage, ob er sich unsicher fühlt, wie er mit der Bedrohung umgeht, geantwortet: Seitdem es die Selbstverwaltung gibt, fühle ich mich nicht mehr unsicher.

Sicherheit und Drivebys

Die Selbstverwaltung hat es tatsächlich geschafft, ein Gefühl der Sicherheit bei der Bevölkerung entstehen zu lassen. Dieser Erfolg kann in einem Land, das einen Bürgerkrieg erlebt hat, aus dem sich der IS erhob und anschließend von der Türkei überfallen wurde, gar nicht genügend unterstrichen werden. Der IS ist immer noch aktiv und die Sicherheitsmaßnahmen kommen mir teilweise seltsam vor: Das Motorrad von einem Freund wurde vor kurzem für 15 Tage von den internen Sicherheitskräften beschlagnahmt. Wenn es die Vermutung gibt, dass es demnächst (vermehrt oder größere) Anschläge gibt, dann werden Motorräder beschlagnahmt. Denn die meisten IS-Angriffe passieren nach dem „hit and run“-Prinzip von Motorrädern aus. Ein Fahrer, ein Schütze. Driveby nennt man das in den USA und Europa. Aber das ist natürlich nur die Spitze des Eisberges: Schläferzellen verüben Anschläge, treiben Schutzgeld und Steuern ein. Zu Beginn des Jahres gab es einen großangelegten Angriff auf ein Gefängnis mit 4000 IS Gefangenen:

Ca. 200 IS-Kämpfer sind in die Stadt Heseke eingesickert (= haben sich als Zivilisten verkleidet in die Stadt geschlichen) und haben mit Raketenwerfern und Autobomben versucht, das Gefängnis wie einen Tresor aufzusprengen, parallel gab es einen Gefängnisaufstand. Über eine Woche dauerten die Kämpfe an, die Verstärkung für die Syrien Democratic Forces (SDF) aus einer anderen Stadt wurde von türkischen Drohnen angegriffen. Heseke galt als sicher. Als unsicher gilt hier z.B. die Region Deir-ez-Zor. Dort gibt es mehr Schläferzellen, mehr Attentate, mehr Schmuggel.

Neugier und Unsicherheit

Ich bin froh hier einen friedlichen Alltag erleben zu können. Ich kann meiner Neugier über das Leben hier und die Kultur in Spaziergängen in die Stadt und zum Markt freien Lauf lassen. Auch ohne fließendes kurdisch zu sprechen, funktioniert Kommunikation meistens recht gut. Das Land und die Stadt mit allen ihren Eindrücken zu erleben, bereitet mir Freude. Ich freue mich über Gerichte, die ich vorher nicht kannte und bestaune die Kunstfertigkeit und Kreativität, die in Backwaren in den Geschäften um den Markt herum geflossen sind. Ich erlebe Gastfreundschaft, wenn ich mal wieder darum diskutieren muss, überhaupt etwas bezahlen zu dürfen. Ich erlebe ebenso Geschäftssinn, wenn man mir mehr als meinen arabischen und kurdischen Bekannten berechnet. Auch wenn es friedlich ist, muss ich auf der Hut sein – aber mehr vor mir selbst. Ich gebe mir alle Mühe, kein kulturelles Tabu zu brechen und erlebe absolute Unsicherheit ob des (kulturellen) Raumes um mich herum. Dass ich mich mit dieser Art von Unsicherheit beschäftigen kann, ist dem (relativ) erfolgreichen Kampf gegen den Terror des IS zu verdanken.

War on Terror

Die Autonome Administration und die SDF sind bemerkenswert erfolgreich bei ihrem „War on Terror“. Was die US-Armee mit ihrem ca. 850 Milliarden Dollar teurem Einsatz in Afghanistan nicht gelungen ist, gelingt in Rojava mit einem jährlichem Gesamtbudget der Autonomen Administration von unter 1 Milliarde Dollar wesentlich besser. Der schrittweise Rückgang der Handlungsmöglichkeiten der Islamisten geht auch nach deren Verlust ihres Territoriums weiter, ihre Unterstützung in der Bevölkerung schwindet, der Aufbau von demokratischen Strukturen geht voran. Zum Budgetvergleich: Die Universität Bonn hat mit 700 Millionen Euro jährlich nur leicht abweichende Finanzmittel von der Autonomen Administration.

Die Autonome Administration gibt einen Großteil ihres geringen Budgets für Subventionen für Brot und Diesel aus. Das kann durchaus als sicherheitspolitische Maßnahme interpretiert werden. Denn es gibt zwei große Motivationen für Menschen die sich wahnsinnigen Projekten wie dem IS anzuschließen: Erstens Ideologie, zweitens finanzielle Anreize. Je mehr Glanz der IS einbüßt, je besiegbarer er erscheint, desto mehr muss er auf zweiteres bei seiner Rekrutierung setzen. Und hungrige Menschen sind schnell bereit Söldner*innen für wen auch immer zu werden.

Neben der konkreten Gefahr durch aktive Zellen, die militärisch bekämpft werden müssen, gilt es aus sicherheitspolitischer und humanitärer Sicht mittelfristig ökonomische Perspektiven für Menschen zu schaffen. Möglichkeiten gibt es: Ölquellen kontrolliert von einer Selbstverwaltung, das Potenzial ist groß. Es fehlt durch die Embargos an Handelspartner*innen und politischer Unterstützung aus dem Westen.

Jin Jiyan Azadi

Die Ideologie vom IS ist trotz all seiner Niederlagen nicht besiegt. Allein im Flüchtlingscamp al-Hol werden 25.000 Kinder und Jugendliche unter Einflussnahme des IS erzogen. Gegen die Islamistischen Kämpfer des IS und gegen die Ideologie des IS wurde in Rojava unter dem Wahlspruch „Jin Jihan Azadi“ (= Frau, Leben, Freiheit) gekämpft. Der Slogan geht auf den PKK-Gründer Abdullah Öcalan zurück und drückt die Überzeugung aus, dass eine Gesellschaft nicht frei sein kann, wenn die Frauen der Gesellschaft nicht frei sind. Ich schreibe bewusst von Frauen in Nord-Ostsyrien und nicht FLINTA*, denn es spiegelt die Realität ehrlicher wider. Die ersten Schritte in Richtung Akzeptanz und Anerkennung von queeren oder nicht-cis Existenzen werden hier in Diskussionen zwar gegangen, haben in der häufig konservativen arabischen und kurdischen Welt aber noch viele Widerstände zu überwinden. Ich habe bisher keine queere/nicht-cis Person aus Syrien getroffen und auch von keiner gehört.

Die Revolution in Rojava ist eine Frauenrevolution, weil sie diese Wahrheit immer laut vor sich hergetragen und in vielen Maßnahmen, z.B. die Einführung einer Doppelspitze m/f, umgesetzt hat. Neben der Doppelspitze setzt sich die Administration gegen Zwangsehen ein, hat das Mindestalter für die Eheschließung hochgesetzt, verboten das ein Mann viele Frauen heiratet und überall Frauenhäuser eingerichtet (durchaus mit dem deutschen Pendant vergleichbar) und vieles mehr.

Mit diesem Wissen gehen ich und eine Freundin in eine Art Bar, hier wird Chai getrunken und Billard gespielt. Wir werden sofort hinaus gebeten, Frauen seien nicht erlaubt. Ich bin baff und wütend – was für eine Doppelmoral! Doch ich äußere mich nicht, wir gehen weiter. Nach der Wut kommen die Zweifel: Was soll das Gerede von Frauenrevolution, wenn Frauen nicht alle Räume offenstehen? Als ich meine Begleiterin drauf anspreche, bin ich überrascht, wie ruhig sie ist und ich lasse mich belehren: No-Go Räume für Frauen gibt es in meiner Stadt ebenso wie fast überall auf der Welt. Studierendenverbindungen bei denen Frauen nicht zugelassen sind zum Beispiel. Oder einfach Orte an denen nur Männer sind, die mit ihren anzüglichen Kommentaren, gierigen und abschätzigen Blicken bis hin zu körperlichen Übergriffen jede Frau wirkungsvoll aus ihrem Raum verbannen. Ich nehme diese Orte woanders nur weniger wahr, weil man es mir nicht so ins Gesicht sagt. Die Existenz solcher No-Go Räume (und viele weitere hässliche Gesichter der frauenfeindlichen Realität) mahnen zur Unterstützung von allen die unter dem Slogan Jin Jiyan Azadi kämpfen. Auch, aber nicht nur, im Iran.

Feminismus im Mittleren Osten

Wo die Realität direkt durch die Ideologie der Administration bestimmt wird, also in der Verwaltung, da sind Frauen und Männern nicht nur rechtlich gleichgestellt. Es wird sich intensiv darum bemüht, Frauen politisch Geltung zu verschaffen. Jede Institution besteht doppelt: einmal als gemischte Struktur, einmal als reine Frauenstruktur. Das sichert den politisch-gesellschaftlichen Einfluss der Frauen ab und verschafft eine dezidiert weibliche Perspektive auf die patriarchale Gesellschaft. In anderen Teilen der Gesellschaft vollzieht sich der Wandel langsamer, es gibt gegenläufige Ideologien: Als die Administration den Niqab für Lehrkräfte verboten hat, gab es Demonstrationen dagegen. Es ist ein Kampf um Rollen, Religion und Weltbilder. Ein wichtiger Schritt, um traditionelle Rollen aufzubrechen, sind bewaffnete Frauen. Dass Frauen in Nord- Ostsyrien als Militärs oder (bewaffnete) Polizistinnen arbeiten, bricht die Rolle des Mannes als Beschützer ebenso auf wie die Rolle der Frau als hilflos und auf Schutz angewiesen. Aber auch unbewaffnet wird gegen das Patriarchat gekämpft: Um die finanziellen Abhängigkeit von Frauen zu senken, fördert die Administration gezielt Kooperativen, die Frauen ein eigenes Auskommen verschaffen. Es sind wichtige Schritte in einem äußerst konservativen Umfeld. Die soziale Realität und die Ideologie stehen sich bisweilen noch unversöhnlich gegenüber. Schon bestehende sogenannte Viel-Ehen (Ein Mann mit mehreren Frauen, den umgekehrten Fall gibt es nicht) wurden nicht aufgelöst. Die Administration geht die Schritte, die sie gehen kann.

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https://blogs.taz.de/finiskleinerlieferservice/2023/01/26/krieg-und-frieden-im-kopf/

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